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Aus Gebüsch unter dem wir liegen

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10.04.2004
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Aus Gebüsch unter dem wir liegen

Gabelung der Zweige, zwischen den Blättern. Feine Gabelung, die nicht brach, die sich zur Seite bog, mein Auge streifte.
Ein Seebad an der Sonnenseite der Bucht. Links das freie Meer. Im Sand lagen Teufelsfinger, hinter den Ohren saßen Quarzteilchen.
Wer gab wem die Hand?
Ereignislosigkeit der Strandlandschaft. Tausende nisteten in Körben. Schräger Blick zum Nebenan.
Möwenschreie und viel Weiß. Der Strand weiß im Licht. Weiß die Zähne der Damen. Das Geländer der Brücke: weiß.
*
Drei Tage noch. Zum Strand führte ein Kiesweg. Hartes Knirschen. Der herrische Zug in den windbewegten Pappeln. Wasser trieb heran. Die Promenade, ein Betonpfad, war nun Beute der kabbeligen morgengrauen See. Ich holte mir nasse Füße. Ausgebleicht war der Strandkorb, in den ich flüchtete. Das Leinen klebte auf der Haut.

Ich dachte an das Mädchen vom Tennisplatz. Ihre Bälle gingen vorbei, sprangen ins Nirgendwo. Die Balljungen brachten sie zurück, drei umspannt in einer Hand.

„10 Uhr“ – die Lautsprecher ertönten – „hier ist die Kurverwaltung. Luft 22 Grad, Wasser 19 Grad. Wir wünschen einen erholsamen Tag. Ende der Durchsage.“

Da sah ich sie kommen, im Anorak, in dreiviertellanger Cordhose. Sandalen an den Füßen. Sie stellte sich ans Geländer. Der Wind bauschte ihr kurzes Haar auf. Blaß waren ihre Lippen, gaben die Zähne frei, die nicht ganz in der Reihe standen. Hinten ragte das Steilufer auf mit einem Schopf aus Wald und Strauch.

