Was ist neu

Copywrite Auszeit

Seniors
Beitritt
28.01.2008
Beiträge
1.008
Zuletzt bearbeitet:

Auszeit

„Du? Vom Block? Das will ich sehen!“
Sieger legte die Mappe auf der Steinbank ab, verschränkte die Arme und und baute sich am Rand des Schwimmbeckens auf. „Los, beweis es!“
Darauf war Kilian nicht vorbereitet. Andererseits war es logisch: Wie konnte er vom Trainer erwarten, ihm unbesehen zu glauben? Er wußte ja selbst nicht, ob er es je schaffen würde. Hunderte Male hatte er den Blockstart geübt, mit seinem Freund Tillmann, der an ihn glaubte, und er bekam ihn seit Monaten fast hin, aber eben nur fast. Das konnte sich heute oder morgen ändern, aber es konnte auch bis in alle Ewigkeit so bleiben. Zwischen fast und ganz war ein winzig kleiner Unterschied, aber bei genauerem Hinsehen gab es keinen größeren.
Kilian rollte zur äußersten Bahn, stemmte sich im Rollstuhl hoch und rutschte auf den rauhen Betonklotz.
Im Kopf hörte er die Worte, mit denen Tillmann ihm oft Mut machte: „Stell dir nur vor, wie die alle glotzen, wenn ein Rolli den Startsprung macht!“
Er plazierte die Füße an der Vorderkante, stieß sich mit einer Hand hinten ab, während er sich mit der anderen nach vorn zog. Der Hintern hob sich schwerfällig und rutschte über die Waden nach oben. Ich schaffe es, dachte Kilian. Was Kirsten Bruhn kann, kann ich auch.
Er löste die hintere Hand, griff zur Vorderkante des Blocks um. Das Gewicht von Hüfte und Oberschenkeln drückte ihn in die Knie. Er zog sich mit aller Kraft nach vorn und fühlte, wie er einsackte. Die Knie gaben nach, er verlor die Kontrolle und kippte nach vorn. Gleich würde er wie ein Sack ins Wasser klatschen und untergehen, seine Chance hatte er gehabt.
Kilian schloss die Augen und ließ sich dem Wasser entgegenfallen. Doch er fiel nicht.
Verwirrt öffnete er die Augen wieder, registrierte, daß sein Körper in einer unsäglich albernen, bizarr-schlaffen Haltung erstarrt war, und fühlte Scham. Was auch immer gerade passiert war, Sieger würde noch lange darüber lachen.
Dann bemerkte er mit jähem Schrecken, daß er in vollkommener Stille über dem Wasser hing. Die vertrauten Schwimmbadgeräusche waren verstummt, die Luft wie verdorrt ohne den stetigen, weichen Hall. Jede Stimme wäre hineingefahren wie Sandpapier.
Kilian drehte den Kopf. Das gelang ihm mühelos, wenn auch langsam; sein Körper folgte der Bewegung und richtete sich auf. Als die Zehenspitzen lautlos das Wasser berührten, fuhr es ihm wie ein elektrischer Schlag in die Beine, er warf den Kopf zurück und riss den Mund auf, um zu schreien wie noch nie in seinem Leben, da sah er den blumengeschmückten Stuhl, der, an vier Seilen hängend, langsam zu ihm herabgelassen wurde. In diesem Moment begriff Kilian, daß ihm ein Wunder geschah. Er packte den Stuhl mit beiden Händen, zog sich hoch und schwang sich mit einer kraftvollen, routinierten Bewegung auf die Sitzfläche.
Zuerst kehrte der Hall zurück und tränkte die Luft mit wattigem Geflüster. Als das Wellenplätschern und Pumpenschlürfen wieder einsetzte, war Kilian schon hoch oben unter der Schwimmbaddecke. Er schaute hinunter zu Sieger, der mit halboffenem Mund am Beckenrand stand, genauso unbeweglich wie der Rollstuhl vor dem Startblock; dann hob er den Blick und sah Holz, eine riesige Fläche aus glattem Holz, die rasch näher kam. Noch knapp einen halben Meter, zwanzig Zentimeter, Kilian zog den Kopf ein und verhielt den Atem, zum Denken blieb keine Zeit, schon stieß er sacht mit dem Scheitel an und fühlte, wie das Holz nachgab und ihn einließ. Sein Kopf tauchte in warmes Halbdunkel, dann der Hals, die Schultern; ein leichter Druck ging über Brust und Bauch und umfasste für einen Moment den gesamten Körper. Dann spürte Kilian Wind auf Haar und Stirn, es wurde hell, er sah an sich herab und beobachtete wie von fernher die Stuhlbeine und seine eigenen nackten Waden und Füße, die aus dem Holz auftauchten, als würden sie aus Sirup gezogen.

