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Büttenrede

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07.09.2014
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Büttenrede

Frau Tennenhalm fragt, wer Lust hat, zu Karneval in der Klasse eine Büttenrede zu halten. Man darf vorne auf einer Kiste stehen, das Lehrerpult ist die Bütt und Sabine Tibursky soll auf der Blockflöte den Tusch spielen. Ich melde mich begeistert und Frau Tennenhalm ist auch begeistert. Als ich meiner Mutter davon erzähle, ist sie gar nicht begeistert. Sie sagt, sie weiß überhaupt nicht, wie man eine Büttenrede schreibt. Aber ich habe volles Vertrauen in sie und gehe ihr erst mal aus dem Weg, damit sie überlegen kann.
Inzwischen öffne ich im Schlafzimmer den Kleiderschrank und streichle mein Kostüm. Letztes Jahr bin ich als Fee gegangen und das war saukalt. Nach dem Rosenmontagszug war ich die ganze Woche krank und das für ein paar blöde alte Bonbons, die wir hinterher in der Schule für die armen Leprakinder gespendet haben. Die guten Sachen wie Schwämme oder Würste schnappen einem ja meistens die Erwachsenen weg. Dieses Jahr gehe ich als Pinguin. Den Plüsch kann man ausstopfen, das wird schön warm und ich bin bei dem Geschubse auf dem Bürgersteig gut gepolstert.
In der Küche räumt meine Mutter das Geschirr ein, dass es scheppert. Klingt nicht gut. Vielleicht sollte ich Hausaufgaben machen, um die Stimmung zu heben. Als ich meinen Ranzen hole, fällt mir auf, dass mein Turnbeutel fehlt. Mist.
„Ich hab meine Turnsachen wieder liegengelassen, muss ich morgen mal in der Halle gucken“, rufe ich rüber. Kein Schimpfen. Vielleicht hat sie es ja auch gar nicht gehört. Eigentlich wäre das sogar besser. Es ist so still in der Küche. Vorsichtig gucke ich um die Ecke.
Meine Mutter schaut aus dem Fenster, einen Teller in beiden Händen. Sie bewegt sich nicht. „Mutti?“, frage ich vorsichtig. Sie dreht sich in Zeitlupe zu mir und lächelt, aber nicht normal, eher so spinnenhaft. Ich versuche zurückzulächeln.
„So“, sagt sie dann, „ich hab schon mal den Refrain. Pass auf: Und wenn mein Kopf nicht angewachsen wär, den trüge man mir auch noch hinterher.
„Das ist lustig?“, frage ich.
„Ja, das ist sehr lustig.“ Sie kramt aus unserer Kürmelschublade Stift und Block und setzt sich an den Küchentisch.
„Ich weiß nicht“, sage ich und meine Mutter sagt, was anderes fällt ihr aber nicht ein, entweder ich nehme ihre Idee oder ich soll mir selber was ausdenken.
„Na gut“, sage ich schnell, „aber man braucht ja wohl mehr als nur einen Satz.“
Sie starrt mich an. Ihre Lippen bewegen sich. Ich will was sagen, aber sie hebt die Hand und fängt an zu schreiben. Ich hänge mich über den Tisch und versuche auf dem Kopf mitzulesen. Dann trägt sie vor:
Wenn wir freitags Turnen haben,
muss ich Sportbekleidung tragen,
doch o weh am Ende,
komm ich nach Haus mit leeren Händen,
der Beutel ist noch in der Halle,

