Apfelbaum und Rosenstrauch
Es war einmal
… ein Apfelbaum. Es war ein ganz normaler Apfelbaum, wie es viele gibt auf der Welt, trotzdem war etwas Seltsames an ihm.
In jedem Frühjahr stand er in voller Blüte, voller und schöner als all die anderen Bäume um ihn herum. Aber im Herbst fand man keinen einzigen Apfel an ihm, höchstens mal einen ganz kleinen, harten, sauren Apfel, den nicht einmal die Vögel fressen wollten.
Der Bauer, dem der Apfelgarten gehörte, sagte deshalb eines Herbsttages: „ Wenn dieser Baum im nächsten Jahr wieder keine Früchte trägt, wird er gefällt!“
Nun hatte der Bauer eine Tochter, die galt als sonderbar, weil sie mit den Tieren und Pflanzen redete. Wann immer ein Tier krank war oder eine Pflanze nicht gedieh, rief man nach ihr, sonst gingen ihr die meisten Leute aus den Weg.
Dieses Mädchen ging also in den Apfelgarten und setzte sich unter den Apfelbaum. Sie schmiegte sich ganz dicht an seinen Stamm und strich sanft über die Rinde.
Bäume haben ihre Seele direkt über der Wurzel im unteren Teil des Stammes. Und sie sprechen über die Gefühle und Gedanken zueinander, fast so, als wären sie Antenne und Sender zugleich.
Wenn man mit einem Baum sprechen will, muss man nahe herangehen und ihn am Stamm berühren. Natürlich könnte man auch nur einen kleinen Zweig anfassen, aber dann hört man nur ein ganz leises Wispern.
„Was bedrückt Dich?“, fragte das Mädchen.
„Du bist ein gesunder Apfelbaum, Deine Blüten sind in jedem Frühjahr die schönsten und dennoch reifen keine Äpfel an Dir.“
„Ich habe Angst.“, flüsterte der Apfelbaum.
„All die Tiere, die kommen, um meine Früchte zu fressen. Sie ziehen und zerren an meinen Zweigen und Ästen. Und erst die Kinder… Ich habe es bei meinen Brüdern und Schwestern gesehen, wie sehr sie hin und her gerissen werden.“
Das Mädchen überlegte eine Weile. Dann sprach es:
„Ich habe eine Idee. Du sollst eine Gefährtin bekommen. Vielleicht könnt ihr einander helfen.“
Am darauf folgenden Tag kam das Mädchen wieder in den Garten und brachte einen kümmerlichen Strauch mit. Diesen pflanzte sie direkt neben den Stamm des Apfelbaumes.
„Wer bist Du?“, fragte der Apfelbaum.
„ Oh, ich bin eine Kletterrose.“, antwortete der seltsame Strauch.
„Wenn ich nur ein wenig Halt fände, dann könnte ich endlich wachsen und gedeihen.“
„Nun, den Halt will ich Dir gern geben. Winde Dich um meinen Stamm, und wenn Du magst, darfst Du auch an meinen Ästen emporklettern.“
Der Winter zog ins Land und Schnee bedeckte Felder und Wiesen, auch den Apfelgarten. Aber unter dem Schnee war es gemütlich. Der Apfelbaum und der Rosenstrauch hatten einander viel zu erzählen. Sie gewannen sich sehr lieb.
Als es Frühling wurde, waren beide so voller Freude, dass der Apfelbaum noch schöner blühte als bisher. Die Kletterrose wand ihre Zweige um den Stamm und die Äste des Baumes. Und weil Rosen nun einmal Dornen haben, traute sich keiner, dem Apfelbaum auch nur ein Blatt ab zu reißen. Die Bienen kamen gern, denn der Duft der Rosen und der süße Geschmack der Apfelblüten waren unwiderstehlich.
Der Sommer löste den Frühling ab, kleine grüne Äpfelchen hingen an den Zweigen, umgeben von den duftigen Rosenblüten und natürlich den Dornen. Es war ein so schöner Anblick, die beiden zu sehen.
Dann wurde es Herbst. Aus den Äpfelchen waren pralle, große, rote Äpfel geworden. Aber wie sollten man sie ernten?
Der Bauer war ratlos.
„Nun endlich trägt der Baum Früchte und ich kann sie nicht ernten. Ich komme ja gar nicht heran, wegen der Dornen!“
Da lachte seine Tochter und sagte zu ihm:
„Schau her, ich habe einen kleinen Korb geflochten und an einer langen Stange befestigt. Den will ich Apfelpflücker nennen. Und damit kannst Du die Äpfel ernten, lieber Vater.“
So geschah es denn auch.
Seitdem pflanzt man gern Kletterrosen bei Apfelbäumen Der Apfelbaum gibt der Rose Halt, die Rose schützt den Apfelbaum vor ungebetenen Gästen.
Und zur Ernte pflückt man die Äpfel mit Körben an langen Stangen von den Ästen.
Ich war übrigens dabei, damals, als der Apfelbaum zum ersten Mal Früchte trug. Und süßere Äpfel habe ich seitdem nie wieder gegessen.