Aus den Augenwinkeln gewahrte er ein weiteres Paar nackter Waden, die unter einem weißlichen Hemdsaum hervorkamen. Sie gehörten zu einer stämmigen kleinen Gestalt unbestimmten Geschlechts, die neben einer ausgeklügelten, aber grobgezimmerten Flaschenzugvorrichtung stand. Gerade sicherte sie die schwere Kurbel, ließ sie dann los, schnaufte und benutzte einen Zipfel des formlosen Gewandes, um sich die Hände abzuwischen. Schließlich drehte sie sich zu Kilian um, lächelte breit und freundlich und sagte:
„Aber leicht bist du trotzdem nicht!“
Kilian glotzte. Wieder strich Wind über seine Haut, er fröstelte, dann schüttelte er kurz den Kopf, versuchte zu lächeln, was nur zur Hälfte gelang, wollte etwas sagen und verschluckte sich beim Luftholen. Das Geschöpf verzog den Mund ein wenig und kniff ein Auge zu.
Selbst auf den Augenlidern sind Sommersprossen, dachte Kilian benommen. Eine neue Brise machte ihm Gänsehaut, und plötzlich fiel ihm ein, daß er vielleicht im Himmel war, einem Engel gegenüberstand und nichts anhatte als seine Badehose.
Er sah sich um und entdeckte einen vertrauten Gegenstand, nämlich einen Bleistift, der kaum zehn Meter vom Gerüst des Seilzugs entfernt auf dem glatten Boden lag. Nur war dieser Bleistift riesig, dick und lang wie ein Baumstamm, man hätte ein Burgtor damit aufbrechen können. Weiter hinten erhob sich etwas wie ein Silo oder ein Tank, aber nein, es hatte einen Henkel, das war kein Silo, sondern eine Tasse, die Kaffeetasse eines Riesen! Richtig, da lag ja auch der Löffel, ein eindrucksvoll geschwungenes, glänzendes Gebilde, länger als ein Laternenmast. Kilian räusperte sich.
„Ist das Gottes Tisch?“, fragte er. „Alles ist so groß!“
Die sommersprossige Gestalt hob abwehrend die Hände.
„Das ist doch ein ganz normaler Schreibtisch. Er kommt dir nur so groß vor, weil ... ich hätte dich nie hier hochziehen können, verstehst du?“
„Du hast mich geschrumpft?“
„Aber nur für den Kran, wirklich! Und dafür kannst du jetzt laufen und hast es noch gar nicht gemerkt! Komm, steh auf, ich will dir was zeigen!“
Während er lauschte, wusste Kilian, daß es stimmte. Wir sind bereit, meldeten seine Beine; es fühlte sich an wie vor dem Unfall, völlig selbstverständlich, als hätten Nerven und Muskeln die Erinnerung an die letzten Jahre verloren. Kilian stand auf und ging ein paar Schritte. Eine Seligkeit ergriff ihn, so tief und süß, daß er sich minutenlang darin verlor. Er lehnte sich an den Kran, schloss die Augen und fühlte Tränen brennen, aber dann weinte er doch nicht, weil das kleine Geschöpf zu ihm hintrat, seine Hand fasste und behutsam daran zog. Dabei sprach es mit seiner hellen, etwas atemlosen Stimme auf ihn ein.
„Du bist ja schon ganz trocken! Ich hab deine Sachen hier, die kannst du anziehen, und dann können wir herumlaufen … es geht doch gut mit dem Laufen, oder? Sowas verlernt man bestimmt nicht, das ist wie Schwimmen oder Radfahren, glaub mir.“
Da musste Kilian lachen. Wie seltsam, mit jemandem zu reden, der stand und doch kleiner war! Er kniete sich hin und sah in die freundlichen Augen.
„Ja, ich kann’s noch. Ich danke dir. Ich bin so durcheinander. Bist du denn ein Engel?“
„Nein, nein, ich bin nur – seine Muse, weißt du. Ich spiele so gern, wenn er schläft, und da hab ich mir gedacht, bevor du ins Wasser fällst und dein Trainer dich wieder auslacht – “
„Muse? Wessen Muse?“
„Ich will’s dir ja zeigen! Aber erst musst du dich anziehen.“
„Woher hast du denn meine Sachen?“
„Oh, ich kenne viele Tricks! Ich hab nachgelesen, wo du sie hingetan hattest, und dann hab ich sie einfach da rausgenommen.“
Kilian zog sich an. Als er die Hose zuknöpfte, spürte er plötzlich seine Blase. Wie konnte man eine derart volle Blase überhaupt vergessen? Jetzt würde er das aushalten wie jeder normale Mann und sich sogar an dem Zwicken freuen. Wie gut sich Jeans und Schuhe anfühlten!
