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Bartlet – Crompton Valley - Jackson

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02.01.2003
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Bartlet – Crompton Valley - Jackson

Bartlet – Crompton Valley - Jackson

Amy kam durch die Tür. Draußen schneite es, der erste Schnee des noch jungen Winters. Ihre sonst so glatten Haare standen leicht ab. Blonde Strähnen hingen an ihren Wangen. Mit großen Schritten näherte sie sich mir. Ich stand, aufgrund ihres Erscheinens, wie festgewurzelt an einer Stelle. Es kam mir so unwirklich vor. Sie baute sich vor mir auf. Sie war nicht kleiner als ich. Im Gegenteil, wenn sie hohe Schuhe trug, konnte ich ihr nicht einmal mehr in ihre grünen Augen blicken. Doch trotz ihrer Größe wirkte sie immer so leicht für mich. Wie eine unscheinbare Elfe. Ihre Bewegungen waren weich und koordiniert. Sie hatte nichts von den anderen schlaksigen großen Frauen, die meist unbeholfen wirken und denen man eine gewisse Tölpelhaftigkeit unterstellen könnte, wenn man boshaft wäre. Sie sagte, ich solle mal die Augen schließen. Ich erwartete einen Kuss. Keinen Zweifel, gleich müsste sie mich küssen. Ich schloss also die Augen. Hinter meinen geschlossenen Augen sah ich bunte Lichtblitze. Ein Muster löste das andere ab. Gleich würden meine erwartungsfrohen Lippen ihren sanften Mund spüren. Noch bevor ich mir Gedanken darüber machen konnte, ob ich meine Zunge lieber hinter meinen Zähnen behielt, spürte ich ihren warmen Atem ganz nah an meinem Gesicht. Doch anstatt mich auf den Mund zu küssen, umschlossen ihre Lippen meine Nase. Ihr Atem durchdrang jeglichen Geruch, den ich zuvor in meiner Nase hatte. Sanft umhüllte sie meine gesamte Nase mit ihren Mund. Das war der intensivste, und bei Weitem intimste und erotischste Kuss, den ich jemals bekommen habe. Ich habe Amy danach noch tausende Male küssen können, doch keiner dieser Küsse erreichte je diese entfesselnde und alles vergessene Magie, die dieser eine und erste Kuss bei mir auslöste. Die gesamte Intimität, die sich in diesem Moment auftat, war das Größte an Offenheit und menschlicher Zuneigung, das mir jemals zuteil wurde. Von diesem einen Augenblick an, liebte ich Amy für 39 Jahre. Und auch über ihren Tod hinweg liebe ich sie. Ich habe nie wieder einen anderen Menschen geküsst, nur noch sie.

Die Erinnerungen an diesen Tag im November sind nicht verschwommen. Nicht gegangen, wie so vieles und so viele. Diese Erinnerungen sind das Einzige, was ich noch habe. Das Einzige, was mir von Amy übrig geblieben ist.

Ich stehe an derselben Stelle, an der ich vor über 39 Jahren gestanden habe, im Eingangsbereich des einzigen Bahnhofes in Bartlet, meiner wirklichen Heimat. Dem Ort, an dem ich die ersten 21 Jahre meines Lebens verbracht habe. Die schönsten und langsamsten Jahre meines Lebens. Nichts hat sich hier verändert. Bartlet ist ein kleiner Ort, nichts verändert sich hier schnell, und schon gar nicht in gerade einmal 39 Jahren. Eine Frau betritt die kleine Vorhalle. Ihre roten Haare kleben ihr förmlich im Gesicht. Sie schwitzt. Nein, es schneit nicht, auch Amy wird nicht durch die Tür kommen. Ich gehe auf die Frau zu. Entschuldigung, spreche ich sie an. Ja, antwortet sie unbedarft. Dürfte ich fragen, wie Sie heißen? Ich blicke in ihre hellgrauen Augen. Oh, ja, aber warum, wundernd schaut sie mich an. Ach, wissen Sie, und ich würde ihr am liebsten von Amy erzählen, wie sie mich mit einem Kuss auf meine Nase für immer verzaubert hat. Noch in Gedanken verloren, überhöre ich fast ihren Namen. Sie heißt Charlotte. Ich frage Charlotte noch, ob sie weiß, wann der nächste Zug zurück nach Jackson fährt. Sie weiß es nicht genau, und erzählt mir beiläufig, dass sie nur auf jemanden wartet, um ihn abzuholen. Er müsste mit dem nächsten Zug kommen, aber ob der dann bis nach Jackson fahren würde, kann sie mir nicht sagen. Ich wünsche Charlotte noch einen schönen Tag.

