Annas Reise
Es ist der 3. Dezember 2012 gegen 14.58 Uhr in einem schweizer Hospiz. Das endlose Grau des Himmels scheint jegliche Farbe der Umgebung wie ein Sog zu verschlingen. Das leise stetige Prasseln des Regens hüllt die Welt in eine scheinbar nie enden wollende Tristesse. Zärtlich streicht die Schwester Annas Handrücken, als die Nadel gelegt ist. “Gute Reise!” Die Worte vermischen sich mit dem Rauschen des Windes in den Bäumen vor dem Fenster zu einem Gemurmel, das aus einer anderen Welt zu kommen scheint.
Es ist der 14. Juli 2001. Die Tür fällt scheppernd ins Schloss, doch Anna bemerkt es kaum. Ihr Herz schlägt dumpf und unregelmäßig. Sie legt den Kopf in den Nacken und starrt in den Himmel. Wolkenberge türmen sich auf, hier und da sind die elektrisierenden Silhouetten eines Blitzes aus weiter Ferne schon zu erkennen. Das Gewitter wird auch hier bald angekommen sein. Die ersten feinen Regentropfen legen sich auf Annas Gesicht. Sie weiß nicht, ob sie Minuten oder Stunden so verharrt. Die schrille Hupe eines Autos reißt sie jäh zurück in die Realität. Während der gemeinte Radfahrer immer noch wüste Beschimpfungen ausspuckend und wild gestikulierend an ihr vorbeifährt, kehren Annas Gedanken zurück in die Realität. Endstadium. Bauchspeicheldrüse. Krebs. Die Worte hallen durch ihren Kopf. Anna ist 61 Jahre alt. Es ist fast genau neun Jahre her, dass sie ihren geliebten Bernd durch den Krebs verloren hat. Die Spuren einer Liebe, die das Schicksal jäh und unwiederbringlich aus ihrem Leben gerissen hat, sind von den tiefen Sorgenfalten ihres Gesichts bis hin zu der stets niedergeschlagenen Haltung ihres inzwischen mageren Körpers zu erkennen. Sie senkt den Blick zurück auf die Straße und geht langsam in Richtung des Parks auf der gegenüberliegenden Seite. Die Blumenbeete sind in den schönsten und grellsten Farben bepflanzt. Das Auge ist überfordert in Anbetracht der endlosen Schönheit der Natur und der unendlichen Liebe zum Detail, das in diesem kleinen Fleckchen Natur zu finden ist. Der kleine Bach, der plätschernd und spritzend durch die Anlage fließt funkelt im Licht der letzten Sonnenstrahlen. Die Äste der Bäume wiegen sanft in den ersten Atemzügen des Windes, der aufzukommen scheint. Die Harmonie der Natur inmitten des Trubels der belebten Stadt vermag eine wundervolle Energiequelle darzustellen, doch Anna hat keinen Blick für all diese schönen Dinge um sie herum. Das Lachen der Kinder auf dem angrenzenden Spielplatz schmerzt in ihren Ohren. Sie weiß nicht, wie lange sie schon orientierungslos durch den Park gelaufen ist, bevor sie sich langsam auf eine der hölzernen Bänke setzt. Wieder treffen ein paar verirrte Regentropfen ihr Gesicht, doch sie bemerkt es kaum. Endstadium. Bauchspeicheldrüse. Krebs. Wie ein Karussell, das keinen Spaß macht, aber nicht mehr anzuhalten ist, kreisen diese Worte durch ihre Gedanken. Neun Jahre nach seinem Tod hat Anna den Verlust ihres Mannes noch immer nicht überwinden können. Sie waren ihr ganzes Leben lang zu zweit gewesen. Keine Kinder, kein Kontakt zu den Familien, wenige Freunde, nicht einmal ein Haustier hatten sie gehabt. Als Bernd starb, war Anna von heute auf morgen vollkommen allein gewesen. Vielleicht war es ihr großes Glück, dass sie trotz ihres verhältnismäßig geringen Alters keine zehn Jahre alleine bleiben musste.
“Verzeihung, ist alles in Ordnung bei Ihnen?”
