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Auf ewig verbunden!

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25.03.2003
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Auf ewig verbunden!

Liebevoll drückte der alte Mann das Tagebuch an seine Brust. Seit über hundertfünfzig Jahren befand es sich schon in seinem Besitz und niemand außer ihm selbst kannte die besonderen Fähigkeiten des Buches...

Sie hatte den kleinen Laden durch Zufall entdeckt, als sie durch eine der weniger belebten Einkaufsstraßen der Stadt gebummelt war. Die Tür und das Schaufenster des Geschäftes waren etwas nach hinten versetzt und anstelle einer modernen Neonleuchtreklame war an der Außenfassade nur ein einfaches grün gestrichenes Holzschild angebracht, auf dem in verschnörkelten Goldbuchstaben “Baltasars Bookshop” geschrieben stand. Sonia konnte sich nicht daran erinnern, den Laden zuvor schon einmal gesehen zu haben.
Neugierig schaute sie in das Schaufenster, das auf liebevolle Weise mit Büchern, Kalendern und altem Kinderholzspielzeug dekoriert war. Ein kalter Wind fegte durch die Straßen und kündigte den baldigen Winterbeginn an. Sonia schlug fröstelnd ihren Mantelkragen hoch und beschloss, in das Geschäft hineinzugehen. Ein über dem Eingang befestigtes Glöckchen begann zu läuten, als die Tür aufging. Der Anblick des Ladeninneren verschlug Sonia die Sprache. Der Raum war riesengroß und es kam ihr so vor, als ob sie die Bibliothek eines alten englischen Landhauses beträte. Deckenhohe Regale waren im gesamten Laden verteilt und mit neuen und antik aussehenden Büchern gefüllt. Im Hintergrund flackerte ein Kaminfeuer und überall zwischen den Regalen standen gepolsterte Sessel, die zum gemütlichen Schmökern einluden. Leise Musik ertönte von irgendwoher. Wandlampen, die wie brennende Kerzen aussahen, tauchten den Raum in warmes, aber dennoch ausreichend helles Licht. Rechts neben dem Eingang befand sich eine Holztheke, auf der eine altmodische Registrierkasse thronte. Daneben war in einer Glasvitrine Kinderspielzeug ausgestellt. Sonia wunderte sich einmal mehr, dass sie bisher noch nie etwas von diesem Buchladen gehört hatte. Sie liebte Bücher über alles und dieser schien eine wahre Fundgrube zu sein.

Die junge Frau begann zwischen den Regalen umherzugehen und sich die einzelnen Bücher anzuschauen. Sie las hier einen Titel, zog dort ein Buch hervor, um den Klappentext zu überfliegen. Sie genoss es, so ungestört herumzuschmökern, trotzdem konnte sie sich nicht des eigenartigen Gefühls erwehren, beobachtet zu werden. Doch jedes Mal wenn sie sich umdrehte, konnte sie niemanden entdecken.

Und dann sah sie es – plötzlich stand es da. Sonia hätte schwören können, dass es vor ein paar Minuten, als sie zum ersten Mal auf die alten Bücher aufmerksam geworden war, noch nicht vor der Goethesammlung gelehnt hatte. Es war wunderschön. Vorsichtig nahm sie es in die Hand, berührte die kleinen goldenen Intarsien auf dem dunkelblauen Ledereinband und fuhr mit dem Zeigefinger über die etwas erhöhten Goldbuchstaben, welche die Vorderseite schmückten: „My Diary“.
Ein Tagebuch – die Seiten waren aus feinstem Pergament, allesamt unbeschrieben – das Buch hatte wohl nie seinen eigentlichen Zweck erfüllt. Auf der Innenseite des Buchdeckels entdeckte Sonia ein paar handschriftliche Zeilen. Man konnte fast nichts mehr erkennen, da die Tinte im Laufe der Jahre verblasst war. Es schien eine Widmung zu sein. Schließlich gelang es Sonia sie zu entziffern und zu übersetzen: „Liebe Caroline, mögest du deine Wünsche und Sehnsüchte in diesem kleinen Büchlein verewigen! In Liebe dein Vater.“
Was mochte mit jener Caroline passiert sein, dass sie nie ein Wort auf den Seiten niedergeschrieben hatte? , überlegte Sonia.
„Dieses Tagebuch gehörte der Tochter eines englischen Lords. Sie ist kurz, nachdem sie es geschenkt bekommen hat, gestorben. Die Todesursache konnte nie geklärt werden“, ertönte plötzlich eine tiefe Stimme hinter Sonia und ließ sie vor Schreck zusammenfahren. Als sie sich umdrehte, stand ein älterer Mann vor ihr. Grau-schwarz melierte Locken umrahmten ein von tiefen Falten geprägtes Gesicht und hinter einer Brille mit runden Gläsern musterten sie ein paar wache Augen. Der Mann trug eine dunkle Hose und ein Hemd, über dem die geknöpfte Weste einen beträchtlichen Bauchansatz erkennen ließ.
„Ich habe das Tagebuch bei einer Auktion ersteigert“, sagte der Besitzer des Ladens.
„Es ist sehr alt, stammt aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Ich mache ihnen einen guten Preis.“
„Es ist wunderschön, aber nichts für mich“, wehrte Sonia ab. „Ich habe noch nie ein Tagebuch besessen. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die alles aufschreiben müssen.“
„Dann sollten sie aber schnellstens damit anfangen. Versuchen sie es, sie werden es nicht bereuen.“