- was reimt sich denn auf Halle?“
Alle balle.“
„Na ja, das nehmen wir erst mal, vielleicht fällt uns noch was Besseres ein.“ Sie lehnt sich zufrieden zurück und kommt sofort wieder nach vorne. „So, als Nächstes, wie du neulich dein Fahrrad beim Karstadt stehen gelassen hast und zu Fuß nach Hause gekommen bist.“
Als das passiert ist, hat sie nicht so gekichert wie jetzt, weil wir im Dunkeln bei Regen noch mal los mussten, das Fahrrad suchen. Aber nun murmelt sie abwechselnd „Fahrrad“ und „Karstadt“ vor sich hin und währenddessen fällt mir noch ein, wie ich immer den Schlüssel vergesse und bei Müllers klingeln muss, wenn meine Mutter im Geschäft arbeitet. Das wird sie in diesem Zustand vermutlich freuen, und genau, sie nickt fröhlich.
„Und wie du in der Schule immer vergisst, dein Heft zum Nachgucken abzugeben“, sagt sie und mir wird heiß. Ich versteh gar nicht, wie das immer passieren kann. Auf einmal liegt da der Stapel mit den durchgeguckten Heften auf dem Pult und ich kann mich nicht erinnern, wann Frau Tennenhalm gesagt hat, wir sollen die Hefte abgeben. Wo war ich denn bloß, als alle Kinder zum Pult gelaufen sind? Und jetzt liegen da alle Hefte mit lauter Häkchen und „gut gemacht!“ und „Du musst noch mehr üben“, nur meins ist immer noch in meinem Schulranzen, ohne was. Mir wird ganz schlecht. Und schon schwenkt der Blick von Frau Tennenhalm zu mir. „Na, Anna, welches Heft war wohl wieder nicht dabei?“, fragt sie und ich kann mich einfach nicht mehr zusammenreißen. Das ist der allerschlimmste Moment, weil dann immer einer von den Jungs „Heulsuse“ flüstert.
„Das ist überhaupt kein bisschen lustig!“, sage ich zu meiner Mutter.
„Ach, schade, dabei hatte ich so eine gute Idee: Eieiei, mein Heft war wieder nicht dabei!“ Sie kichert albern. Mütter sollten nicht so kichern.
„Das ist eine Sauerei!“, rufe ich.
„Nanana“, sagt sie, „oder - warte: Eieiei, mein Heft war wieder nicht dabei. Das ist eine Sauerei! Nicht schlecht. Das könnten wir mehrmals einstreuen.“
„Sauerei?! So ein Schimpfwort?! Das soll ich nehmen?!“
„Doch, für eine Büttenrede geht das. Fräulein Tennenhalm lacht sich bestimmt kaputt.“
„So“, sage ich, „jetzt hast du mal was vergessen. Sie heißt nämlich jetzt „Frau Tennenhalm“.“
„Hat sie geheiratet? Das wüsst ich aber. Nee, kann nicht sein, dann hieße sie ja anders.“
„Ich hab dir das erzählt! Sie hat gesagt, sie ist ja wohl auch ohne Mann eine komplette Frau. Deshalb sollen wir jetzt „Frau Tennenhalm“ sagen. Hab ich dir erzählt.“
„Aha, kann sein.“
„Und du hast das vergessen!“
„Ja, schon gut. Auch ich vergesse mal was. Zufrieden?“
Ich hätte da gerne noch weiter drüber gesprochen, aber schon hat meine Mutter eine neue Idee:
Mütze, Jacke, Schal,
und Schuhe, ja die auch einmal,
das alles hab ich schon verloren
...“
und ich habe doll gefroren“, sage ich.
„Suuuuuper!“, jubelt sie und ich sage: „besonders an den Ohren!“ Meine Mutter schreibt glucksend mit und jetzt macht es doch ein bisschen Spaß. Wir finden ganz viele Strophen und ich hätte gar nicht gedacht, dass ich immer so viel vergesse.
Mein kleiner Bruder Stefan kommt noch vorbei und sagt: „Außerdem vergisst du immer, wie doof du bist.“ Und ich sage: „Hauptsache, ich vergesse nicht, wie doof du bist!“ Aber unsere Mutter hört gar nicht hin, sie schreibt und schreibt.

Ich muss sagen, die Rede kommt sehr gut an. Ich schwitze zwar schrecklich in meinem Pinguinkostüm, aber Frau Tennenhalm lacht, die Kinder lachen und als ich zum dritten Mal rufe: „Eieiei, mein Heft war wieder nicht dabei!“, schreien alle: „Und das ist eine Sauerei!!!“ Hinterher fragt Thorsten Müller sogar, ob er ein Autogramm haben kann. Und er leiht mir seinen Füller, weil ich meinen gerade nicht finde.

