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Atlantische Winde

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Atlantische Winde

Atlantische Winde

Montag, 6. Juli 1896

Zwei Schornsteine qualmen, hinterlassen graue Wolken, die vom Wind umhergewirbelt werden und sich im atlantischen Himmel verlieren. Eine kräftige Schraube schiebt das Schiff monoton und gleichmäßig westwärts der Stadt New York entgegen.

Karl steht an der Reling und schaut in die Ferne. Der Atlantik vollführt seinen immerwährenden Kampf gegen jedes Schiff, das den Versuch wagt, ihn herauszufordern. Jede Welle dieses unendlichen Meeres beweist sich selbst seine Kraft, indem es ein Schiff wie die stolze "Havel"hebt und wieder senkt. Ein starker Wind weht über das Deck, was ihm aber nichts ausmacht, denn er kennt alle Wetterlagen von seiner Arbeit auf dem Feld her. Er ist alleine an Deck und lässt seinen Gedanken freien Lauf. Die Wellen heben und senken das Schiff, das er mit seinem Schicksal vergleicht und dessen Bewegungen seinen eigenen Gemütsschwankungen entsprechen.

Karl lässt alles zurück, was ihm bis jetzt etwas bedeutet hat. Sein Heimatdorf, seine Verwandten, Freunde, alles wird im Hier und Jetzt zu Bruchstücken seiner Vergangenheit. Er ist am Scheideweg, fühlt sich innerlich verlassen. Und dann auch noch Lena. Die Trennung von ihr hat ihm am meisten Schmerzen bereitet. Jetzt hat er auch die Zeit, diese Momente, die ganz alleine ihm gehören, trotz des Abschiedsschmerzes zu genießen, sich an seinem eigenen Leid etwas zu weiden und seinen Gedanken nachzugehen.

Wie aus dem Nichts kommend gesellt sich ein älterer Herr zu ihm an die Reling.
"Kennen Sie die Geschichte vom Klabautermann?"
"Nein."
"Na, egal. Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Hinrich Clevermann, Kapitän zur See. Aber außer Dienst."
"Karl Hämmerle, Arbeiter und Bauer."
"Ah, sehr angenehm. Unter all diesen Herrschaften hier mal jemand mit einem anderen Hintergrund kennen zu lernen, ist schön. Wissen Sie, ich bin ein Mann der Tat und sehe hier nur Kaufleute, Doktoren und Adelige, also Menschen, die nicht körperlich arbeiten müssen. Da komme ich mir sehr einsam vor."
"Na, mir geht es da ganz ähnlich", meint Karl recht einsilbig.
"Kann ich mir denken", entgegnet ihm der alte Herr.
"Sie sind zur See gefahren?", fragt Karl nach einer Weile, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Seine Zigarette ist abgebrannt, er wirft den Stummel über die Bordkante. Unablässig zieht der Dampfer weiter, New York entgegen.
"Ja. Auf der Südamerika-Route. Erst Frachter, später Passagierschiffe. Anfangs natürlich unter Segeln. Das war manchmal sehr abenteuerlich, und auch nicht ganz ungefährlich. Caracas, Trinidad, Bahía, Rio de Janeiro, Montevideo, die Westindischen Inseln, Zwischenstation auf Madeira zum Bunkern. Natürlich bin ich auch um Kap Hoorn mit seinen Stürmen und Tücken bis nach Valparaiso an der chilenischen Pazifikküste gefahren. Es kam vor, dass wir nordwestlich des Kaps drei Wochen im Kreis gefahren sind, weil es der Klabautermann so wollte. Der treibt so seine Späßchen mit Seeleuten."
"Der Klabautermann?"
"Das sagt man so, wenn Dinge passieren, die man sich nicht erklären kann. Erscheinungen, die man sieht und für real erachtet. Winde heulen um das Schiff, sodass man meint, Stimmen zu hören, die freilich nicht existieren können. Besonders befremdlich ist es, wenn man für Stunden im Ausguck steht und allein mit sich und seinen Gedanken ist."
"Ich glaube, auf See kann die Zeit lang werden", meint Karl, als er sich die nächste Zigarette anzündet.
"Warum sagen sie das?", fragt der alte Herr und schmaucht an seiner Pfeife.
"Weil die Zeit doch eigentlich nicht messbar ist, besonders in Momenten voll Liebe oder Schmerz." Karl denkt mit Wehmut zurück. Lena. Sie hatte ihn die letzten Wochen in Stuttgart begleitet.
"Sie beziehen Ihre Bemerkung auf ein Mädchen?" Hinrich Clevermann schaut Karl schmunzelnd an.
"Sie heißt Lena."
"Aha. Und jetzt wandern Sie aus?"
"Zunächst einmal nach New York. Wann ich weiter ziehe, weiß ich noch nicht. Ich plane, nach Norden zu gehen, und zwar nach Alaska."
"Da ist jetzt die Hölle los. Das Gold lockt alle."
"Ja, aber mich lockt da weniger das Gold. Das ist etwas für Glücksritter. Die Menschen dort brauchen auch andere Dinge. Lebensmittel, Material. Diese Sachen müssen irgendwie dorthin gebracht werden. Ich arbeitete in einer Maschinenfabrik und ich glaube, dass ich in Alaska sehr viel Arbeit haben werde."
"Sehr vernünftig und gut, ihr Gedanke. Man braucht Eisenbahnen, Strassen und alles, was dem Transport dient. Außerdem Reparaturwerkstätten aller Art. Aber was ist mit Lena? Abschied für immer?"
"Das ist nicht so geplant. Lena ist ein besonderes Mädchen. Sie hat ihren eigenen Kopf und möchte Medizin studieren. Frauen sind ja bei uns höchstens als Gasthörerinnen auf den Universitäten zugelassen, sie dürfen sich nicht immatrikulieren. Aber Lena steckt voller Ideen und hat die Kraft, sich durchzusetzen."
"So ein starkes Mädchen lässt man nicht ziehen, glauben Sie mir. Liebe und Schmerz, das kenne ich sehr gut. Man sieht das Mädchen noch am Kai stehen, sieht sie winken. Dann schließt man die Augen, öffnet sie wieder und sieht als nächstes nur noch Wasser. Man schließt die Augen nochmals und spürt nur noch das Wasser darin. Bilder werden zu Erinnerungen, von Tränen verwischt."
"Wird man als Seemann zum Philosoph?"
"Nicht unbedingt. Das Nachdenken wird natürlich zu einer ständigen Übung, wenn man lange einsam ist."