Wie hieß das Mädchen?
Eva.
Was tat sie?
Sie schob die Unterlippe vor und pustete den Haarzipfel aus der Stirn, wenn es heiß war.
Die kaufte schokoladenüberzogene Eiswürfel.
Urtümlich, kreuz, quer, standen ihre Haare, als sie nach dem Schwimmen die Kappe abriß.
Sie gab mir ihre Kamera und ich filmte. Ich sah sie im Sucher. Sie lief über den Kies, verlor eine Sandale, bückte sich. Naheinstellung, Augen groß, mit dunklen Pupillen, und dann, enorm, der Schlag der Wimpern.
Ich sah sie, sie hatte die Hand auf der Stirn. Mit dem Fingernagel blieb sie an einem Blatt Schorf hängen zwischen den Augenbrauen.
Ich kann nicht anders, sagte sie, ich kratze die Stelle immer wieder auf.
*
Abends schrieb ich ihr einen Brief: Täglich und in jeder Stunde, im Gewühl und wo wir einsam sind, aus Gebüsch unter dem wir liegen, zwischen den Werkzeugen unserer Arbeit . . . – so zitierte ich aus einem Buch aus dem Frühjahr 1905.
*
Am nächsten Morgen waren wir die ersten am Kurhaus. Das Meer lag im Regengeprassel. Die Strandkörbe standen wie gescholtene Kinder.
Wir liefen auf die Brücke. Wir stellten uns dicht gegen einen Pfahl. Eva zog den Brief unter dem Anorak vor. Die Schrift lief auseinander.
Laß es regnen, sagte ich. Sie blickte hoch, blies die Wassertropfen von der Nase.
*
Auf Stufen stiegen wir in die Schlucht.
Unten lagen Steine im Wasser, auf die wir traten. Oben hockte ich mich vor Eva hin und legte die Aufschläge ihrer Cordhose nach unten: Jetzt kommen Brennesseln.
Eva tauchte als erste ins Unterholz. Klatschen der Zweige. Dann kam das Hohe Ufer. Eva saß am Rand. Ich rückte neben sie. Der Boden brach hier ab. Baumwurzeln ragten heraus. Wir beugten uns vor. Mauerschwalben flogen aus ihren Löchern in der Steilwand.
Wirklich wenig Platz, sagte ich und drückte Eva ins Gras. Die Blätter des Gebüschs trafen mich, die Zweige drückten sich weich an meine Augen.
Eva drehte den Kopf. Weich traf mich ihr Mund. Die Innenseiten ihrer Lippen öffneten sich nass.
Ich löste ihre Sandalen.
Bitte nicht, sagte sie, ich bin so kitzlig.
Du bist unkonzentriert, sagte ich und küsste sie.
Sie hielt die Augen offen, folgte dem Spiel der Zweige, ihrem Hin und Her. Im Frühling hab’ ich noch Zöpfe gehabt, sagte sie. Sie fehlen mir manchmal, ich greife hin, und da ist nichts.
*
Eva hatte sich hinausgestohlen. Wir schwammen nachts.
Mein Herz stolpert, sagte sie. Ich trug sie an Land. Herunter mit dem nassen Zeug. Der Strandkorb knirschte. Ich rieb und rüffelte. Ich trocknete die Ohrmuscheln, die Haarspitzen im Nacken, die Kniekehlen, das dunkle Dreieck.
Sie schüttelte den Kopf.
Sind das deine Strümpfe? fragte ich und hielt die unwahrscheinlich kleinen Ringelsocken hoch.
*
Vor meiner Abreise ging ich in ihre Pension.
Sie stand in der Teeküche. Bisschen eng, sagte sie und zog an der kurzen Hose. Sie sah wie ein Junge aus. Soll das Tee sein? Fragte ich und blickte in die Kanne.
Sie antwortete. Teemachen, Tennis spielen und Tanzen sind die drei Kulthandlungen, die uns in dieser götterlosen Zeit geblieben sind. Zitat aus ihrem klugen Buch.
*
Wir wussten, dass es das letzte Mal war.
Wassertropfen schwirrten vom Paddel.
Eva lag heruntergerutscht. Der Strand blieb weit zurück. Ich begann, die seitlichen, stoffüberzogenen Knöpfe aufzuknöpfen. Um 12 Uhr fährt der Bus, sagte ich. Ich beugte mich über sie.
Ich tu Ihnen nicht weh, sagte sie.
Ich küsste sie.