 

Friedel, wo befinden wir uns gerade? Du zitierst aus der Geschichte von @Seth Gecko . Soll das so, oder hat es was mit der närrischen Runde zu tun? :anstoss:

Ohje - dat is arch ernüchternd und ich will nicht alles auf den Kinderkarneval schieben ...

Kannstu mir (hier sacht man allerdings "mich") verzeihn,

liebe Chutney?

Soll nie wieder vorkommen ...
bis zum nächsten Mal ...

Friedel

 
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Hallo @Chutney ,

es wurde ja eigentlich alles erwähnenswerte bereits erwähnt und ich schließe mich den Löbereien gerne an, auch wenn Karneval inzwischen schon durch ist.

Ich melde mich begeistert und Frau Tennenhalm ist auch begeistert.
Ein Satz, der in seiner Schlichtheit begeistert!
Ich hätte da gerne noch weiter drüber gesprochen, aber schon hat meine Mutter eine neue Idee:
Mütze, Jacke, Schal,
und Schuhe, ja die auch einmal,
das alles hab ich schon verloren
...“
und ich habe doll gefroren“, sage ich.
„Suuuuuper!“, jubelt sie und ich sage: „besonders an den Ohren!“ Meine Mutter schreibt glucksend mit und jetzt macht es doch ein bisschen Spaß.
Das ist so ein schöner Wendepunkt: Wird vorher noch mütterlich einseitig ein Finger in die Wunde gelegt, haben an den Situationen und inzwischen mit viel weniger hoch erhohenem Zeigefinger beide ihren Spaß.
aber Frau Tennenhalm lacht, die Kinder lachen und als ich zum dritten Mal rufe: „Eieiei, mein Heft war wieder nicht dabei!“, schreien alle: „Und das ist eine Sauerei!!!
Cooler Erfolg für sie, und auch ein bisschen Vorbeugung. Wenn sie - was zu 100% passieren wird - das nächste Mal ihre Hefte oder sonstwas vergisst, welche Lehrerin kann da bei so viel lustiger Selbstkritik in Zukunft noch böse sein?

Gerne gelesen :-)

Eva

 

Hallo @Eva Luise Groh,

vielen Dank fürs Reinschauen und fürs Lob. Du wirbelst hier ja gerade ordentlich durch alle Geschichten, wie schön!

Das ist so ein schöner Wendepunkt: Wird vorher noch mütterlich einseitig ein Finger in die Wunde gelegt, haben an den Situationen und inzwischen mit viel weniger hoch erhohenem Zeigefinger beide ihren Spaß.
Ja, das freut mich, dass das für dich aufgeht, der Übergang, bis beide im Flow sind.
Cooler Erfolg für sie, und auch ein bisschen Vorbeugung. Wenn sie - was zu 100% passieren wird - das nächste Mal ihre Hefte oder sonstwas vergisst, welche Lehrerin kann da bei so viel lustiger Selbstkritik in Zukunft noch böse sein?
:lol: Ja, das ist noch ein neuer Aspekt.

Liebe Eva, vielen Dank nochmal und einen guten Start in die Woche
wünscht Chutney :)

 

Hallo @Katta,
da sind wir ja beide Mecklenburger Deerns. So trifft man Landsleute, Mein Großvater in Malchin hat übrigens ausschließlich Platt gesprochen, weshalb ich ihn oft nicht verstanden habe. Ich komme aus der Gegend um Greifswald.
Karnevalserfahrungen habe ich bei uns nicht gemacht. Ich habe aber mal nach der Heimatstadt eines Bekannten von mir, Barth, gegoogelt, und dort wird doch tatsächlich ein Karnevalsumzug gemacht.
Bei uns in der Gegend gibt es ja nicht viele der schreibenden Zunft. Aber nicht weit weg von meinem Dorf kommt Judith Schalansky her, viele Schilderungen aus "Der Hals der Giraffe" erinnern mich sehr an meine Heimat, und aus Greifswald, das vierzig Kilometer weit entfernt ist, Wolfgang Koeppen und Hans Fallada. Ist ja schon etwas. Von dem letzteren habe ich alles gelesen, von Wolfgang Koeppen gar nichts. Da bin ich nicht reingekommen.
Gruß Frieda

 

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