Minuten des Schweigens folgen. Karl lehnt wieder an der Reling, die See hat sich etwas beruhigt. Delfine umspielen das Schiff, er beobachtet sie lange, als seien es Wesen einer anderen Welt. Ist es die Wirkung der Zigaretten, oder eher doch des Wellengangs, leichter Schwindel ergreift von Karl Besitz. Als er sich nach Hinrich Clevermann umdreht, wird er gewahr, dass dieser nicht mehr bei ihm ist. Genauso unauffällig, wie er die Szenerie betrat, ist er ihr wieder entschwunden. Karl denkt an den Klabautermann. Welch ein Mysterium.

Zwölftausendfünfhundert PS treiben dieses elegante Schiff westwärts.

Nur wenige Stufen trennen auf diesem Schiff Himmel und Hölle. Karl möchte diesen Weg einmal wagen, möchte erkunden, wem es letztendlich zu verdanken ist, dass sich dieser Himmel auf Erden so elegant und scheinbar mühelos in wenigen Tagen von Europa nach Amerika bewegt. Allein die Himmelsleiter, die er in umgekehrter Richtung nimmt, ist gar nicht so einfach zu finden. So kämpft er sich von Tür zu Tür nach unten, und von Tür zu Tür verstärkt sich auch der Lärm und die Wärme. Die Wärme wird zu Hitze, zu Glut. Er hört Stimmen. Rauhe, agressive Stimmen. Plötzlich ein Schrei, Tumult. Karl trennt nur noch eine schwarz verschmierte, heiße Tür von der Hölle. Er traut sich nicht hinein.
Die Tür wird aufgerissen, drei Männer stürmen an ihm vorbei. Karl wird regelrecht niedergerannt. „Aus dem Weg, Kerl, aus dem Weg! Wir müssen zum Arzt!“ Karl, mehr liegend als stehend, schaut erstaunt in die Seele der Hölle. Es riecht stark nach verbranntem Fleisch. Das Gesicht des mittleren Mannes, der schrie, war keines mehr. Eine schwarze Masse unterhalb seiner Stirn verriet, dass ihm Schlimmes widerfahren war. Männer, russgeschwärzt, schauen ihn an, wiederum aggressiv. Sie umringen ihn. Das Gelächter, das plötzlich und unerwartet einsetzt, gleicht mehr einem Grölen als einem herzhaften Lachen menschlicher Wesen. Höllenhunde. Das sind sie. Männer mit Schubkarren laufen und transportieren die Kohlen aus den Bunkern vor die Heizer. Die Heizer werfen mit ihren Schaufeln die Kohlen in die Schlünde der allesfressenden Brennkammern. Klappe auf, Kohlen rein, Klappe zu. Karl findet Halt an der offenen Tür. Zwei von den Männern helfen ihm. Kohle, Asche, Funken, beinahe glühender Stahl. Strenger Geruch und die Hitze rauben ihm fast den Atem.
„Zwei Mark und wir lassen dich hier wieder raus.“ Ein jüngerer Kerl packt ihn am Arm und blickt ihn ernst an. „zwei Mark, das ist für dich nicht viel.“
„Lass mich los!“, brüllt Karl.
Die beiden Männer, die ihm geholfen haben, packen ihn jetzt wieder und ziehen ihn ganz langsam an die Brennkammer heran. Schweiß tropft Karl von der Stirn.
„Mal nicht so derb.“ Auf einer Art Balkon über den Kesseln steht ein etwas besser gekleideter Mann, offenbar einer der Ingenieure, von denen Karl bereits gehört hatte.
„Das ist hier die Regel.", brüllt der Mann von oben runter. "Die Männer hier unten haben Besuch nicht so gern, es sei denn, er lässt ihnen ein Trinkgeld oder eine Flasche Whisky da.“ Der Ingenieur lehnt an der Brüstung. „Aber jetzt ist genug, Jungs, lasst ihn los.“

