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Augenblick
Das Auge, das ein wenig verloren auf seiner Fußmatte lag, schaute ihn vorwurfsvoll an. Beinahe hätte Jonas es mit seinem Fuß zerquetscht, als er seine Morgenzeitung aus dem Briefkasten holen wollte, doch zum Glück ließ sein nackter Zeh es nur ein kleines Stückchen kullern. „Wie groß es ist!“ war absurderweise sein erster Gedanke, noch ehe sich ein unangenehmes Kribbeln vom Genick aus über seinen Körper ausbreitete. Mit zitternden Händen nahm er die Zeitung, atmete tief aus und wandte sich der Haustür zu. In der wagen Hoffnung, dass ihm lediglich seine Phantasie einen Streich gespielt habe.
Wie im letzten Monat, als er dachte, Esther käme ihm entgegen. Fröhlich wie so oft. Er hatte schon die Hand zum Gruß gehoben, sich auf die Wärme ihrer Umarmung gefreut, als er bemerkte, dass die junge Frau nur einen ähnlichen Gang und die gleiche Haarfarbe hatte. Esther war tot, seit fast drei Jahren. Sie konnte ihm nicht mehr entgegengehen.
Vorsichtig drehte sich Jonas um. Seine Hoffnung zerfiel. Noch immer warf ihm das Auge einen missbilligenden Blick zu. Ein leichter Schwindel erfasste ihn, nur mit Mühe schaffte er es bis ins Wohnzimmer. „Es muss da weg, sofort“, dachte er, aber seine Beine weigerten sich, ihm wieder aus dem Sessel zu helfen. Bald würden seine Kinder aufwachen und vor diesem Anblick wollte er sie beschützen. Wenigstens davor. Lilli war acht, Tim fast fünf Jahre alt, und sie hatten in den letzten Jahren mehr durchgemacht, als richtig war.
„Es tut mir unendlich leid, die Entfernung des Auges ist die einzige Chance, die wir haben.“ Dr. Kosam sah Esther und Jonas mitfühlend an. Das 'Wir' war okay, keine Spur herablassend, denn seit acht Monaten kämpfte er mit ihnen gemeinsam gegen den Gehirntumor. Zunächst mit kleinen Erfolgen. Doch jetzt war auch ihr linkes Auge betroffen. Esther hielt krampfhaft Jonas Hand, als ob er ihr irgendeinen Halt geben könnte. Konnte er nicht. Ihre Augen. Wenn er etwas an ihrem Äußeren ganz außergewöhnlich und wunderschön fand, dann ihre Sternenaugen. Tiefblaue Spiegel ihrer Seele. Und nun sollte eines rausgeschnitten werden? Wenn er den Arzt richtig verstand, für eine unbestimmte Hoffnung ...
„Sag es mir, was soll ich tun? Ich weiß nicht mehr weiter!“ Esther schaute ihn hilfesuchend an. Seit sie zusammen waren, hatten sie alle wichtigen Entscheidungen gemeinsam getroffen. Ob es um eine neue Wohnung, einen spannenden, aber unsicheren Job oder Lillis Kindergarten ging, sie diskutierten manchmal bis in die Nacht hinein, wenn es sein musste bis zum Morgen. Nur sie und er und eine Flasche Wein. Eine Lösung fand sich immer. Bisher. Doch hier hatte er das Gefühl, nichts beitragen zu können.
„Du musst wissen, was für dich richtig ist. Ganz egal, was ich dazu meine.“
„Du hältst es für zwecklos, oder?“
„Wirklich, meine Meinung spielt keine Rolle. Tue, was immer du denkst.“
Sie quälte sich mit der Entscheidung, tagelang. Es tat weh, ihr dabei zuzusehen. Und es tat weh, mit einem Mal nutzlos zu sein.
Dabei war er vor Kurzem noch ihr Held gewesen. Wirklich, genauso hatte sie ihn vor nicht einmal einem Jahr genannt. Ihre Katze war abends nicht nach Hause gekommen, Esther hatte sich Sorgen gemacht. Deshalb war er losgegangen, hatte die ganze Nacht gesucht und Mika schließlich verletzt im Gebüsch gefunden. Die Tierärztin meinte, dass sie ein paar Stunden später nichts mehr hätte tun können.