Die Muse nahm ihn bei der Hand, und zusammen gingen sie über den Schreibtisch. Nachdem sie die Tasse umrundet und eine Pralinenschachtel überklettert hatten, sah Kilian den Riesen. Sein gewaltiges Haupt ruhte auf den Armen. Er schlief mit dem Kopf auf der Tischplatte, vor sich eine monströse Tastatur; bei jedem Ausatmen weiteten sich seine Nasenlöcher, und ein neuer Windhauch wehte Kilian entgegen. Es war unmöglich zu erkennen, was der Bildschirm des hausgroßen Monitors zeigte, das Strahlen und Flimmern war zu stark.
Vorsichtig erklomm Kilian die Tastatur. Er war so leicht, daß sich die Tasten dabei nur ganz wenig bewegten. Die Muse raffte mit einer Hand ihr Hemd zusammen und folgte ihm. Auf dem B blieb sie stehen; Kilian setzte sich auf das H, und zusammen betrachteten sie das große schlafende Gesicht.
„Das ist dein Autor!“, sagte die Muse schließlich. „Er hat dich erfunden, ist das nicht aufregend? Sicher erlebst du gerade einen sehr wichtigen Moment!“
Kilian dachte darüber nach, während seine Blase spannte.
„Dann ist er für meinen Unfall verantwortlich.“
„Jetzt denkst du falsch. Hat er etwa damals am Steuer gesessen?“
„Aber es war sein Wille! Er hat sich das alles ausgedacht, und ich muss es ausbaden! Heute erst hat er
mir die falschen Katheter eingepackt, so daß ich seit Stunden nicht – “
„Na komm, das sollte doch jetzt kein Problem mehr darstellen. Ich werd’ auch nicht zusehen, versprochen!“
Und damit drehte sich die Muse tatsächlich um und hielt sich die Augen zu.
Kilian rutschte und kletterte von der Tastatur herunter und ging an ihr entlang zum Mousepad. Er umrundete die Maus, bis er außer Sicht war, öffnete seine Hose und pinkelte gegen das gewölbte Plastik. Es dauerte sehr lange und fühlte sich großartig an. Als er den letzten Tropfen abschüttelte, empfand er aufrichtiges Bedauern. Den Rückweg nahm er im Laufschritt.
„Wir müssen reden“, sagte er zur Muse, woraufhin sie die Hände vom Gesicht nahm und das V betrachtete, als sei es schmutzig.
„Das habe ich befürchtet“, nuschelte sie.
Solange ihr Autor lebe, erfuhr Kilian nach langem Schweigen, sei die Muse verpflichtet, sich stets in seiner Nähe aufzuhalten. Man wisse ja sonst nicht, wann es notwendig sei, den Autor zu küssen, zu kosen oder zu zausen, so daß er etwas schreibe.
„Aber was in den Geschichten passiert“, sagte die Muse und hob ihren rundlichen Zeigefinger, „darauf hat man natürlich keinen Einfluß! Außer eben“, sie schlug die Augen nieder und biß sich auf die Unterlippe, „heimlich, wenn er schläft.“
„Wird er nicht merken, daß meine Geschichte nicht mehr stimmt? Ich weiß nicht mal, wie ich das meinen Freunden erklären soll … sag mal: Gibt es das alles überhaupt noch, meine Familie, mein ganzes Leben?“
„Aber es hat sich doch nichts geändert! Ich kann gar nichts verändern, nur er könnte das. Vielleicht wird er sich an einen seltsamen Traum erinnern – “
„Und was geschieht mit mir, wenn er aufwacht?“
Die Muse schwieg und nestelte an ihrem Haar.
„Jetzt sag mir nicht, daß ich in ein paar Stunden zurück muss“, sagte Kilian erschrocken und packte sie am Ärmel. Da sah sie ihn mit funkelnden Augen an und sagte streng:
„In ein paar Stunden kann viel passieren. Oder willst du deine Auszeit im Sitzen verbringen?“
„Ich weiß nicht, was ich will. Oder wo ich hinsoll. Alles ist so unglaublich.“
Die Muse lächelte und streckte ihre Arme aus.
„Komm zu mir, ich weiß was.“
„Was hast du vor?“
„Ich werde dich küssen!“
„Aber“, sagte Kilian und verstummte, als die Muse ihn mit überraschender Kraft an sich zog und ihre Lippen auf seine drückte. Unter der Gewalt und Sanftheit ihres Kusses öffnete sich ein verborgenes Tor, und er fiel, flog, der Wind trug ihn davon, oder rauschte das Blut so laut in seinen Ohren? Durch das Pochen und Brausen hörte er ihre Stimme, eine andere Geschichte strömte auf ihn ein, und noch während des Fallens begann er zu rennen; er rannte, bis er den knirschenden Schotter unter den Sohlen spürte, rannte weiter und –
– hielt erst beim Rotwildgehege an, um zu verschnaufen. Hier war es auch nachts taghell, denn die
Stadt hatte am freien Zaunstück ein Flutlicht angebracht, um Vandalen abzuschrecken. Kilian versteckte sich hinter einem Busch und wartete.