Kein Tageslicht, keine saubere Luft. Nur harte Arbeit, und nur knochenharte Kerle halten das hier unten aus, bei Temperaturen von fast siebzig Grad. Klappe auf, Kohlen hinein geschaufelt, Klappe wieder zu. Hier unten trinkt keiner ein Glas in Ruhe. Hier werden sie erzeugt, diese zwölftausendfünfhundert PS. Klappe auf, Klappe zu. Geatmet wird nur russhaltige, ölige Luft. Keine frische Brise, kein Salzgeschmack auf den Lippen. Zwölftausendfünfhundert PS. Wofür? Auch diese Männer wollen ihren Spaß haben.

„Zwei Mark!“, denkt Karl bei sich. „In Gottes Namen“, ruft er den Männern durch den Lärm der Maschinen zu und gibt ihnen das geforderte Geld, froh, endlich die Hölle wieder verlassen zu dürfen.

Vier Stunden schaufeln, zwei Stunden ruhen. Vier Stunden schaufeln, zwei Stunden ruhen. Vier Stunden schaufeln, dann acht Stunden schlafen. Dann fängt es wieder von vorne an. Hier arbeiten die Höllenhunde, von denen in den Kabinen der ersten und der zweiten Klasse niemand etwas weiß. Tag oder Nacht, das ist hier alles eins. Der Atlantik führt zwar seinen unablässigen Kampf gegen alle, die ihn bezwingen wollen, aber hier unten merkt man nichts von der Dramatik. Hier unten muss man einfach nur funktionieren. Klappe auf, schaufeln, Klappe zu. Klappe auf, schaufeln, Klappe zu. und Klappe halten.

Ein Schiff, eintausendzweihundert Passagiere, erster Klasse, zweiter Klasse und auf dem Zwischendeck, das den Auswanderern vorbehalten ist. Darüber legt sich allmählich eine Stille, eine gefühlvolle, fast andächtige Ruhe, aber nur für die Personen, die sich in den Kabinen, Gesellschaftsräumen oder auf den Decks befinden.

Der Abend senkt sich über den Atlantik, der sich in den letzten Stunden beruhigt hat. Der Wind hat nachgelassen, trotzdem ist es frisch. Viele Passagiere genießen die letzten Minuten des Tageslichts auf Deck, Paare stehen nebeneinander und unterhalten sich leise. Walzerklänge wehen herüber aus den Gesellschaftsräumen der ersten Klasse. Manch einer hält ein Glas in der Hand und träumt, in sich versunken. Das letzte Licht der untergehenden Sonne spiegelt sich auf dem Meer, lässt Wellen in weiter Ferne erkennen. Sie liegt über dem Ziel Amerika und schickt ihre letzten Strahlen nach Europa. Es ist dies ein stimmungsvoller Abschied.

Dienstag, 7. Juli 1896
Karl steht auf der Reling, es ist kurz vor sechs Uhr am Morgen. Nebel liegt tief über dem Meer. Unablässig kämpft die "Havel" gegen den Atlantik. Längst hatten sich die letzten Küstenstreifen Europas von ihnen verabschiedet.
Jemand steht vorne am Bug und bewegt langsam die Arme in Richtung Westen, wo der Dampfer hinfährt. Eine Frau. Ihr langer Rock flattert im Wind. Es ist eine junge Frau, die er hier noch nie gesehen hat. Ihr Gesicht ist nur schemenhaft zu erkennen. Karl kennt sie, allerdings nicht hier vom Schiff.
Lena. Er glaubt seinen Augen nicht, ruft sie bei Ihrem Namen. Für Bruchteile von Sekunden kämpft sich ein Strahl der aufgehenden Sonne durch die graue Nebelwand, lässt sie hell, beinahe silbern schimmern. Ihr blondes Haar leuchtet. Er ruft sie lauter, immer lauter, schließlich schreit er. Endlich senkt sie ganz langsam, wie in Trance, ihre Arme und dreht sich zu ihm. Sie lächelt ihn an. Wie vom Blitz getroffen erschrickt er. Für Bruchteile von Sekunden hat er ihr Gesicht gesehen. Ihr wunderschönes Gesicht. Erst allmählich wird ihm voller Grauen bewusst, dass statt ihrer blaugrünen Augen schwarze Brandlöcher ihr Gesicht entstellen. Er hält das nicht aus, muss wegschauen, sieht die Tautropfen, die der Nebel auf der Reling hinterlässt, sich im Fahrtwind bewegen. Als er wieder nach vorne blickt, hat sich der Nebel gelichtet.
Lena. Erst allmählich wird er gewahr, dass da nichts mehr ist. Kein Mensch außer ihm.

Karl wird weiß vor Augen, Schweiß bricht ihm aus. Mühsam hält er sich am Geländer. Jemand stützt ihn von hinten. Hinrich Clevermann.
„Da bin ich ja gerade rechtzeitig gekommen, mein Lieber.“
„Ich habe sie gesehen.“ Karl ist weiß im Gesicht.
„Wen gesehen?“
„Lena!“
„Das kann doch nicht sein! Wo haben Sie sie gesehen?“
„Da vorne!“ Karl weist auf das Bug zu.
Hinrich Clevermann lacht. „Friederike, kommst du mal, ich möchte dir Herrn Karl Hämmerle vorstellen!“ Er wendet sich Karl zu. „Wissen Sie, Herr Hämmerle, meine Frau dreht jeden Morgen ihre Runde über das Deck. Vorne ist ihr Lieblingsplatz. Aber Sie sehen aus, als könnten Sie noch etwas Ruhe vertragen.“ Karl nickt gedankenverloren, schüttelt Frau Clevermann die Hand und begibt sich nochmals in seine Kabine. Die letzten Tage mit all ihren Veränderungen waren wohl etwas zuviel für ihn.

Zwölftausendfünfhundert PS kämpfen sich unentwegt weiter, bewegen tausende von Tonnen Stahl über den Atlantik, New York entgegen. Heizer schaufeln Kohle in der unerträglich dunklen, stickigen Hitze im Bauch dieses Stahlkolosses. Menschen, gut angezogen, trinken vornehm ihren Frühstückskaffee im exquisit in dunklem Nussbaumholz gestalteten Salon erster Klasse, während der Atlantik sich immer noch verzweifelt dagegen wehrt, dass Schiffe ihn bezwingen.

 

Die Kerle konnten echt ärgerlich werden. Dass man ihn festhält, entspringt meiner Fantasie. Sie waren halt schlecht bezahlt. Trotzdem versuchte niemand, auch nur von ihren Vorgesetzten, sich gegen sie zu wenden. Das konnte wirklich übel ausgehen (Verletzungen, bis zum Tod.) Ein Offizier, der dies wagte, wurde tatsächlich nie mehr gesehen. Der Brennofen war gross.

OK, alles klar. Mit denen hätte ich mich auch nicht angelegt. Das wusste ich tatsächlich nicht. Immer habe ich diesen - ich muss hier schon sagen: blöden - Titanic-Film vor Augen und der zeigt alles ja nur aus der Perspektive dieser hochnäsigen Ersten Klasse, von der ich manche am Schluss ganz gerne hab absaufen sehen. Und in Deiner Erzählung mischst Du hier wunderbar Fakten mit Fantasie, die ich in ihrem Umfang wirklich passend finde.

Danke für Deine Erklärung. Super-Recherche!

Dir eine ungebremste Kreativität

Roger

 

So, hab mal noch ein paar Schreibfehler ausgebügelt. Ich spiele mit dem Gedanken,das ganze als Prolog für meinen Roman zu verwenden.
Frage an die Moderatoren: Kann man die Geschichte in die Kategorie "Romane" verschieben? Würde mich bei Gelegenheit interessieren.

Jeanmarie Malte

 

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