Dicht vor meinen Augen war ihr Handgelenk mit der wasserdichten Uhr. Ich sah auf das Spinnenbein des Sekundenzeigers, wie er zuckte.
Eva scheuerte mit den Füßen an der Bootswand. Um 12 Uhr fährt Ihr Bus, sagte sie, ich paddle mit.
Ich wischte Eva das Salz vom Rücken.
Rasch hin und her drückte die Spitze des Bootes durchs Wasser.
*
Als ich in den Bus stieg und mich umdrehte, blickte sie zu mir hoch: Was sind Sie eigentlich von Beruf?
Kaufmännischer Angestellter.
Ich dachte, Sie studieren oder so.
Der Bus fuhr an, fuhr ein Stück auf der Strandstraße, wendete, fuhr den Deich hoch und verschwand.
*
Am Sonnabend nach Büroschluß lag ich in Övelgönne an der Ufermauer. Der Sand war weißgrau, mit Steinkohlenstückchen und Holzsplittern durchsetzt.
Ich las Evas Brief: Ich sitze im Strandorb. Habe heute morgen allein gepaddelt, aber nicht wie ein Verbrecher den Ort der Tat aufgesucht. Ich reiße grad Weintrauben einzeln mit den Zähnen ab. Nichts ereignet sich. Der Sand türmt sich tatenlos. Ab und zu geistert die Stimme eines Kindes durch die Stille. Ende der Durchsage. Eva.
*
Für Sie, sagte die Lotsenfrau zu mir, ich ging zum Telefon, stand barfuß. „Hier spricht die Badeverwaltung“ kam es gedehnt aus dem Hörer. Eva nannte mir eine Adresse. Ich wohne bei einer Freundin, sagte sie.
*
Das Haus, an dem ich hochblickte, war düster. Im Treppenhaus gußeiserne Geländer. Im 4. Stock klingelte ich. Eva öffnete. Sie trug einen weißen Nicki. Ihr Haar noch noch kürzer geschnitten.
Sie zog einen Wettermantel über.
Neu, sagte sie.
Eine tolle Farbe, sagte ich, wie welkes Eichenlaub.
*
Wir tanzten. Nebenan breiteten sich Wasserrosen aus. Wir sahen den durchsichtigen Fahrkorb des Aussichtsturms nach unten gleiten.
Da erloschen die Scheinwerfer. Die Tanzkapelle verstummte. Riesenknall der Eröffnung. Wir blickten hoch. Giftgelbe und zyanblaue Farben regneten nieder. Feuerwerkskörper stiegen auf. Sie pfiffen, sie öffneten sich in der Luft, Sterne verspritzend. Durch den Busch neben uns zog milchiger Nebel. Widerlich, dieser Chemiegeruch, sagte Eva, ich mag so etwas nicht.
Wir tanzten wieder, sehr langsam, der Trompeter war aufgestanden. Eva sprach an meinem Ohr: In der „Bar Tourismo“, in Riccione, da war auch so ein Trompeter, - er nahm den Topf heraus, setzte an -, wir aber gingen, auf der ‚Viale Dante’, und nachher, im ZANARINI, hörte ich noch den Schrei der kleinen, blitzenden Trompete . . .
*
Ich sah nach oben in den Lichtschacht. Teerige Streifen zogen sich über das Drahtglas.
Bist du im nächsten Sommer wieder an der See? fragte ich. Ich gehe nach dem Abitur vielleicht auf die Uni, sagte Eva.
Ich möchte wissen, wie du zu Hause lebst, sagte ich. Ist es wichtig? fragte sie, schloß die Wohnungstür auf. Sie gab mir die Hand. Auf dem Hohen Ufer . . .
Ja, Eva?
Auf dem hohen Ufer habe ich mein Taschentuch verloren.
*
Bei uns war ich ausgesperrt. Ich ging durch die Garageneinfahrt und kam auf das Nachbargrundstück. Dort stieg ich auf eine Mülltonne und zog mich über die Mauer. Drüben fiel ich in einen Holunderbaum, brach mit ihm hinab. Ich war nun hinter unserem Haus, öffnete die Balkontür, legte mich in der Küche schlafen.
*
Verlassen lag das Hohe Ufer. Über dem Meer, das ruhig war, und über den Mauerschwalben, die schwiegen, lag zwischen Grasbüscheln unter Gesträuch das Taschentuch mit dem hellblau eingestickten „E“. Der Regen nässte es, es gilbte im Sonnenlicht, schmutzig lag es im Schnee.