Und wie aus einem inneren Zwang heraus kaufte Sonia das Buch schließlich. Als sie den Laden mit einer Tüte, in der sich das in Seidenpapier eingewickelte Tagebuch befand, wieder verließ, konnte sie kaum glauben, dass sie ein kleines Vermögen für etwas ausgegeben hatte, mit dem sie eigentlich gar nichts anfangen konnte. Doch es war, als ob irgendetwas von ihr Besitz ergriffen und sie gezwungen hatte, nach dem Preis zu fragen und diesen, obwohl er horrend gewesen war, ohne weiteres zu akzeptieren.
Wie selbstverständlich trug sie von nun an, jeden Abend, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, ein paar Zeilen in das Tagebuch ein. Schon bald wurde daraus ein liebevoll ausgerichtetes Ritual, auf das sie sich den ganzen Tag über freute. Sie bereitete sich eine Kanne Früchtetee zu, zündete Kerzen an und legte ihre Lieblingsmusik auf, bevor sie sich an den Sekretär in ihrem Wohnzimmer setzte und zu schreiben begann. Abend für Abend füllte sie mindestens eine Seite des kostbaren Pergamentpapiers. Ungefähr zwei Wochen später begann sie zu ahnen, was es mit dem Buch auf sich hatte.
Zunächst dachte sie noch, dass es sich um Zufälle handeln würde, doch schon bald wusste sie, dass dieses Tagebuch nichts dem Zufall überließ. Sie wollte ganz sicher gehen und gezielt ausprobieren, ob die Wünsche, die sie in das Tagebuch eintrug, sich auch wirklich jedesmal erfüllt So schrieb sie, dass sie das Hundegebell des kleinen Rehpinschers vom Haus gegenüber nervte:
Ich wünschte, ich müsste das Gekläffe nicht mehr hören!
Voller Spannung erwartete sie den nächsten Tag. Doch nichts geschah, der Rehpinscher bellte wie eh und je. Enttäuschung machte sich in Sonia breit – dann waren die vorherigen Geschehnisse doch nur Zufälle gewesen.
Als sie am nächsten Morgen auf dem Weg zur Straßenhaltebahnstelle war, kam ihr die Besitzerin des Tieres tränenüberströmt entgegen und als Sonia sie fragte, was passiert sei, brachte diese stockend hervor, dass ihr Hund im Park von einem Schäferhund tot gebissen worden wäre.Sichtlich geschockt, sprach Sonia der armen Frau ihr Mitleid aus. Was hatte sie nur angerichtet? Den Tod des Tieres hatte sie bestimmt nicht gewollt. Und doch hatte sie für einen kurzen Moment ein Gefühl der Schadenfreude durchzuckt, als die Besitzerin ihr von dem Unglück berichtet hatte.
Sonia betrachtete das Tagebuch von nun an mit gemischten Gefühlen. Sie empfand Angst und Respekt, aber gleichzeitig auch Neugierde ob der Macht, die dieses Buch innehielt und auf seinen Besitzer zu übertragen schien.
Schon bald war es für Sonia geradezu ein innerer Zwang, ihre Tagebucheintragungen vorzunehmen. Schrieb sie einmal einen Abend nichts, so plagten sie die ganze Nacht über heftige Kopfschmerzen. Sie ging sogar dazu über, auch morgens den Füllfederhalter über das Pergament zu führen, weil sie festgestellt hatte, dass es ihr dann tagsüber einigermaßen gut ging und sie nicht von Kopfschmerz und Übelkeit heimgesucht wurde. Sie empfand auch mittlerweile immer weniger Reue, wenn sich die Wünsche zu ihren Gunsten erfüllten.
Natürlich war ihr auch der Gedanke gekommen, dass sie nun durch das Tagebuch reich werden würde. Mehrmals schrieb sie Wünsche nach Geld und Reichtum nieder. Doch seltsamerweise ereignete sich jedes Mal das gleiche Phänomen. Sobald die Tinte getrocknet war, begann sie zu verblassen und der Satz war innerhalb weniger Sekunden wieder vollständig verschwunden.