Das Open Air schien jedes Jahr schlechter zu werden. War es die Musik, war es die Anlage, oder war es womöglich nur eine ihrer Launen? Iris konnte nicht ermitteln, warum ihr alles so auf die Nerven gegangen war, daß sie das Konzertgelände schon lange vor Schluß verlassen hatte. Sie fühlte sich elend und kam sich bereits dumm vor, wie sie hier stand: Nicht teilgenommen, vorzeitig entlassen, übriggeblieben. In einer Stunde fuhr der Bus, bis dahin konnte sie hier stehen und ihre Einsamkeit auskosten, Wiedereinlass nicht möglich, prima hatte sie das hingekriegt. Nein, das würde sie sich nicht antun! Sie würde heimlaufen, durch den Wald, der lange Spaziergang würde ihren Kopf klären. Fürchten muß ich mich nicht, dachte Iris grimmig, mir wird nie jemand hinterherlaufen.
Sie zog den schmalen Mantelgürtel fest, steckte die Hände in die Taschen und ging los, in trotzige und traurige Gedanken versunken.
Erst kurz vor dem Rotwildgehege hörte sie Schritte hinter sich und fuhr zusammen. Sie wollte sich umdrehen, doch der Verfolger kam ihr zuvor: Eine grobe Hand legte sich auf ihre Schulter und riß sie herum, sie schrie auf, taumelte und sah ein höhnisches Grinsen, blitzende Augen, ganz nah vor ihrem Gesicht, viel zu nah! Sie versuchte sich loszureißen, aber vergeblich; sie schlug auf das Grinsen ein und sah einen weiteren Mann aus dem Schatten auftauchen. Mit einem scharfen Klicken zuckte eine Messerklinge aus seiner Faust empor und blitzte. Die wollen mich umbringen, dachte Iris erstaunt, das war meine letzte Dummheit heute Abend. Seltsamerweise war ihr Kopf jetzt klar, so klar wie schon lange nicht mehr; schwere, schweißige Finger wurde ihr auf Mund und Nase gepreßt, sie bekam keine Luft mehr und sah das Messer wie in Zeitlupe auf sich zukommen. Da gab sie auf, machte sich ganz steif und schloß fest die Augen.
Plötzlich erschütterte ein heftiger Schlag den Körper des Mannes, der sie festhielt, er wurde schlaff und gab sie frei. Iris fiel zu Boden und robbte auf den Zaun zu, hinter sich hörte sie Keuchen, Füßescharren und weitere Schläge. Als sie merkte, daß ihr niemand folgte, drehte sie sich um und sah einen der Männer reglos am Boden liegen. Der andere rang mit einem dritten; sie hatten sich umklammert, knurrten und ächzten, jeder trachtete dem Gegner die Füße unter dem Leib wegzutreten. Schließlich riß sich der eine los und wollte fliehen, doch der andere setzte ihm nach, brachte ihn zu Fall und hieb ihm mit solcher Gewalt gegen die Schläfe, daß er liegenblieb.
Iris hatte sich mit dem Rücken an den Zaun gepreßt und die Knie an die Brust gezogen. Zitternd sah sie zu, wie Kilian das Messer aufhob, zusammenklappte und in seine Hosentasche schob. Dann kam er zu ihr und streckte ihr die Hand entgegen.
„Alles in Ordnung?“, fragte er mit wackliger Stimme.
Iris nickte, ergriff seine Hand und ließ sich aufhelfen. Dabei merkte sie, daß er mindestens genauso sehr zitterte wie sie. Sein Gesicht war zerkratzt, ein Auge fast zugeschwollen.
„Danke“, sagte Iris. „Sie haben mir das Leben gerettet!“
Kilian schüttelte den Kopf. Davon wurde ihm so schwindlig und übel, daß er sich fast übergeben hätte. Schnell ließ er Iris’ Hand los. Erschrocken sah sie ihn an.
„Sind Sie schlimm verletzt?“
„Nein, mir ist nur schlecht … ich hab mich seit meiner Kindheit nicht mehr geprügelt.“
„Setzen Sie sich hin, ich werde die Polizei rufen.“
Kilian setzte sich auf einen Baumstamm, hielt sich den Bauch und betrachteten die beiden bewußtlosen Männer, während Iris ihr Telefon aus der Tasche zog.
„Sie hätten dich nicht umgebracht“, sagte er. „Sie hätten dich vergewaltigt und übel zugerichtet, aber du hättest überlebt.“
Das Display leuchtete auf.
„Woher wissen Sie das?“, fragte Iris.
„Jemand hat eine Geschichte darüber geschrieben. Am Schluß verliebst du dich in einen der Polizisten.“
„In einen Polizisten!“
„Ja. Vielleicht sogar in den, der gleich rangeht. Aber das weiß ich nicht, du bist ja jetzt nicht vergewaltigt worden.“
Iris sah das Telefon an. Der kleine Bildschirm wurde wieder dunkel. Schließlich steckte sie es ein.
Den ganzen Tag war sie rastlos gewesen. Sie kannte das Gefühl gut, es begleitete sie, seit sie denken konnte; ein Gefühl, als renne sie ihrer eigenen Zeit hinterher und verpasse etwas, ohne zu wissen, was es war. Gleich um die nächste Ecke, im Nebenzimmer, am anderen Ende der Stadt war es, sie spürte es immerzu, aber es war nicht für sie. An guten Tagen war das Gefühl belebend und erinnerte sie daran, daß sie etwas Besonderes war. An schlechten Tagen glaubte sie sich dazu verdammt, allein am Ufer zu sitzen, während alle anderen in den Fluten spielten. Heute war es ganz schlimm gewesen. Und jetzt war es plötzlich weg, einfach so; es war von ihr abgefallen und hatte einen eigenartigen, kühlen Frieden hinterlassen.
Zum ersten Mal sah sie den Fremden richtig an. Ruhig erwiderte er ihren Blick.
„Ich möchte nach Hause“, sagte Iris und fühlte, wie ihr die Tränen kamen. „Heute stimmt gar nichts …“
Kilian stand auf und legte schüchtern einen Arm um ihre Schultern.
„Wem sagst du das“, murmelte er.
Als einer der beiden Männer sich bewegte und leise stöhnte, fuhren sie entsetzt herum.
„Willst du die Polizei noch rufen?“, fragte Kilian.
Iris schüttelte den Kopf. „Lieber will ich die Geschichte hören.“
„Dann laß uns verschwinden, bevor sie aufwachen.“