 

Hallo Funkenflug,

um ehrlich zu sein, wenn jemand vor lauter Ungeduld, die ich gut verstehen kann, innerhalb kurzer Zeit mehr Geschichten veröffentlicht, als ich lesen kann, dann tendiere ich normalerweise dazu, die Geschichten alle zu ignorieren. Ein bisschen hanseatische Zurückhaltung gäbe deinen einzelnen Geschichten zumindest die Chance, dass sich auch wirklich mit ihnen auseinandergesetzt wird.

Kommen wir aber zur Geschichte. Da sie so irgendwo zwischen Lolita und Altherrenfantasie pendelt, nehme ich an, der Name Eva ist nciht ohne Bedacht gewählt, drückt er doch gleichzeitig die Unschuld und die Verführbarkeit der ersten menschlichen Erdbewohnerin aus. Jedenfalls hatte ich, auch wenn du nirgends etwas über das Alter deiner Protagonisten erwähnt hast, immer das Gefühl, sie sei viel zu jung für ihn, erst recht, als du die überraschend kleinen Strümpfe beschriebst. Mich beklomm also eher ein ungutes, denn ein romantisches Gefühl beim Lesen der Geschichte.
Verstärkt wurde dieser Eindruck durch kleine spielerische Einschübe deinerseits, wie die immer aufgekratzte Stelle zwischen den Augenbrauen oder die Meldung als Badeverwaltung am Telefon. Dass Eva noch jung ist, bestätigt sich darin, dass sie das Abitur noch machen muss, ihre flirtende Koketterie allerdings ließ mich vermuten, dies würde erst in vier bis fünf Jahren soweit sein.

Bitte nicht, sagte sie, ich bin so kitzlig.
Du bist unkonzentriert, sagte ich und küsste sie.
Auch wenn sie ihn zuerst geküsst hat, empfand ich diese Stelle als Widerstand, der mit dem kühlen Hinweis auf Konzentrationsmängel kalt ignoriert wurde.
Aber sicherlich überinterpretiere ich da in hypersensibler Moral.
Und ene Geschichte muss ja nicht moralisch einwandfrei sein, im Gegenteil, man kann sich Fantasien zugestehen, deren Ausführung weit von einem liegen.

Ein paar Hinweise noch:

Schräger Blick zum nebenan.
Wenn das Nebenan durch die Abkürzung für zu dem substantiviert wird, muss es natürlich auch groß geschrieben werden.
Hinten ragte das Steilufer auf mit einem Schopf au Wald und Strauch.
da hast du ein s vergessen
fuhr en Deich hoch und verschwand.
und hier ein d


Lieben Gruß, sim

 

Ich bin unentschlossen, ob mir die Geschichte gefällt, oder nicht. Das Badeferienambiente erinnert mich ein wenig an "Der Tod in Venedig". Aber das Buch konnte ich auch nicht leiden. :p
Vielleicht hätte ich auch diese Geschichte eher unter Seltsames lesen wollen, wie unter Romantik.
Ein Teil der Sätze schreibst Du als Satzfragmente. Warum? Stilistisches Merkmal? Ich muss mir erst noch Deine anderen Geschichten ansehen, um mehr darüber sagen zu können. Ich melde mich nochmal.

Inzwischen, Grüße,

hexy

 

Es ist wahrlich nicht einfach, deine Geschichten in gewohnter Weise zu kommentieren, Funkenflug. Ich könnte mir vorstellen, dass es dir auch nicht so sehr darum geht, Verbesserungsvorschläge zu hören. Jedes Wort, jeder Vergleich scheint ganz bewusst und durchdacht gesetzt, das wirkt nichts zufällig. Mag sein, dass es dir mehr darum geht, die Eindrücke und Erinnerungen zu erfahren, die dein expressionistischer Stil bei anderen hervorruft.

Diese Geschichte spricht mich eindeutig mehr an als der "Regensburg"-Text, viele deiner Sprachbilder finde ich beneidenswert gelungen, und der Text weckt die Erinnerung an Bücher aus dem elterlichen Fundus, die ich vor vielen Jahren gelesen habe: von F. Sagan, von Colette, an die "Blechtrommel", an die Bücher von Irmgard Keun. Du schaffst eine Atmosphäre des im besten Sinne Altmodischen durch ganz kleine Details: die Badekappe, die heute kaum noch jemand trägt, die abgeschnittenen Zöpfe, das Sie unter jungen Leuten. Ja, sie ist ungewöhnlich, deine Geschichte, auch ein gutes Stück fordernd, aber dafür lässt sie viel Raum für das Kopfkino.

Zwei Dinge noch:
Der Sand war weißgrau, mit Steinkohlenstückchen und Holzslittern durchsetzt.
Holzsplittern

... und der Pullistoff heißt Nicki.

LG, Chica

 

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