Als sie an einem Abend aus dem Büro nach Hause kam, wurde sie im Hausflur von der alten Nachbarin aus der Etage unter ihr abgefangen.
„Also, Fräulein Ritter, sie hatten gestern Abend die Musik wieder viel zu laut“, polterte sie los. „Ich hatte Migräne und konnte kein Auge zutun. Das nächste Mal rufe ich die Polizei.“ Sonia ging ohne einen Ton zu erwidern die Stufen hinauf.
„Und damit sie es genau wissen, das Treppenhaus war letzte Woche auch wieder ganz schlampig geputzt. Ich werde mich bei der Hausverwaltung über sie beschweren“, rief sie Sonia hinterher.
„Ja, mach das ruhig“, murmelte Sonia. „Solange du noch kannst.“
In ihrer Wohnung angekommen traf Sonia sofort die üblichen Routinevorkehrungen und setzte sich vor ihren Schreibtisch. Die Kerze, die sie angezündet hatte, verbreitete wohltuenden Sandelholzduft und bewirkte, dass Sonia sich etwas entspannte. Der Druck in ihrem Kopf ließ jedoch erst nach, als sie das Tagebuch aufschlug, den Federhalter in die Hand nahm und die ersten Worte zu Papier brachte.
Ich wünschte, die alte Schnepfe würde für immer ihren Mund halten, schrieb sie als abschließenden Satz.

Auch heute fühlte sie sich nach dem Schreiben wieder wie neugeboren und voller Energie.
Sonia beschloss, auf ein Glas Wein in ihren Lieblingspub zu gehen. Vielleicht würde sie dort ein paar ihrer Freunde treffen. Sie hatte sich in letzter Zeit rar gemacht, selbst ihre beste Freundin Lisa hatte sie immer wieder mit fadenscheinigen Ausreden abgespeist, wenn diese Sonia zu gemeinsamen Unternehmungen auffordern wollte.
„Was ist nur mit dir los, Sonia?“, hatte Lisa erst vor ein paar Tagen am Telefon gefragt.
„Du warst doch früher nicht so eine Stubenhockerin.“
Im Pub war nicht viel los. Sonia erblickte Markus, Lisas Mann, der an der Theke saß und ein Glas Bier vor sich stehen hatte. Er sah gut aus mit seinem modisch nach hinten gegelten Haar. Plötzlich durchzuckte Sonia ein verrückter Gedanke. Wie es wohl wäre,
Markus zu küssen, mit ihm zu schlafen? Sie setzte sich auf den Barhocker neben ihn.
„Hi Markus. Ganz alleine hier? Wo ist Lisa?“
„Hallo Sonia, hab dich ja ewig nicht mehr gesehen.“ Lächelnd drehte sich Markus zu ihr hin. „Lisa ist für zwei Wochen zu einem Lehrgang gefahren. Sie kommt morgen wieder. Was magst du trinken?“
„Ich nehme auch ein Bier.“
Nachdem der Barkeeper das Glas vor Sonia hingestellt hatte, prostete sie Markus zu und sah ihm dabei tief in die Augen.
„Möchtest du mit mir schlafen?“, hörte sie sich fragen und beobachtete gespannt Markus´ Reaktion.
„Sonia, sag mal, bist du betrunken? Du fragst gerade den Mann deiner besten Freundin, ob er mit dir ins Bett gehen will.“
„Ich weiß, und du hast mir noch keine Antwort darauf gegeben.“
„Nein, ich will nicht mit dir schlafen. Das heißt nicht, dass ich dich nicht attraktiv finde, aber ich gehöre eben noch zu den altmodischen Typen, denen Treue etwas bedeutet.“
„Schade“, Sonia zuckte mit den Schultern. „Wenn du es dir anders überlegst, du weißt ja, wo du mich findest.“
Markus schüttelte den Kopf. „Sonia, was ist bloß los mit dir? Man kennt dich gar nicht mehr wieder.“
Sie unterhielten sich noch eine Weile über belanglose Dinge, bevor Sonia ihre Getränke bezahlte und sich auf den Heimweg machte. Sie verspürte bereits seit einiger Zeit ein Pochen in den Schläfen und sie wusste aus Erfahrung, dass dieses sich in Kürze zu einem stechenden Schmerz entwickeln würde, wenn sie nicht schnellstens eine Tablette nahm.