Iris schloß die Wohnungstür auf, ging Kilian voran durch den schmalen Korridor ins Wohnzimmer und schaltete dabei alle Lichter an. Sie hatte weder aufgeräumt noch gelüftet, jetzt öffnete sie das große Fenster, schob die Bücher auf dem Couchtisch zusammen und stapelte sie auf. Kilian sank ächzend in einen Sessel, streckte Beine und Füße und bewegte die Zehen in den Schuhen. Im hellen Licht der Deckenlampe sah Iris, daß auch seine Hände verletzt waren. Die Schwellungen verfärbten sich schon.
„Das muß doch wehtun“, sagte Iris. „Dein Gesicht sieht ganz schlimm aus. Ich geh Jod und Verbandszeug holen.“
„Es tut nicht weh“, sagte Kilian, „morgen Nachmittag wird es verschwunden sein. Nur ein Bier würde ich schrecklich gern trinken.“
Iris strahlte.
„Warte, ich hab eins!“
Sie lief in die Küche und kam mit einer Flasche Bier und zwei Gläsern zurück. Kilian hatte sich aufgerichtet und betrachtete mit schiefgelegtem Kopf die Buchrücken.
„Was die da drin wohl gerade machen …!“
Er zog ein Buch heraus, betrachtete den Einband und lächelte.
„Lolitas Metamorphosen und andere Schurkenstücke!“
Iris fühlte, wie sie errötete. Sie stellte Flasche und Gläser auf den Tisch.
„Ich finde, Johanna Schwarz ist eine sehr vielversprechende – “
Aber Kilian lachte jetzt so, daß sie mitlachen mußte. Beim Einschenken zitterten ihre Hände, und Schaum lief über den Rand der Gläser.
„Alles ist so unglaublich“, sagte sie.
Sie stießen an und tranken. Iris kniete sich neben dem Sessel auf den Boden und betrachtete Kilans Beine.
„Zu denken, daß sie morgen vielleicht wieder einschlafen werden – “
„Daran will ich jetzt aber nicht denken.“
Er beugte sich vor, faßte ihre Schultern und sah sie lange an.
„Du bist schön“, sagte er schließlich. Iris’ Herz tat einen Satz. Sie räusperte sich und wollte etwas antworten, aber stattdessen umarmte sie ihn und schmiegte ihr Gesicht in seine Halsbeuge. Nach einer Weile fühlte sie, wie er sich unruhig bewegte.
„So kann ich nicht lange sitzen“, sagte er. „Mein Rücken ist ganz verbogen.“
„Soll ich dich massieren?“, fragte Iris. „Meine Schwester ist Physiotherapeutin, sie hat es mir beigebracht.“
„Ich habe einen erstklassigen Physiotherapeuten“, sagte Kilian, zog sie zu sich auf den Sessel und küßte sie. Für den Weg ins Schlafzimmer brauchten sie lange, und etliche Bücher fielen dabei herunter.

