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- Anmerkungen zum Text
Dieser Text ist Teil des Kurzgeschichtenzyklus >oneshortyear<. Man schreibt jedes Monat eine Kurzgeschichte zu einem vorgegebenen Thema. >Böser Wicht< schrieb ich zum Thema: Böses ist Ansichtssache.<
Böser Wicht
Im Wald ist es so laut, dass man nicht einmal die Vögel zwitschern hört. Rechts und links hechten Läufer an Tobias und Luis vorbei. Wurzel zerbrechen unter dem Gewicht der Sportschuhe, die auf alles treten, das sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen kann. Eine Schnecke verliert eine Sekunde später ihr Haus und dann ihr Leben.
»Vielleicht hätten wir einen anderen Weg nach Hause wählen sollen.« Luis weicht einem Läufer aus, der ihn sonst umgestoßen und danach niedergetrampelt hätte.
»Kannst du etwas für dich behalten?«
Luis antwortet nicht gleich. Er weiß, Tobias meint damit nur eines. Dinge, die er schon als kleines Kind in Gut und Böse einzuordnen versucht hat. Gute Geheimnisse behält man für sich. Ein gutes Geheimnis ist, dass seine Schwester seit Wochen schwanger ist. Ein gutes Geheimnis ist, wenn man heimlich verliebt ist oder wenn man etwas gefunden hat und es niemand wissen soll. Luis ist ein Jahr jünger, einen Kopf größer als Tobias und immer noch ganze vierundvierzig Wochen davon entfernt, endlich ein Teenager zu werden.
»Sicher«, sagt Luis und wartet darauf, dass Tobias es ihm beichtet. Kurz ist es ihm egal, was sein Freund ihm sagen will. Vielleicht ist es etwas Gutes. Vielleicht ist es das, worauf er seit Jahren wartet. Luis spürt instinktiv, es ist nichts, worüber er sich freuen wird. Für einen Moment macht es ihn sogar stolz, dass er ihn ausgewählt hat. Dass er es ist, dem er sich anvertraut. Dann krampft sich sein Magen zusammen. Schlechte Geheimnisse muss man weitersagen. Man muss einfach. Denn wenn man es nicht tut, dann versinkt man immer mehr im Sumpf der Lügen.
Tobias sagt nichts.
»Nun sag schon.«
»Ich sage es nicht, ich zeige es dir.«
Tobias streckt seine Hand nach hinten. Luis wartet einen Moment, dann nimmt er die Hand seines Freundes. Mädchen machen das andauernd. Sie geben sich Küsschen, sie kuscheln in Eckemiteinander und gehen meterweit Hand in Hand. Sogar in der Schule tun sie das. Vor allen anderen und niemand sagt etwas. Wieso müssen Jungs immer gleich schwul sein?
»Ich habe auch ein Geheimnis.« Luis hat es bisher niemanden gesagt, aber schon immer gefühlt. Nie haben ihn Mädchen interessiert. Schon mit fünf war er in Tobias verliebt gewesen und seitdem hat er nie aufgehört, ihn zu lieben. Nicht einmal, als seine Mutter meinte, Liebe sei etwas für Erwachsene. Luis weiß es besser. Gegen Liebe kann man sich nicht wehren. Liebe erfasst einen und lässt einen nie mehr los.
Tobias hört ihm nicht zu. Egal, denkt Luis. Seine Hand in meiner ist doch Beweis genug. Worte sind nicht nötig.
Die Hand seines Freundes zieht Luis scharf nach links. Zu hoch gewachsene Brennnessel schneiden die Haut beider Jungs. Tobias scheint das nichts auszumachen, also hält auch Luis seinen Mund
Nach weiteren hunderten von Metern hält Tobias inne. »Hier ist es.«
Zuerst sieht Luis es nicht. Nicht einmal, als seine Augen den ausgestreckten Arm seines Freundes folgen. Dann kann er etwas unter dem Laub ausmachen. »Sind das …« Weiter kommt er nicht. Turnschuhe ragen unter den Blättern hervor. Turnschuhe kleiner, seine.
»Es war so einfach. Er hat sich fast nicht gewehrt. Ein einziger Schlag und Felix war tot.«
Luis lässt die Hand los, die ihn so sanft gehalten hat. Er tritt drei Schritte zurück. Sein Herz schlägt schneller. In seinem Mund sammelt sich etwas Bitteres. »Nein.« Er will es nicht sehen. Er will es nicht wissen. Er will nur noch eines - weg von hier. Nicht nur weg von diesem Ort, weg aus diesem Leben. Tränen laufen ihn ungewollt und ungebremst die Wangen hinunter.
Tobias schiebt mit seinen Schuhen die Blätter vom toten Körper, bis der Junge nackt vor ihnen liegt.
»Wieso?«
»Ich weiß, was du denkst. Man darf nicht töten. Aber das Böse liegt doch im Auge des Betrachters. Felix ist nie ein guter Mensch gewesen. Er hat doch nichts als Ärger gemacht. Sicher werden uns sogar seine Eltern dafür danken.«
»Nein.« Nein, du weißt nicht, was ich denke. Ich frage mich nicht nur, wieso er tot ist. Ich frage mich auch, wieso du ihn ausgezogen hast. »Er hat doch nie …«
»Er hat unser Leben zerstört. Wenn einer schwul war, dann er. Wir beide sicher nicht. Wie konnte er nur so etwas von uns behaupten. Er war es, der diese Briefe geschrieben hat.«
Nein, hat er nicht, will Luis sagen. Er war es nicht. Felix hat nie jemanden etwas zuleide getan. Er hat keinen der Liebesbriefe geschrieben und ihn mit Luis unterschrieben.
Ich war das, will Luis sagen. Ich liebe dich. Luis ist sich nicht sicher, ob er Tobias noch liebt oder lieben kann. Es gibt böse Geheimnisse, die man für sich behalten muss, und dies ist eines davon. Er wird dieses Geheimnis mit ins Grab nehmen und hoffen, dass es nie jemand herausfinden wird. Morgen wird er alle Liebesbriefe, die er an Tobias geschrieben hat, vernichten. Er wird alles vernichten, das mit Tobias zu tun hat. Sogar die Gefühle, die er seit Jahren für sich behält. Wenn Tobias es herausfindet, dann wird er nicht haltmachen, es wieder zu tun. Luis hat gelesen, wer einmal mordet, dem fällt das zweite Mal leichter. Wie hat er sich nur so täuschen können?
»Was hast du mit der Schaufel gemacht?« Luis ist von sich selbst überrascht, wie ruhig er ist. Wie oft haben sie die Schaufel, die beide einst in diesem Wald gefunden haben, zweckentfremdet und Dummheiten damit angestellt. Tobias muss sie verwendet haben. Er hat gesagt, ein Schlag und …
»Vergraben.«
»Gut. Und jetzt hilf mir.« Mit seinen Händen deckt Luis Felix mit den Blättern zu. Er reißt blattbedeckte Äste ab und drückt sie Tobias in die Hand. Am Ende sieht er nichts mehr von Felix. Alles was von ihm bleibt, ist ein unordentlicher Haufen Äste, Blätter und viel Moos.
Luis nimmt Tobias` Hand. »Komm, lass uns gehen.«
»Danke, dass du mich nicht verraten wirst. Du wirst es doch für dich behalten, oder?«
»Ja.« Einmal ist kein Mal, sagen seine Lehrer immer. Dieses eine Mal wird er für sich behalten.