In der Nacht erwachte Sonia von dem Geräusch einer Sirene. Verschlafen tappte sie zum Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Vor dem Haus stand ein Krankenwagen. Zwei Sanitäter trugen eine Trage heraus und Sonia erkannte die Alte aus dem zweiten Stock, die gerade in den Wagen geschoben wurde. Ein diabolisches Grinsen verunstaltete für einen Moment Sonias Gesicht, während sie zufrieden das Fenster schloss und sich wieder ins Bett legte.
„Du meckerst nicht mehr an mir herum“, murmelte Sonia, bevor sie wieder einschlief.

Als Sonia sich am nächsten Tag auf dem Heimweg von der Arbeit an dem kleinen Kiosk in ihrer Straße eine Zeitung kaufte, sprach sie der Besitzer an.
„Bei Ihnen im Haus war ja gestern Nacht richtig viel los.“
„Ja, irgendjemand ist mit dem Krankenwagen abgeholt worden.“
„Das war die alte Frau Buchwald, hat einen Schlaganfall bekommen. Die Frau des Hausmeisters war heute Mittag hier. Sie sagte, Frau Buchwald hätte es gerade noch geschafft, den Notarzt zu verständigen, bevor sie zusammengebrochen ist. Ihre rechte Seite ist komplett gelähmt. Die kommt bestimmt nicht wieder. Sie werden sie wohl vom Krankenhaus direkt in ein Heim verlegen. Die arme Frau.“
„Ja, die arme Frau“, heuchelte Sonia. „Sie hatte ja auch, soweit ich weiß, keine Familie mehr.“
Das wäre auch erledigt, dachte Sonia und grinste still vor sich hin.
In ihrer Wohnung blinkte der Anrufbeantworter – Lisa hatte eine Nachricht hinterlassen.
„Sonia“, erklang ihre aufgeregte Stimme. „Ich habe nichts gesagt, nachdem du mich in letzter Zeit ständig abgewimmelt hast und ich habe deine komischen Launen ertragen. Aber das ist jetzt zu viel des Guten. Markus hat mir erzählt, was du ihn gestern Abend gefragt hast. Hiermit kündige ich dir die Freundschaft. Geh dahin, wo der Pfeffer wächst. Es interessiert mich nicht mehr. Nur das eine sage ich dir, lass deine Finger von Markus.“
Sie hatte gerade ihre beste Freundin verloren. Irgendwo, tief in Sonias Inneren zog sich etwas zusammen, wollte ein Gefühl der Traurigkeit aufkommen, doch es wurde im Keim erstickt, überschattet von dem Drang, den allabendlichen Tagebucheintrag vorzunehmen.