„Das war wunderschön“, sagte Iris viel später, während sie vorsichtig Kilians Gesicht streichelte.
„Es war mein erstes Mal“, sagte Kilian.
„Bei mir auch …“
Sie kuschelten sich aneinander und zogen die Decke über sich. Eine Zeitlang lagen sie still und hingen ihren Gedanken nach. Dann merkte Kilian, daß Iris einschlief; ein Fuß zuckte schwach, und der Rhythmus ihres Atems veränderte sich. Er schmiegte seine Wange in ihr Haar und flüsterte:
„Falls ich nicht mehr da bin, wenn du aufwachst ...“
Da schlug sie die Augen nochmal kurz auf und murmelte:
„Dann kommst du wieder!“
Kilian wollte wachbleiben, fühlte aber, daß ihm das nicht gelingen würde. Als die ersten Traumbilder kamen, ließ er sich forttragen und schlief auch ein, den Duft seiner Geliebten in der Nase, ihre Abschiedsworte im Ohr.

Die Muse kannte ihren Autor. Als der Rhythmus seines Atems sich leicht veränderte, wußte sie, daß er bald erwachen würde. Sie hatte selbst ein wenig gedöst, eingekuschelt in eine Ärmelfalte des weichen, alten Pullovers, den er beim Schreiben am liebsten trug. Jetzt streckte sie sich und kletterte auf seine Schulter, bis sie ganz nah vor seinem Ohr stand. Zärtlich strich sie mit ihren winzigen Händen über seine Haut, hauchte sein Ohrläppchen an und flüsterte:
„Schenk ihm doch den Sprung! Er würde sich so freuen. Er rechnet ja selbst nicht damit, – “