Doch jetzt und hier war alles anders. Er war kein Held mehr. Er war noch nicht einmal der Mann, an den sie sich anlehnen konnte.
Mit seinem Schmerz darüber wuchs sein Zorn, langsam, unaufhörlich.
Hätte ihr Hausarzt, an den sich Esther wegen ihrer Kopfschmerzen und der beginnenden Probleme, die richtigen Wörter zu finden, zunächst gewandt hatte, nicht abgewiegelt, zu großen Stress vermutet, Tabletten verschrieben – die fatalerweise zunächst halfen - , sie könnte heute geheilt sein. So aber hatte der Krebs seine Chance bekommen. Nach und nach wurde aus seinem Zorn Hass, bitterer Hass.
Man müsste diesem verdammten Quacksalber das Handwerk legen, ein für alle Mal. Und Jonas hatte dazu auch ein paar Ideen …
Er hörte von oben ein Kichern, die Kinder waren aufgewacht. Endlich fand er die Kraft, aufzustehen und zurück zur Haustür zu gehen. Das Ding, er musste es wegbringen, bevor seine Beiden es zu Gesicht bekamen. Aber als er zögernd die Tür öffnete, war es verschwunden.
„Überlegen Sie sich das noch einmal, bitte! Sie haben doch zwei kleine Kinder, dies wäre zumindest eine Möglichkeit!“
Dr. Kosam schien fassungslos über Esthers Entscheidung, sich nicht operieren zu lassen. Für Jonas keine Neuigkeit. Ihre Worte vom Tag zuvor hallten noch als Echo in seinem Kopf: „Ich kann das nicht. Wie sollte das sein, aus der Narkose zu erwachen, in mein Gesicht zu schauen und dann …“. Sie war sich anscheinend sicher. Das hatte sie Jonas gesagt und das versuchte sie nun dem Arzt klarzumachen, doch der verstand nicht - oder wollte nicht verstehen.
„Es ist nur ein Auge! Und eine Chance. Ich würde Ihnen das sonst nicht vorschlagen, glauben Sie mir!“
Ob es eine Chance war oder nicht, Esther wollte sie nicht ergreifen.
Jonas stand daneben, versuchte, für sie da zu sein, für seine Kinder da zu sein. Manchmal gelang ihm das.
Doch oft, während er im Krankenhaus ihre Hand hielt oder mit Tim und Lilli Zeichentrickfilme schaute, dachte er sich weg, flüchtete in seinen Plan, feilte an den Einzelheiten. An dem, was der Hausarzt mehr als verdient hatte.
Das von ihm gegründete ‚Forum gegen Kunstfehler‘ hatte zwar bisher nur drei Mitglieder, aber schon Zeitungsartikel platziert, der Ärztekammer geschrieben, Flugblätter verteilt, Ärztebeurteilungen ins Internet gestellt. Langsam stellten sich Erfolge ein. Das Wartezimmer von Herrn Herbst (nicht mal promoviert war dieser Scharlatan) leerte sich. Selbst als eine Grippewelle die Stadt erfasste, kam nur noch eine Handvoll Patienten zu ihm.
Zur selben Zeit gab Esthers Körper auf. Tag für Tag wurde sie müder, schwächer. An vielen Tagen ertrug sie das mit erstaunlicher Gelassenheit, doch manchmal, plötzlich und unvorhersehbar, wurde sie unberechenbar in ihrer Verzweiflung.
„Ich will keine Blumen, die gehören aufs Grab, nicht hierher!“, schrie sie einmal und schmiss einen Strauß samt Vase aus dem Fenster. Die zerbrach laut krachend, splitternd auf dem Asphalt. Zerrissene Blüten zwischen Scherben.
Jonas spürte ab und zu schmerzhaft, dass sie über den kommenden Abschied sprechen wollte. Doch er ertrug es nicht. Er redete lieber darüber, was sie noch gemeinsam tun würden, sprach über seinen Job, die Aktionen gegen den Hausarzt, die bevorstehenden Wahlen, über ein Kunstprojekt in ihrem Ort, die neuen Schuhe der Kinder.
Viereinhalb Monate später war Esther tot.
„Papa, guck was ich für dich gemalt habe!“ Lilli zeigte Jonas stolz ihr neustes Bild. Hellblaue, flauschige Wolken, funkelnde Sterne, ein dunkelblauer Mond und dazwischen – mitten in einem rasanten, geradezu halsbrecherischem Flugmanöver – ein blonder, über beide Backen strahlender Sternenengel. „Schau, Mama fliegt von allen Engeln am allertollsten!“
„Klar tut sie das.“
Lilli lachte zufrieden und Jonas befestigte ihr Bild am Kühlschrank. So lange hatte seine Tochter ihre Mutter nicht mehr gesehen, und wie gut hatte sie sie getroffen. Er selbst hatte bisweilen Mühe, sich an ihre Wärme, ihr Lächeln, ihre Zartheit zu erinnern. Und an ihren Schmollmund, wenn sie erfolglos versuchte, ihm böse zu sein. Wie konnte es sein, dass seine Erinnerungen ihn mehr und mehr im Stich ließen?
Tim kam verschlafen die Treppe herunter. „Kommt Marie jetzt, Eis essen?“ fragte er. Jonas hörte ihm an, dass er sich auf die Verabredung freute wie ein Schneekönig. Ach ja, in einer halben Stunde würde Marie die Kinder abholen, fast hätte er das vergessen. Marie, Esthers beste Freundin und auch seine, kümmerte sich um Lilli, Tim und ein wenig um ihn seither.
Eine halbe Stunde später waren die Drei bestens gelaunt losgezogen und Jonas blieb allein im Wohnzimmer zurück. Sie hätten ihn gerne dabei gehabt, aber er brauchte Zeit für sich.
‚Schloss Gripsholm‘ von Tucholsky, das hatten sie sich zu Beginn ihrer Liebe gegenseitig vorgelesen und heute wollte er es zum ersten Mal wieder in die Hand nehmen. Vielleicht kam er Esther so wieder näher?
Der anstrengende Job als Versicherungsmakler - als ob es möglich wäre, sich gegen irgendetwas zu versichern - die Pausenbrote und Elternabende, platte Fahrradreifen und Mäkeleien an seinen ausbaufähigen Kochkünsten. Er fürchtete langsam, sie ganz zu verlieren in seinem Alltag.
Auf dem Foto, das auf der Anrichte stand, sah er ihre strahlenden Augen, ihre widerspenstigen Locken. Aber der Duft ihrer Haare, wenn er sein Gesicht in ihnen vergrub, war so verloren wie der Geschmack der Küsse, mit denen sie sich gegenseitig hatten hilflos machen können.
Und obwohl er natürlich wusste, wie unveränderbar ein Foto war, wunderte er sich, dass sie immergleich weiterlächelte, obwohl er ihre Birkenfeige inzwischen zu Tode gegossen hatte.
Jonas zog den schmalen Band aus dem Regal, dabei fiel ein hellblauer Brief heraus. Auf dem Umschlag sein Name, in Esthers Handschrift. Sein Herz überschlug sich. Schmerz und Freude nahmen ihn so gefangen, dass er sich kaum bewegen konnte. Eine Weile saß er still, dann nahm er den Brief, öffnete ihn und begann zu lesen:
Mein allerliebster Jo,
mein letztes Wochenende zuhause. Und meine letzte Möglichkeit, dir zu schreiben. Einen weiteren Urlaubstag hier bei euch wird es wohl nicht mehr geben und im Krankenhaus fühle ich mich so weit weg von allem.
Es wird eine Weile dauern, bis du auf meine Zeilen stößt. Das ist gut. Im Moment bist du so verletzt, zornig, fasst erstarrt, du würdest nicht viel von dem verstehen, was ich dir sagen möchte. Mir ging es lange so, ich war unglaublich wütend und gleichzeitig traurig darüber, was das Schicksal mir zumutet. Erst jetzt kann ich akzeptieren, dass es ist wie es ist. Aber es fällt mir unendlich schwer, euch allein zu lassen.