Mit der Zeit ließ Sonias Konzentration immer mehr nach, was sich im Besonderen auf ihren Job bei Kampe und Co auswirkte. Sie hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihrem Chef, Peter Kampe, gehabt, war von diesem sogar bevorzugt behandelt worden, was widerrum bei ihren Kolleginnen Neid hervorgerufen hatte. Besonders Karen, eine hübsche Brünette, hatte ein Auge auf den Chef geworfen und machte Sonia ständig Schwierigkeiten.
Durch ihre Konzentrationsschwäche, die Sonia auf die permanenten Kopfschmerzen zurückführte, unterliefen ihr neuerdings Fehler. Mehr als einmal wurde sie von Peter Kampe zur Rede gestellt, oft sogar vor ihren Kollegen kritisiert. Ihr entging nicht der schadenfrohe Blick, den Karen ihr zuwarf, als diese anstelle Sonia ins Chefzimmer gerufen wurde.
„Na warte, dein Grinsen wird dir schon noch vergehen“, dachte Sonia.
Am Abend schrieb sie sich ihren Frust von der Seele.
Ich wünschte, Karen wäre so hässlich, dass er sie nie wieder anschauen würde.
Am nächsten Tag stand Sonia vor dem Kopierer und schaute gelangweilt zu, wie dieser Blatt um Blatt ausspuckte. Da erklang plötzlich ein ohrenbetäubender Schrei aus der kleinen Büroküche. Von überall her kamen Kollegen angelaufen. Auch Sonia spähte durch die Tür. Auf dem Küchenboden lag eine zusammengekauerte Gestalt, die sich die Hände vor das Gesicht hielt – Karen.
„Was ist passiert?“
„Karen, was hast du?“
„Mein Gesicht“, stöhnte diese. „Es tut so weh.“ Ein Kollege hatte sich auf den Boden vor Karen gekniet und bog vorsichtig ihre Hände nach unten. Entsetzensschreie erklangen, als der Blick auf ihr Gesicht frei wurde. Augenbrauen, Wimpern und der Haaransatz waren vollkommen versengt, die Gesichtshaut eine einzige rohe Fleischmasse.
„Oh nein, wie schrecklich“, schluchzte die Frau aus der Buchhaltung und hielt sich die Hände vor die Augen.
„Schnell, ruft einen Krankenwagen“, forderte der Kollege, der immer noch neben Karen kniete, die Umstehenden auf. Die Chefzimmertür ging auf und Peter Kampe betrat den Flur.
„Was ist denn hier für ein Aufruhr? Gehen Sie sofort alle wieder an die... oh mein Gott!“
Fassungslos starrte Herr Kampe auf die wimmernde Karen.
„Die Frau muss sofort in ein Krankenhaus. Müller, bringen Sie Karen in mein Büro, wir legen sie auf die Couch“, ordnete er an.
Sonia hatte das Ganze mit Spannung verfolgt. Sie lehnte noch immer an der Küchentür und hatte ein Lächeln auf den Lippen.
„Frau Ritter, Sie lächeln doch nicht etwa?“, fuhr sie die Buchhalterin an. „Haben Sie denn überhaupt kein Mitgefühl?“
„Doch, natürlich“, log Sonia. „Ich habe gerade an etwas anderes gedacht.“ Fassungslos schüttelte die Kollegin den Kopf und ging wortlos an Sonia vorbei.
Die anderen rätselten inzwischen, was die schlimmen Verbrennungen in Karens Gesicht verursacht haben könnte. Schließlich kam man darauf, dass es eine Stichflamme aus dem Gasboiler gewesen sein musste, die herausgeschossen war, als Karen versucht hatte, die ausgegangene Flamme wieder anzuzünden.

Karen hatte Verbrennungen ersten und zweiten Grades erlitten. Sie würde für viele Monate ausfallen und zahlreiche Operationen über sich ergehen lassen müssen, um wieder ein einigermaßen normales Leben führen zu können. Und trotzdem würde sie für immer gezeichnet sein.
Sonia wurde nach dem Vorfall von ihren Kollegen gemieden, da die Buchhalterin den anderen von Sonias seltsamen Verhalten erzählt hatte. Wann immer Sonia einen Raum betrat, verstummten sofort die Gespräche und die anderen drehten sich von ihr weg.
Innerhalb weniger Monate hatte sich Sonia von einer lebenslustigen, beliebten jungen Frau in eine zurückgezogene, einsame Person verwandelt. Sämtliche Freunde hatten sich von ihr distanziert und da sie außer einem Bruder, der in Amerika lebte auch keine Familie mehr hatte, war sie somit auf sich alleine gestellt. Nach wie vor plagten sie Tag und Nacht Kopfschmerzen, und da sie kaum Appetit verspürte, hatte sie bereits zehn Kilos abgenommen. Außer den täglichen Tagebucheintragungen gab es keine Höhepunkte mehr in ihrem Leben. Noch nicht einmal die Nachricht ihres Bruders, der sie nach über einem Jahr besuchen wollte, heiterte sie auf. Sie war zu keinerlei positiver Gefühlsregungen fähig. In den Tagen vor Tommys Ankunft gingen ihr nur all die Streiche durch den Kopf, die Tommy ihr während ihrer Kindheit gespielt hatte.
Wie er sie vor seinen Freunden lächerlich gemacht und sie immer wieder bei den Eltern verpetzt hatte.