„ – daß du das je schaffen würdest!“
Kilian hatte nach dem Sprung im Wasser gewendet. Während er zum Beckenrand zurückschwamm, sah er Sieger in die Hände klatschen, lachen und die Daumen heben.
„Ich muß mich entschuldigen, Junge, ich hatte dich wohl unterschätzt. Was die Registrierung angeht …“
Kilian stemmte sich in den Rollstuhl, den der Trainer herangeschoben hatte.
„Das hat keine Eile. Ich habe ja noch drei Wochen Zeit. Aber ein Bier würde ich jetzt gern trinken.“

Der Autor räkelte sich, schüttelte den Kopf und rieb den verspannten Nacken. Am Schreibtisch einzuschlafen! Und wie seltsam er geträumt hatte ... er konnte sich kaum noch erinnern. Der Bildschirm hatte sich ausgeschaltet.
Was hab ich denn zuletzt geschrieben?, dachte er und streckte die Hand nach der Maus aus.

 

Hey, xadhoom!

Für einen kleinen Augenblick war ich der Welt entrückt
Yeah. Der entrückte Leser ehrt den Autor. Ich fühle mich geehrt.
Die Lösung kann nur lauten: Nie wieder schlafen!
Ich glaub ja, meine Helden scheren sich einen Dreck darum, ob ich schlafe oder nicht.
Füße scharren
Beim besten Willen könnt ich das nicht schreiben. Nein. Not even to please you, James!
Hier
das ist wie Schwimmen oder Radfahren
hast Du es gut verkraftet. :D

Vielen Dank für die Empfehlung!

Lieben Gruß,
Makita.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom