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Astronaut
So viele Zelte wie Sterne am Himmel, von Feuerzeugen hell und innen von Kerzen erleuchtet, den Gaskochern, auf denen Pfannen oder lässig offene Konserven stehen: Ravioli, Chili con Carne oder gleich der Partytopf – alles Schutzhüllen aus leichten, geometrischen Formen: Dreiecke, Quadrate gegen die nächtliche Kälte; hier ein Polyeder oder ein Schlauchsystem wie eine gefräßige Raupe, da steht der zerbrechliche Adler aus Goldfolie mit leichten Streben und einem Computer von der Leistung eines Taschenrechners, und trotzdem im Mondstaub gelandet.
Alle Wärme strahlt ins All ab.
Jetzt, nach zwölf, ist es leiser geworden, weniger CD-Player und Ghettoblaster, die noch Metal oder Grunge rausplärren – endlich keine grelle Kraterlandschaft, auf denen die Ameisenkolonie errichtet wurde für zwei endlos lange Festivaltage auf einem toten Flugplatz, der nur aus Gras und grauem Dreck besteht.
Ich will nicht hier sein.
Der Thorsten hat mich überredet, meine Nase aus den Büchern zu ziehen, aber ich mag keine Menschenmassen, und ich mag die Musik nicht, lieber die Beatles: Yellow Submarine in der stillen Tiefe des Meeres.
Doch ich stelle mich der Aufgabe, als Commander, und öffne die blaue Luke, um ins DIXI-Klo zu steigen: auch eine Rettungskapsel, schön warm hier, aber … dieser Geruch; verdammt, ich brauche einen verspiegelten Helm mit eigener Sauerstoffzufuhr! Oder ein Bier, das ich zwar nicht vertrage; muss mir trotzdem Mut antrinken – ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großes Geschäft.
Thorsten, schläfrige Stimme vom Alkohol, fordert, dass ich meine verdreckten Dr. Martens ausziehe, bevor ich mich in die Koje legen darf, weil ich sonst zu viel Sand oder Ameisen oder Viren für eine Zombieapokalypse oder einen Alien-Parasiten reintrage, der mir später aus dem Brustkorb bricht.
Will ich aber nicht.
Diese Schuhe sind magnetisch, meine Moonboots, sonst verliere ich den Halt. Also penne ich vorne im Campingstuhl … und habe im Leben noch nie so gefroren, trotz Pulli, zwei T-Shirts und dem Regencape aus durchsichtigem Plastik, unter dem sich mein Schweiß sammelt wie Tau unter der geodätischen Kuppel eines Habitats. Ich lese zu viel Abenteuer aus fernen Welten, am Ende der Galaxis!
»Ist das nicht zu kalt?«, ruft Marie aus dem Nachbarszelt. Sie und ihre Freundin haben uns geholfen, die Heringe mit Steinen in den Boden zu hauen. Beide hübsche, fremde Wesen.
»Geht schon, danke.«
Morgens wieder die schräge Convention aus Bordoffizieren und Aliens, die sich fröhlich betrinken und farbenfroh feiern, während ich einen kostenlosen Kaffee am Werbestand trinke. Ich fröstle immer noch.
Bin ich anders?
Die erste Band rockt, nackt im Sonnenlicht: Man sieht die Poren hinter der Schminke. An der Bühne riecht der Staub nach Kakao, wie aus dieser gelben Dose bei meiner Mutter in der Küche mit den Prilblumen … Meine Schwester hat im März unser Elternhaus verkauft.
Dann dreht sich die Himmelsscheibe, es wird Nachmittag und Abend, und Scheinwerfer sprühen ihre Farben in die Dämmerung. Gleich spielt die Hauptband auf.
Mann, ich friere schon wieder, meine Außenhülle hat ein Leck; vielleicht liegt eine goldene Rettungsdecke im Verbandskasten im Kofferraum des Audis? Oder ich könnte –
»Hi.« Plötzlich steht Marie vor mir, wie runtergebeamt – ein Mädchen, oh Gott, diese seltsame, schöne Spezies.
»Öfters hier?«, antworte ich; finde mich dämlich. Aber sie lacht.
Es gibt kein Wasser auf dem Mond, kein Leben auf dem Mars, nach dem wir so verzweifelt suchen in den Weiten des Kosmos … versteinerte Mikroben auf einem lächerlichen Felsen. Mehr nicht. Nur Kälte und die Entropie.
Aber ihre Hand ist warm, während sie mich führt; diesmal bin ich nicht allein, nicht Michael Collins in der Umlaufbahn …
Sie küsst mich. Warum? »Wer bist du?«, frage ich.
»Komm.«
Wir liegen im Sand … Hinter uns der nächste Bierstand mit seiner meeresgrünen Leuchtreklame, und das Gegröle der vielen Betrunkenen. Das ist jetzt egal. Sie hat die Faust unter mein T-Shirt geschoben, ich fühle sie. Mein Herz klopft.
»Willst du?«, fragt sie mich.
»Ja.«
Neben mir im Cockpit: Marie packt den Steuerknüppel und navigiert uns durch drei Dimensionen: Hoch und Runter, Rollen, Gieren, bevor wir langsam abdriften. Ihre Zunge gleitet über meine: seltsam kühler Fisch; jetzt ein Strand, an dem die Wellen saugen; ein Körnchen oder zwei, vier, acht, lose aufs Schachbrett gestreut und wieder verdoppelt … Alles Sterne. Unendlich.
Nemo gibt den Befehl, und die Nautilus taucht auf. Wir sind Arm in Arm kurz eingeschlafen, ich löse mich aus den Tentakeln.
»Hm?«, fragt sie lächelnd.
»Nichts.«
Später bauen wir die Zelte ab, frühstücken Toast, mit Käse, Salami, und tauschen Telefonnummern aus, die wir nie anrufen werden … Wir werfen die Schlafsäcke und silbern beschichtete Isomatten zurück in den Kofferraum, steigen ins Auto und fahren erst Landstraße, dann Autobahn mit stolzem Tempo!
Apollo 11 hatte drei Beschleunigungsphasen, die letzte Raketenstufe katapultierte drei Menschen mit 39400 km/h zum Mond.
Ich bin verliebt.
Ich war verliebt und werde sie immer lieben.
Zeit: die vierte Dimension, aber vielleicht doch nur ein Brennpunkt, ein Schwarzes Loch, in dem sich das Weltall verdichtet wie bei 2001 nach diesem surrealen Drogentrip, dahinter: ein Raum als Krankenzimmer, ein Bett mit klinisch grünem Laken und einer Marmorbüste. Immerhin Sauerstoff, so viel ich will.
Meine Kerntemperatur beträgt 39,7 Grad.
Das Gewicht ihrer Faust auf meiner Brust habe ich zeitlebens vermisst – die Schwerkraft einer Katze, die auf mir schlafend der Kälte des Alls trotzt.
Ich atme ein, atme aus …
Lichter in der Nacht.