Sie sah Tommy sofort, als er den Zoll passierte. Er hatte sich kaum verändert, trug immer noch den Meckischnitt und dieses spitzbübische Lächeln auf den Lippen.
„Schwesterchen, komm lass dich umarmen“, rief er als er Sonia erblickte und wirbelte sie herum. „Hey, du bist ja leicht wie eine Feder, bist du auf dem Diättripp?“
„Dünn ist in“, erwiderte Sonia. „Erzähl, wie lebt es sich so im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.“
Auf dem Weg vom Flugplatz in die Stadt berichtete Tommy von der Computerfirma, für die er arbeitete und von dem Mädchen, in das er sich verliebt hatte und bald heiraten würde. Als ein Wagen Sonia die Vorfahrt nahm und sie eine Vollbremsung machen musste, schlug sie mit der Faust auf das Lenkrad und bedachte den Fahrer vor ihr mit rüden Schimpfwörtern.
„Warum bist du so aggressiv, Schwesterherz? So kenne ich dich gar nicht.“

Am Abend schrieb Sonia in ihr Tagebuch:
Die Zeit der Rache ist gekommen. Er muss bestraft werden. Ich wünschte, ich hätte keinen Bruder mehr!
Am nächsten Tag wollte sich Tommy mit einem früheren Freund treffen, der als Bauleiter auf einer Baustelle außerhalb der Stadt arbeitete. Sonia fuhr ihren Bruder dorthin. Sie parkten das Auto und baten einen der Bauarbeiter Tommys Freund zu benachrichtigen.
„Warten Sie einen Moment hier, ich hole ihn“, sagte er und verschwand im Rohbau der Wohnanlage. Gelangweilt blickte Sonia in den Himmel. Über ihnen schwebte an dem langen Arm eines Krans eine Palette mit Ziegelsteinen.
Auf einmal wusste Sonia, was geschehen würde. Tief in ihrem Inneren bündelte sich ein kleiner Rest positiver Kraft und kämpfte sich durch die Schichten des Bösen, die ihren Geist vollkommen umhüllt hatten.
Es ist dein Bruder, dein eigen Fleisch und Blut!, durchzuckte es sie im selben Moment, als sich die Palette vom Kran löste. Mit einem Aufschrei warf sich Sonia über ihren Bruder und riss ihn mit sich zu Boden. Sekunden später prallte die Palette neben ihnen auf und die Steine, die sich gelöst hatten flogen in alle Richtungen.
„Tommy, bist du okay?“ Sonia krabbelte von ihrem Bruder herunter und stand auf.
„Ich glaube schon, au...mein Bein.“ Einer der Ziegelsteine hatte ihn getroffen und eine hässliche Schnittwunde oberhalb seines Knöchels verursacht. Mittlerweile waren sie von Bauarbeitern umzingelt und auch Tommys Freund kam angelaufen. Niemand konnte sich erklären, wodurch sich die Palette gelöst hatte. Ein Unfallwagen brachte Tommy ins nächste Krankenhaus, wo sich herausstellte, dass er sich außer der Wunde, die genäht werden musste, auch noch den Knöchel gebrochen hatte.

Sonia fuhr auf dem schnellsten Weg nach Hause. Es war, als ob ihr der heutige Vorfall die Augen geöffnet hatte. Ihr war plötzlich klar, dass es nur einen einzigen Weg gäbe, ihr Leben wieder in Griff zu bekommen. Sie musste das Tagebuch loswerden.
In ihrer Wohnung angekommen, schloss sie die Eingangstür auf, ging auf direktem Weg zu ihrem Schreibtisch, wo das Tagebuch auf der Platte lag und sie hämisch anzugrinsen schien. Sie packte es, lief die Treppen hinunter und warf es in die Mülltonne.
Sie spürte zwar ein schwaches Gefühl der Erleichterung, als sie den Deckel der Tonne wieder zugeklappt hatte, doch der Druck in ihrem Kopf ließ weder während der Nacht, noch am nächsten Morgen nach. Sonia nahm eine Tablette und verließ die Wohnung, um den Tag bei Tommy im Krankenhaus zu verbringen. Am späten Nachmittag fühlte sie sich wie gerädert. Sie fuhr in ihre Wohnung und bereitete sich einen Kräutertee zu Als sie auf dem Sofa saß, streifte ihr Blick den Sekretär und sie zuckte zusammen.
Ein Adrenalinstoß schoss ihr vom Kopf bis in die Zehen. Ja, sie hatte richtig gesehen, das Tagebuch lag wie eh und je auf der Schreibtischplatte. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne, die durch das Fenster fielen, beleuchteten die goldenen Intarsien. Panik erfasste Sonia.
Auf ewig verbunden!
Würde sie für den Rest ihres Lebens Sklave des Buches sein? Es hatte ihr Leben zerstört, ihre Seele gefangen genommen und vergiftet.

Sonia versuchte noch ein paar Mal, das Tagebuch loszuwerden. Doch immer lag es am nächsten Morgen wieder auf dem Schreibtisch. Sie hatte zwar seit dem Unfall nichts mehr hineingeschrieben, dafür waren aber ihre Kopfschmerzen unerträglich geworden. Sie musste eine Lösung finden. Am nächsten Tag sollte Tommy aus dem Krankenhaus entlassen werden. Als Sonia am Abend zuvor in ihrem verdunkelten Schlafzimmer auf dem Bett lag, ein nasses Tuch auf der Stirn, kam ihr plötzlich eine Idee. Sie sprang auf, lief ins Wohnzimmer und schlug das Tagebuch auf.
Ich wünschte, das Tagebuch wäre für immer aus meinem Leben verschwunden, schrieb sie. Sobald sie das Buch zuschlug, empfand sie eine ungeheure Erleichterung. Eine wohlige Wärme durchzog ihren Körper und sie spürte, wie der Druck in ihrem Kopf langsam nachließ. Sollte dies des Rätsels Lösung gewesen sein?
Sonia ging zu Bett, konnte jedoch vor Nervosität kein Auge zumachen. Erst gegen Morgen verfiel sie in einen unruhigen Schlaf. Als sie gegen zehn Uhr erwachte, war sie zum ersten Mal seit Monaten schmerzfrei und verspürte ein Hungergefühl. Obwohl sie nicht viel geschlafen hatte, fühlte sie sich ausgeruht und stark. Mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen ging sie ins Wohnzimmer. Die Schreibtischplatte war bis auf einen Behälter mit Schreibutensilien leer. Das Tagebuch war nicht mehr da. Vorsichtshalber schaute Sonia noch unter den Tisch und in die Schubladen – doch das Buch blieb verschwunden. Endlich war sie erlöst. So schnell sie konnte zog Sonia sich an und machte sich auf den Weg ins Krankenhaus, um ihren Bruder abzuholen. Sie hatte sich fest vorgenommen, noch ein paar schöne Tage mit ihm zu verbringen.

Der Flohmarkt war gut besucht.
Langsam schlenderte das junge Mädchen mit seinen Eltern an den Ständen entlang. Immer wieder amüsierte sich die Familie über den Trödel, der hier feilgeboten wurde. An einem Stand mit alten Büchern blieben sie stehen und schauten sich die Auslage an.
„Sieh mal, Mama, ist das nicht hübsch?“ Das Mädchen griff nach einem Buch mit dunkelblauem Ledereinband. Intarsien und Goldbuchstaben schmückten seine Vorderseite. Neugierig schaute die Mutter ihrer Tochter über die Schulter.
„Es ist ein Tagebuch, bitte Papa, kann ich es haben?“ Das Mädchen warf ihrem Vater einen jener Blicke zu, denen Väter nur unschwer widerstehen können.
„Das Buch gehörte der Tochter eines englischen Lords“, mischte sich der Besitzer des Standes ein und rückte die runden Gläser seiner Brille zurecht.
„Ich mache ihnen einen guten Preis...“

 

puh... ich dachte schon, du seist sauer.
grüße zurück aus dem sonnigen norden.
gerade hat sie ihre nase zwischen zwei grauen wolken hervorgeschoben.:D

 

Quatsch, ich würde nie wegen einer konstruktiven Kritik sauer sein. :)

Ich kann euch gerne mal die Sonne für ein paar Tage leihen, ich kann sie nämlich bald nicht mehr sehen.

LG
Blanca

 

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