Was ist neu

Augenmaß

Beitritt
30.09.2002
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Augenmaß

Dem Menschengeschlecht ist es wohl in die Wiege gelegt vom Mundwerk regen Gebrauch zu machen – besonders wenn ihn Probleme plagen. Doch ist es ihm leider ebenso angeboren jedes noch so winzige Wehwehchen auf Fußballplatzgröße auszuwalzen, während der Gegenüber vielmehr der zusprechenden Hilfe bedarf, er aber gnadenlos ignoriert wird.
Jüngst erging es mir ebenso. Ich weiß jetzt, warum Menschen lieber mit einem Haustier zusammen als mit Vertretern des Menschengeschlechts.
Meine Nachbarin, wie ich ein vom Zeitgeist arg geplagter Teenager, ist im wesentlich ein erfreuliches und damit seltenes Produkt der Gesellschaft. Sie liest keine generationsverdummenden Teenie-Zeitschriften, hasst billige Popmusik und ist kein begleitendes Anhängsel ihres Freundes, das sich fröhlich grinsend in die rosarote Sklaverei begibt. Wie gesagt – im wesentlich erfreulich. Denn neigt sie zeitweise zur maßlosen Überbewertung ihrer Leiden, was letztlich dazu führte, dass ich nun eingegipst im Krankenhaus liege, ekelhaften Kamillentee schlürfe und die hell gelb getünchten Zimmerwände analysiere.
Doch von Beginn an: Die Chronologie sei stets eingehalten, damit dem Leser unangenehme Verwirrung erspart bleibt.
Am Montag suchte ich Trost bei meiner Nachbarin Marina. Mein Mathelehrer hatte mit eine glatte 5 aufgetischt und ich war übelst gelaunt, da Fünfen für gewöhnlich nicht in meinem Vokabular standen. Doch kaum hatte ich Marina von meinem Malheur berichtet, da wechselte sie auch schon galant das Thema.
»Fünf? Na ja, egal. Also weißt du, was mir heute passiert ist, Bastian? Mein verdammter Deutschlehrer, diese Null, hat mir eine glatte 5 aufgetischt und ich bin übelst gelaunt. Was denkt sich der Kerl eigentlich? Hält der sich für Gott? (Er nicht!) Hat der überhaupt das Recht meine Texte zu bewerten?«
Als ich ihr nicht sofortigst beipflichtete und Trost als Zeichen meiner Solidarität spendete, verzog sie mürrisch ihr Gesicht.
»He, interessiert dich das überhaupt? Du scheinst ja nicht besonders viel für die Probleme anderer übrig zu haben.«
Ich lachte nicht, da ich wusste, wie wenig zimperlich Marina mit ihr Selbstwertgefühl verletzenden Revolutionären umzugehen pflegte. Stattdessen warf ich einen Blick auf die Uhr, meinte lapidar »Huch, schon so spät« und verließ fluchtartig den Raum.

Wie jeder Tag in meinem Leben, barg auch der nächste große Probleme. Auf dem Weg zur Schule stieß ich auf drei leicht beschränkte Halbaffen, die wenig mit ihrem Leben anzufangen wussten und zwecks Sinngebung einen kleinen Jungen verprügelten. Todesmutig und zivilcouragiert wie ich nun einmal bin, zog ich mein Handy aus der Tasche und drohte den jugendlichen Flachhirnen die Polizei zu benachrichtigen, wenn nicht auf der Stelle davon absähen, dem Jungen das Nasenbein zu brechen. Fluchend machten sie sich aus dem Staub, drohten vorher aber noch mit »echt krassen Konsequenzen«. Ich erzählte Marina von der Geschichte, schließlich war das eine durchaus üble Angelegenheit.
»Wird schon nichts passieren«, entledigte sie sich mutmachend ihrer Pflicht des Beistands, um dann wieder in ihr Klagegejammer zu fallen.
»Weißt du, wer mich nervt? Mein verdammter Deutschlehrer. Der hat mich heute einfach vor die Tür geschickt, nur weil ich Walkman gehört habe. Der spinnt wohl.«
Eine Viertelstunde dauerte ihre Hasstirade gegen »Individualität unterdrückende Schulsysteme«, »Kapitalistenschweine« und »Naziwichser«.
Mein passabel funktionierendes Bedürfnis nach regelmäßiger Körperertüchtigung in Form von Fußballtraining rettete mich, worauf sie meinte, dass ich ja wohl gar keine Sensibilität für ihre Probleme besäße. Tatsächlich?

Neuer Tag, neue Probleme. Die Schläger vom Vortag lauerten mir auf dem Heimweg auf und nahmen mich freundschaftlich in den Schwitzkasten.
»Morgen bringst du dein Taschengeld mir«, meinte der Oberaffe, sonst bist du ein toter Mann.«
Dann ließen sie mich los und ich rannte angsterfüllt davon. Wer konnte mir jetzt noch helfen? Wer wusste einen Ausweg? Wer Antwort auf die Frage: Zahlen oder Sterben? Marina.
»Die Schläger wollen mein Taschengeld.«
»Schläger? Welche Schläger? Na ja, egal. Weißt du, mit wem ich heute Ärger hatte?«
»Mit deinem Deutschlehrer vielleicht?«, seufzte ich resigniert.
»Woher weißt du das?«
»Nur so eine Ahnung.«
»Also auf jeden Fall hat der heute gesagt, als ich meine Meinung zu dem heute besprochenen Text abgegeben habe, dass sie zwar zum größten Teil einleuchtend sei, aber eben nicht hunderprozentig. Dieser Drecksack, der hat doch was gegen mich. Der schmiedet mit all den anderen Lehrern einen Komplott, um mich physisch fertig zu machen. Der bezweifelt meine kognitiven Kompetenzen.«
»Äh, er hat lediglich gesagt, dass es nicht ganz richtig sei...«
»Und das reicht dir noch nicht? Wie pervers bist du eigentlich?«
Sie warf mir einen fast abfälligen Blick zu, dass ich mich eigentlich hätte schämen müssen.
»Der einzige, der hier ... äh, ich muss denn mal wieder gehen, der Zeitungsjob ruft.«
Sie schmollte und meinte, ich sei ja wirklich kein guter Zuhörer, eiskalt und Opfer der Gesellschaft sowieso und kaum rufe der Kapitalismus, da sei ich auch schon auf den Beinen, um ihm treu ergeben zu dienen.
Mit klopfendem Herzen schlich ich am nächsten Mittag nach Hause. Ich hatte mich in einem Anflug von Weisheit und Selbsterhaltungstrieb dazu entschlossen das Schutzgeld zu bezahlen, weder Eltern noch die Polizei zu verständigen. Sonst würde alles noch schlimmer werden.
Jeden Moment rechnete ich mit meinen Peinigern. Als sie schließlich hinter einer Hecke hervorsprangen und wilde Indianerschreie ausstießen und als ich an Marinas ignorantes Verhalten dachte, da kam mir plötzlich die Idee denen mein Taschengeld nicht auszuhändigen, mich verprügeln zu lassen und zu testen, wie empfänglich Marina denn war für die wirklich großen Probleme ihrer Mitmenschen.
Um es erträglich kurz zu halten: Sie schlugen mich, sie traten mich, sie drehten mir den Arm um und verteilten Veilchen. Sie bespuckten mich, sie kratzten mich, sie schubsten mich und sie boxten mir in den Magen.
Als Wrack stolperte ich den scheinbar rettenden Hafen an. Geschwollene Augen, blutende Nase, löchrige Hose, verstauchter Fuß – Marina interessierten meine körperlichen Gebrechen eher dürftig.
»Siehst ein wenig mitgenommen aus«, meinte sie herzlos, »aber weißt du, was mir heute passiert ist?«
»Hast du vielleicht ein Pflaster?«, fragte ich röchelnd und wischte meine blutverschmierte Nase am Pulloverärmel ab.
Schlagartig verdunkelte sich ihr Gesicht.
»Hörst du mir jetzt vielleicht erst einmal zu. Wenigstens das eine Mal. Du hast schließlich keine Probleme, so wie ich. Verdammt. Also, mein Deutschlehrer, dieser verfluchte Mistkerl. Da zeige ich auf und weißt du was? Weißt du, was er gemacht hat?«
Eindringlich blickte sie mich an, war gar den Tränen nahe.
»Der Typ hat mich nicht dran genommen. Dabei war meine Antwort doch so gut. Ich weiß echt nicht, warum ich noch zur Schule gehe. Die hassen mich doch alle.«
»Wie oft hast du denn aufgezeigt?« fragte ich und hielt mir den schmerzenden Arm.
»Einmal. Na und, wenn ich schon aufzeige, dann soll er mich gefälligst auch dran nehmen.«
Die folgende Rede über den Verfall der Gesellschaft verließ ich, als meine Schmerzen Überhand nahmen und die Blutverluste sich allmählich bemerkbar machten. Ein Arzt hatte schließlich die Güte mich ins Krankenhaus zu bringen. Nach drei Stunden auf der Intensivstation war ich über den Berg.

Ach ja, bevor ich es vergesse. Die Sache mit dem Haustier. Menschen leben lieber mit einem Haustier zusammen, als mit Artgenossen. Haustiere neigen schließlich äußerst selten dazu von den Problemen mit ihrem Deutschlehrer zu erzählen.

 

Hallo, Sebastian!

Das kenne ich nur zu gut! Kaum setzt man an, ein wirklich wichtiges Gespräch zu führen, werden bereits die ersten Worte mit dem Hinweis auf noch Wichtigeres abgewürgt. Da hilft oft nur noch die Flucht oder Ohren zuklappen.

"Schläger? Welche Schläger? Na ja, egal. Weißt du, mit wem ich heute Ärger hatte?"
Dieser Satz ist bezeichnend. Genau so ist es.
...da kam mir plötzlich die Idee, denen mein Taschengeld nicht auszuhändigen, mich verprügeln zu lassen ...
:cool:

Dein Schreibstil gefällt mir auch!


Ciao
Antonia

 

Klasse!
Gäb's hier Punkte zu verteilen, würde ich dir die volle Punktzahl geben... aber nur gegen dein Taschengeld!
Aber im Ernst, fein beobachtet und brillant wieder- gegeben.
Grüße
wondering

 

Heja Sebastian,

tolle Geschichte - angenehmer Schreibstil, witzige Dialoge und die Botschaft kommt locker-flockig rüber.

Habe Tränen gelacht, kein Schmäh.

Schreib bitte weiter solch Spitzenstories!

:thumbsup:

Grüße von
Liz

 

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