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Bartlet – Crompton Valley - Jackson
Bartlet – Crompton Valley - Jackson
Amy kam durch die Tür. Draußen schneite es, der erste Schnee des noch jungen Winters. Ihre sonst so glatten Haare standen leicht ab. Blonde Strähnen hingen an ihren Wangen. Mit großen Schritten näherte sie sich mir. Ich stand, aufgrund ihres Erscheinens, wie festgewurzelt an einer Stelle. Es kam mir so unwirklich vor. Sie baute sich vor mir auf. Sie war nicht kleiner als ich. Im Gegenteil, wenn sie hohe Schuhe trug, konnte ich ihr nicht einmal mehr in ihre grünen Augen blicken. Doch trotz ihrer Größe wirkte sie immer so leicht für mich. Wie eine unscheinbare Elfe. Ihre Bewegungen waren weich und koordiniert. Sie hatte nichts von den anderen schlaksigen großen Frauen, die meist unbeholfen wirken und denen man eine gewisse Tölpelhaftigkeit unterstellen könnte, wenn man boshaft wäre. Sie sagte, ich solle mal die Augen schließen. Ich erwartete einen Kuss. Keinen Zweifel, gleich müsste sie mich küssen. Ich schloss also die Augen. Hinter meinen geschlossenen Augen sah ich bunte Lichtblitze. Ein Muster löste das andere ab. Gleich würden meine erwartungsfrohen Lippen ihren sanften Mund spüren. Noch bevor ich mir Gedanken darüber machen konnte, ob ich meine Zunge lieber hinter meinen Zähnen behielt, spürte ich ihren warmen Atem ganz nah an meinem Gesicht. Doch anstatt mich auf den Mund zu küssen, umschlossen ihre Lippen meine Nase. Ihr Atem durchdrang jeglichen Geruch, den ich zuvor in meiner Nase hatte. Sanft umhüllte sie meine gesamte Nase mit ihren Mund. Das war der intensivste, und bei Weitem intimste und erotischste Kuss, den ich jemals bekommen habe. Ich habe Amy danach noch tausende Male küssen können, doch keiner dieser Küsse erreichte je diese entfesselnde und alles vergessene Magie, die dieser eine und erste Kuss bei mir auslöste. Die gesamte Intimität, die sich in diesem Moment auftat, war das Größte an Offenheit und menschlicher Zuneigung, das mir jemals zuteil wurde. Von diesem einen Augenblick an, liebte ich Amy für 39 Jahre. Und auch über ihren Tod hinweg liebe ich sie. Ich habe nie wieder einen anderen Menschen geküsst, nur noch sie.
Die Erinnerungen an diesen Tag im November sind nicht verschwommen. Nicht gegangen, wie so vieles und so viele. Diese Erinnerungen sind das Einzige, was ich noch habe. Das Einzige, was mir von Amy übrig geblieben ist.
Ich stehe an derselben Stelle, an der ich vor über 39 Jahren gestanden habe, im Eingangsbereich des einzigen Bahnhofes in Bartlet, meiner wirklichen Heimat. Dem Ort, an dem ich die ersten 21 Jahre meines Lebens verbracht habe. Die schönsten und langsamsten Jahre meines Lebens. Nichts hat sich hier verändert. Bartlet ist ein kleiner Ort, nichts verändert sich hier schnell, und schon gar nicht in gerade einmal 39 Jahren. Eine Frau betritt die kleine Vorhalle. Ihre roten Haare kleben ihr förmlich im Gesicht. Sie schwitzt. Nein, es schneit nicht, auch Amy wird nicht durch die Tür kommen. Ich gehe auf die Frau zu. Entschuldigung, spreche ich sie an. Ja, antwortet sie unbedarft. Dürfte ich fragen, wie Sie heißen? Ich blicke in ihre hellgrauen Augen. Oh, ja, aber warum, wundernd schaut sie mich an. Ach, wissen Sie, und ich würde ihr am liebsten von Amy erzählen, wie sie mich mit einem Kuss auf meine Nase für immer verzaubert hat. Noch in Gedanken verloren, überhöre ich fast ihren Namen. Sie heißt Charlotte. Ich frage Charlotte noch, ob sie weiß, wann der nächste Zug zurück nach Jackson fährt. Sie weiß es nicht genau, und erzählt mir beiläufig, dass sie nur auf jemanden wartet, um ihn abzuholen. Er müsste mit dem nächsten Zug kommen, aber ob der dann bis nach Jackson fahren würde, kann sie mir nicht sagen. Ich wünsche Charlotte noch einen schönen Tag.
Als der nächste Zug einfährt, entscheide ich mich einfach einzusteigen. Meine Fahrkarte erlaubt mir für den heutigen Tag die Benutzung des gesamten Steckennetzes. Im Zug ist es angenehm kühl. Ich setze mich auf einen freien Platz direkt neben einem Fenster, das halb geöffnet ist. Als der Zug langsam zu rollen anfängt, sehe ich Charlotte. Sie steht eng umschlungen mit einem Mann auf dem Bahnsteig. Beide küssen sich. Charlotte hat die Augen geöffnet und blickt dem Mann beim Küssen auf seine verschlossenen Augen. So verzaubert man niemanden, gute Charlotte, denke ich mir. Doch bevor ich dazu komme, meine Gedanken an Amy zu richten, fragt mich eine helle Stimme nach meinem Fahrschein. Der Schaffner ist ein junger Kerl, sein Bart füllt gut die Hälfte seines unverbrauchten Gesichts. Zu ihm passt diese Stimme nicht, sage ich noch zu mir, als ich ihm meine Fahrkarte reiche. Als er sich schon umdreht, um weiter zu gehen, frage ich, ob dieser Zug bis nach Jackson durchfährt. Da haben Sie aber Glück gehabt, sagt er mit seinem Stimmchen, wir fahren heute zum letzten Mal bis nach Jackson, ab morgen müssen sie in Crompton Valley aussteigen, von dort aus fährt dann nur noch ein Bus die letzten 25 Meilen. Es ist schade, aber die Gesellschaft in Boston meint, die Strecke würde sich nicht rentieren, teilt er mir nüchtern mit. Beim Gehen fügt er noch rasch hinzu, dass sich die Dinge hier zu schnell ändern würden. Ich blicke aus dem Fenster. Die sonnige Landschaft rauscht vorbei. Morgen wird sie ihre Ruhe haben, denke ich mir, wenn der Zug erst einmal nicht mehr fährt. Eigentlich wollte ich ja im November noch einmal Bartlet besuchen, doch wenn der erste Schnee wieder so früh wie vor 39 Jahren fällt, wird der Bus von Jackson nach Crompton Valley bestimmt Schwierigkeiten haben. Dann werde ich halt im Sommer wieder kommen, falls ich dann noch lebe, die Dinge ändern sich ja doch schneller, als ich dachte