Als der nächste Zug einfährt, entscheide ich mich einfach einzusteigen. Meine Fahrkarte erlaubt mir für den heutigen Tag die Benutzung des gesamten Steckennetzes. Im Zug ist es angenehm kühl. Ich setze mich auf einen freien Platz direkt neben einem Fenster, das halb geöffnet ist. Als der Zug langsam zu rollen anfängt, sehe ich Charlotte. Sie steht eng umschlungen mit einem Mann auf dem Bahnsteig. Beide küssen sich. Charlotte hat die Augen geöffnet und blickt dem Mann beim Küssen auf seine verschlossenen Augen. So verzaubert man niemanden, gute Charlotte, denke ich mir. Doch bevor ich dazu komme, meine Gedanken an Amy zu richten, fragt mich eine helle Stimme nach meinem Fahrschein. Der Schaffner ist ein junger Kerl, sein Bart füllt gut die Hälfte seines unverbrauchten Gesichts. Zu ihm passt diese Stimme nicht, sage ich noch zu mir, als ich ihm meine Fahrkarte reiche. Als er sich schon umdreht, um weiter zu gehen, frage ich, ob dieser Zug bis nach Jackson durchfährt. Da haben Sie aber Glück gehabt, sagt er mit seinem Stimmchen, wir fahren heute zum letzten Mal bis nach Jackson, ab morgen müssen sie in Crompton Valley aussteigen, von dort aus fährt dann nur noch ein Bus die letzten 25 Meilen. Es ist schade, aber die Gesellschaft in Boston meint, die Strecke würde sich nicht rentieren, teilt er mir nüchtern mit. Beim Gehen fügt er noch rasch hinzu, dass sich die Dinge hier zu schnell ändern würden. Ich blicke aus dem Fenster. Die sonnige Landschaft rauscht vorbei. Morgen wird sie ihre Ruhe haben, denke ich mir, wenn der Zug erst einmal nicht mehr fährt. Eigentlich wollte ich ja im November noch einmal Bartlet besuchen, doch wenn der erste Schnee wieder so früh wie vor 39 Jahren fällt, wird der Bus von Jackson nach Crompton Valley bestimmt Schwierigkeiten haben. Dann werde ich halt im Sommer wieder kommen, falls ich dann noch lebe, die Dinge ändern sich ja doch schneller, als ich dachte

 

Hallo DeathRockBoy,

eine schöne, traurige Geschichte. Die Idee, die vergangene Liebe sich quasi in der bald aufgelösten Bahnstrecke spiegeln zu lassen, hat mir gut gefallen.

Nur der Anfang ist mir ein bisschen zu isoliert, zu beziehungslos. Als Leser konnte ich da nicht gleich mitfühlen. Deinem Text nach kannten sich die beiden schon, bevor der Kuss kam, der die Liebe begründete. Trotzdem würde man als Leser gerne wissen, wie die Beziehung der beiden vor dem Kuss ausgesehen hat, und warum sie sich auf diesem Bahnhof trafen. Ein langes Pamphlet würde ich nicht draus machen, aber drei, vier Sätze wären nmM hilfreich, damit der Leser diesen ersten, so wichtigen Kuss besser einordnen kann.

Einzelnes:

Ihre sonst so glatten Haare standen leicht ab. Blonde Strähnen hingen an ihren Wangen.

Wenn die Haare leicht abstehen, können sie nicht an den Wangen "hängen". Außerdem denkt man bei dem Wort "hängen", die Haare wachsen wie ein Backenbart aus den Wangen. Also wäre sowas wie "Nur einzelne Strähnen klebten an ihren Wangen" als 2. Satz besser.


Ich stand, aufgrund ihres Erscheinens, wie festgewurzelt

Bisschen trocken und unbeholfen formuliert. Außerdem, warum lässt ihn nur die Tatsache, dass sie erscheint, so erstarren? Oder ist es ihre Erscheinung, die ihn so reagieren lässt?

Toll die Stelle, wo er einen Lippenkuss erwartet und einen Nasenkuss bekommt.


Dem Ort, an dem ich die ersten 21 Jahre meines Lebens verbracht habe. Die schönsten und langsamsten Jahre meines Lebens.

Toller Satz, schlicht und wahr.


Meine Fahrkarte erlaubt mir für den heutigen Tag die Benutzung des gesamten Steckennetzes.

Klingt mehr wie ein Bahnbeamter. Außerdem ist das nicht wichtig. Wen juckt bei dem Thema schon, ob seine Fahrkarte ausreicht? Zur Not löst er eben im Zug nach. Deswegen würde ich den Satz streichen.

Das Ende ist schön traurig und rundet die Geschichte gut ab, finde ich.

Viele Grüße
Pischa

 
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Hallo,

danke erst einmal für deine Antwort. Du hast völlig Recht. Den Satz mit den Haaren hätte ich wohl anders gestalten können.

Und ob du es glaubst oder nicht, nachdem ich die Geschichte hier herein gesetzt habe, wirklich unmittelbar danach, habe ich gedacht, dass vielleicht ein paar einleitende Sätze über die beiden wirklich angebracht gewesen wären.

Danke für deine anregende Kritik.

MfG,

DRB

 

Hallo DeathRockBoy,

deine Geschichte hat mir gut gefallen, schade, dass sie bisher eher untergegangen ist. Eine Vermutung: das mag am Titel liegen, der ganz im Gegensatz zur Geschichte eher nüchtern und nichtssagend ist. Ich schätze mal, dass niemand hinter ihm eine Zugstrecke vermutet ;)
Auch ich fand die Frau und den Kuss gut beschrieben, auch den Ort selber, die Langsamkeit. Das Bild der unterbrochenen Zugstrecke als Vergänglichkeit fügt sich schön ein.
Ich weiß nicht, ob du was ergänzt hast, aber mir haben die Informationen über die beiden und ihre Beziehung zueinander durchaus gereicht.

Eine Kleinigkeit:

Dann werde ich halt im Sommer wieder kommen, falls ich dann noch lebe, die Dinge ändern sich ja doch schneller, als ich dachte
hier fehlt ein Punkt.

Liebe Grüße
Juschi

 

Hi Juschi,

danke für deine Antwort!! Bin über jede Kritik froh. Ja, leider war die Resonanz etwas wenig. Der Titel war eher so eine Art Notlösung. Mir ist nichts anderes eingefallen.
Habe über die Beziehung nichts mehr hinzugefügt. Schien mir nämlich auch zu reichen. Wollte da nicht zu tief gehen.

Vielleicht hast du die Geschichte ja jetzt ein bißchen nach vorne "gepusht", sodass sie noch von mehreren gelesen und rezensiert wird :) .

MfG,

DRB

 

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