Liebster, ich war auch wütend auf dich, über unsere Sprachlosigkeit. In deinem Leid hast du mich manchmal allein gelassen. Ich weiß, dass du nicht anders konntest, spürte, dass du unter dem Ungesagten leidest wie ich. Trotzdem machte mich das eine Zeitlang traurig. Aber weißt du was? Ich war gar nicht allein, Marie war für mich da, wo du es nicht sein konntest.
Es ist alles gut. In jedem Moment habe ich gewusst, wie sehr du mich liebst. Wie ich dich kenne, haderst du in dieser Sache trotzdem noch immer mit dir. Das brauchst du nicht, wirklich. Letztlich habe ich alles bekommen, was ich brauchte.
In deiner Verzweiflung kämpfst du gegen den Herbst. Er hat einen Fehler gemacht, ja, aber Fehler kommen vor. Nicht nur bei ihm. Falls du noch immer kämpfst, höre auf damit. Ich kann dir diese Bitte nicht ins Gesicht sagen. Ich glaube, du brauchst das im Augenblick noch, um alles durchzustehen. Doch inzwischen wird genug Zeit vergangen sein ...
„Auge um Auge - und die ganze Welt wird blind sein“, das war früher einmal dein Lieblingszitat von Gandhi, erinnerst du dich?
Vielleicht zweifelst du inzwischen an meiner Entscheidung gegen die Operation? Und meinst sogar, du hättest mich überreden sollen? Das hättest du nicht gekonnt. Mir war irgendwann klar, dass sie nichts ändern würde. Ich spürte, dass da für mich keine wirkliche Chance lag, egal was Dr. Kosam meinte. Sonst hätte ich es getan.
Lieber Jonas, meine Liebe zu dir kann nicht verschwinden, da bin ich ganz sicher. Die wirst du immer mal wieder spüren, egal wo ich selber sein werde. Aber schau, dass sie dir ins Leben hilft und es nicht verhindert. Du bist ein unglaublich toller, lieber, wunderbarer Mann. Dein Humor, deine Hilfbereitschaft, deine Liebe und deine Geduld mit meinen Schwächen: Fast immer, wenn ich an dich denke, komme ich ins Schwärmen. Wie so ein Teeny, und das nach mehr als acht gemeinsamen Jahren! Wäre doch schade, wenn ich die einzige Frau bliebe, die das ganz und gar genießen durfte.
Gib Lilli und Tim hin und wieder einen Kuss von mir,
in Liebe,
Esther
P.S. Weißt du eigentlich, dass Marie dich geradezu unverschämt gerne mag?
Jonas ließ den Brief sinken. Esther war ihm mit einem Mal so nah, als wäre sie nur kurz zum Einkaufen gegangen und könnte jeden Moment zur Tür herein kommen - wie immer viel zu bepackt. Mit einem unsicheren Lächeln, weil sie wieder eine Menge Geld für eine Menge Zeug ausgegeben hätte, das sie seiner Ansicht nach gar nicht brauchten. Er würde übertrieben seufzen, sie scheinheilig Besserung geloben und gemeinsam würden sie schließlich den ganzen Kram verstauen. Und da die Kinder gerade unterwegs waren, würden sie die günstige Gelegenheit ...
Die hohen, aufgeregte Stimmen, die sich der Haustür näherten, holten ihn zurück. Jonas wischte sich schnell über die Augen. Er hörte Tims Gehüpfe auf dem Kiesweg und Lillis Gezeter: „Iiih, da ist ja schon wieder so was. Dieser doofe Jan verteilt wieder Schweineaugen. Die hat der von seinem Vater, aus dem Schlachthaus. Ist das eklig, pfui! Marie, guck mal!“, und dann, ganz mutige, große Schwester: „Lass mal Tim, die schmeiß ich in die Bio-Tonne.“ Dann dreifaches Gequieke und Gelächter, das Klappen des Deckels und schließlich der Schlüssel im Schloss.
Hoffentlich blieb Marie noch ein bisschen.