Als Anna ihren Kopf hebt, bemerkt sie beim Blick in das Gesicht, das zu der rauen Stimme gehört, dass ihre Augen mit Tränen gefüllt sind. Prüfend berührt sie ihre Wange. Sie ist ganz nass. Ein bisschen beschämt beginnt sie, in ihrer Jacke nach einem Taschentuch zu kramen, als ihr eine kleine, wettergegerbte Hand eines unter die Nase hält. “Danke”, murmelt sie und nimmt das Taschentuch. Dann blickt sie den Mann an. Er ist wesentlich älter als sie. Sie schätzt ihn auf ungefähr 80 Jahre. Sein Gesicht ist freundlich und faltig. In den Augen blitzt ein jugendlicher Leichtsinn, der bei einer Person seines Alters selten geworden ist. Seine kleine, gebückte Gestalt stützt sich mit beiden Händen auf einen kunstvoll geschnitzten Gehstock. “Darf ich mich setzen?”, fragt er und mit einer wesentlich flinkeren Bewegung, als Anna sie ihm zugetraut hätte, hat er wenige Augenblicke später, noch bevor sie ihm antworten kann, neben ihr auf der Bank Platz genommen. Überrascht sieht Anna ihn an. “Ich kann doch keine Frau weinend hier alleine sitzen lassen”, erwidert er auf ihre lautlose Frage und lächelt sie an. Verdutzt und ein wenig peinlich berührt schweigt Anna. Doch der Alte interpretiert ihr Schweigen als leise Zustimmung und spricht weiter: “Wo drückt denn der Schuh?” Zu einer Antwort genötigt räuspert sie sich, bevor sie zu sprechen beginnt. “Es geht mir gut. Ich wollte nur kurz eine kleine Verschnaufpause einlegen und das Wetter genießen.” Als müsste er sich der Sinnlosigkeit ihrer Aussage noch einmal vergewissern, legt der Alte seinen Kopf in den Nacken und betrachtet den Himmel. “Da gibt es nicht mehr viel zu genießen.” Die letzten Sonnenstrahlen haben sich inzwischen hinter die grauen Wolken zurückgezogen. Die Luft ist kühl und unangenehm feucht. “Aber wissen Sie was? Ich werde Sie jetzt nicht alleine hier sitzen lassen. Ich bin ein alter Mann, der die schlechten Seiten des Lebens oft genug erlebt hat. Sie müssen mir nicht erzählen, was Sie so bedrückt, aber bevor Sie ganz einsam hier sitzen bleiben und Ihren düsteren Gedanken nachhängen, lassen Sie uns doch einfach über das Wetter sprechen.” Erstaunt dreht Anna ihren Kopf und sieht ihm direkt in seine stahlblauen Augen, die auf ihr ruhen. Sie kann sich nicht entscheiden, ob sie sein Verhalten als eine unangebrachte Aufdringlichkeit oder als einen Akt grenzenloser Nächstenliebe einstufen soll. Endstadium. Bauchspeicheldrüse. Krebs. In diesem Moment nimmt das Karussell, das die unerwartete Unterbrechung aus dem Takt gebracht hatte, erneut Fahrt auf.
“Das Wetter tut so, als würde die Welt untergehen.” Ihre Stimme ist leise und brüchig, aber wenigstens gehorcht sie ihr. Und dann beginnt sie zu erzählen. Sie erzählt, wie das Wetter war an dem Tag, als sie Bernd kennengelernt hatte. Erzählt von dem strahlenden Sonnenschein, der seine Augen funkeln hatte lassen. Sie erzählt dem Alten von dem strömenden Regen, der plötzlich eingesetzt hatte, als Bernd und sie an ihrer Hochzeit die Kirche verlassen hatten. Das Gewitter, das getobt hatte, als sie in das Haus einzogen beschreibt sie, ebenso wie die drückende Hitze an dem Tag, als Bernd ihr eröffnet hatte, dass er die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium erhalten hatte. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge schwelgt sie in den schönsten Erinnerungen, der Jahre, die längst vergangen und in ihrem Alltag doch so schmerzlich präsent waren. Ein halbes Jahr Lebenserwartung hat ihr der Arzt maximal zugesprochen. Dann wird das Alleinsein, das sich so anfühlt, als könnte sie es keinen Tag länger ertragen, vorbei sein. Endlich.
Es ist der 3. Dezember 2012 gegen 15.02 Uhr in einem schweizer Hospiz. Der Regen hat aufgehört und die Wolken ziehen sich zurück. Die ersten Sonnenstrahlen tasten sich vorsichtig hervor. Ein zarter Regenbogen schimmert verblassend über den Bäumen vor dem Fenster. Annas Herz hat aufgehört zu schlagen.