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Bei Regen und bei Sonne

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30.06.2004
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Bei Regen und bei Sonne

Graue Wolkenberge türmten sich am schwarzen Horizont. Nieselregen fiel auf die Stadt und hüllte sie in einen undurchdringlichen grauen Schleier aus Nebel und Feuchtigkeit. Der Wind pfiff um die Häuser und ließ die Bäume schwanken.

Isabelle fror in ihrer dünnen Strumpfhose und dem knappen Top. Sie hatte sich mit anderen Kameradinnen unter eine Bushaltestelle gezwängt. Hier konnte sie zwar schlecht arbeiten, aber eine durchnässte Prostituierte machte sich nicht gut. Bangend schaute sie in den Himmel.
Wenn es nicht bald trockener wurde, konnte sie den Job vergessen. Ihr Zuhälter, ein Deutscher mit stattlichem Aussehen, hatte sie nur auf Probe. Jasmin, eine Joguslawin wie sie, stand überlegen neben ihr und drehte sich einen Joint. Sie machte den Job schon seit sechs Jahren und war mit allen Wassern gewaschen. Jeder bewunderte sie. Ulla, eine Polin, keine sechzehn Jahre, hatte als einzige schon heute einen abbekommen. Junges Fleisch verkaufte sich einfach besser. Isabelle strich ihren Rock glatt und lehnte sich gegen die Plastikwand. Mit ihren siebzehn Jahren war sie auch noch recht beliebt bei den Männern, aber heute schien es irgendwie nicht zu klappen. Und Olaf, so hieß ihr Arbeitgeber, verlangte 250 € am Tag.
Doch dieses Pensum hatte sie noch nie erreicht. Der Regen prasselte aufs Dach und rann an den Scheiben hinunter. Ein Bus hielt. Niemand stieg aus. „Ob die Leute wohl Angst haben wir könnten sie anmachen?“, überlegte Isabelle, „ kann man uns so ansehen, dass wir einen anderen Job haben als sie?“ Der Bus fuhr weiter. Sehnsuchtsvoll schaute Isabelle ihm nach. Wie gern wäre sie wieder zu Hause, in ihrem vertrauten Russland bei ihrer Familie. Doch sie konnte nicht mehr umkehren. Jetzt nicht mehr.

Endlich, nach über einer halben Stunde, hörte der Regen auf und die Mädchen gingen zu ihren Stammplätzen zurück. Jasmin und Isabelle standen nur knapp zwanzig Meter auseinander. Jasmin hatte den besseren Standort. Ein heruntergekommenes und doch ansprechendes Hotel mit Portier vor der Türe. Isabelle öffnete die obersten Knöpfe ihrer Bluse und hob den Rock ein wenig an. Sie wusste, dass sie das Potenzial hatte, mehr Freier zu machen als Jasmin. Nicht mehr als Ulla, das schaffte niemand, aber doch mehr als Jasmin. Doch die ersten Autos fuhren an ihr vorbei. Auch an Jasmin. Es waren teure Luxusautos und meterlange Limousinen. Reiche Geschäftsleute, die sich ihre Mittagspause versüßen wollten, ohne, dass die Frau zu Hause was davon mitbekam. Nur sehr selten verirrten sie Obdachlose oder brave Familienväter hierher. Wenn ja, dann passierte dies zufällig. Die Obdachlosen kamen nur zum betteln. Dabei besaßen die meisten Mädchen selbst nur die Klamotten die sie auf dem Leib trugen und das Geld, was sie vielleicht bereits verdient hatten. Aber das gehörte nicht ihnen, sondern ihrem Zuhälter. Die Sonne ließ sich durch die dicke Wolkendecke nicht blicken, was allem eine sehr trostlose Stimmung gab. Den Bäumen, den Häusern, den wenigen Grashalmen die sich durch die dunkelgraue Asphaltdecke zwängten. Isabelle dachte sehnsüchtig an zu Hause.

Wenn es in Russland so geregnet hatte, hatte die Mutter die Öllampe angezündet, die Bibel auf den Tisch gelegt und daraus vorgelesen. Mit offenen Ohren und Mündern hatten Isabelle und ihre Geschwister gelauscht. Wie die Schlange Eva dazu brachte den Apfel zu essen, wie Noah die Arche baute und somit die Tiere rettete und wie Gott die Stadt Sodom zerstörte, weil dort alle Menschen so böse und ungläubig waren. Wenn es gewitterte, hatte der Vater sogar Plätzchen aus der großen Weihnachtsdose geholt und Senad, ihr großer Bruder, hatte Tee gekocht. Manchmal hatte sie ihm sogar dabei helfen dürfen. Doch mit einem Schlag wurde alles anders.

„Hallo, schläfst du“, Jasmin rüttelte Isabelle an den Schultern. Als diese darauf nicht reagierte, gab sie ihr eine kräftige Ohrfeige. Isabelle zuckte zusammen und sah in Jasmins kalte Augen. „Olaf sucht dich schon eine ganze Weile, er meint du schuldest ihm einiges.“
Isabelle sah ängstlich die Straße hinab. Doch von Olafs Cabrio war weit und breit keine Spur.
„Er ist jetzt im Hotel. Er wartete dort auf dich“, erläuterte Jasmin und zog das Mädchen mit sich. Vor dem Hotel nahm sie wieder ihren Platz ein und raunte Isabelle zu: „Sei lieb und nett und sag bloß zu allem ja und amen, nur dann kommst du lebend raus.“

Isabelles Knie zitterten als sie am Portier vorbei in die Hotelhalle ging. Hatte Jasmin das ernst gemeint? Aber was hatte sie Olaf getan, wieso störte er sie mitten in der Arbeitszeit? Das war höchst ungewöhnlich für ihn. Isabelle wusste wo die Bar war, Jasmin hatte sie ihr mal gezeigt. Dort verschwand Olaf öfter, schließlich hatte er einige Zimmer hier im Hotel. Auch jetzt saß er auf einem der stoffbezogenen Hocker und trank einen Wodka. Der Raum wurde nur von ein paar nackten Glühbirnen erleuchtet. Hier und dort standen ein paar Tische, an der einen Längswand war eine Bar, mehr war nicht vorhanden. Olaf horchte, als er Isabelles zögernde Schritte hörte. Ihre Stöckelschuhe konnte er unter tausenden erkennen. Da stand sie auch schon neben ihm. „Hallo“, flüsterte sie kaum hörbar und setzte sich neben ihm. „Stehst du wohl wieder auf“, bellte Olaf wütend und erschrocken stolperte Isabelle ein paar Schritte zurück. Ja, so mochte Olaf seine Mädchen. Verschreckt. Ängstlich. Nur noch flüsternd und unscheinbar. Dann fühlte er sich wohl und erhaben.

Isabelle drückte sich in die dunkelste Ecke des Raumes und wartete mit klopfendem Herzen. Olaf bestellte sich noch einen Wodka und hatte ihr den Rücken zugedreht. Sein schwarzer Anzug ließ ihn noch größer erscheinen als er ohnehin schon war. Er flößte einem Angst ein, egal ob man für ihn arbeitete oder nicht. „Ich habe gehört, du träumst statt zu arbeiten. Und das immer.“ Isabelle zögerte mit der Antwort. Sie war zwar nicht immer bei der Sache, aber eigentlich machte sie ihren Job doch gut. „Das ist so nicht ganz richtig“, wagte sie einen Einspruch, „ich träume nicht, ich bin mit den Gedanken immer da. Manchmal sieht es nur so aus als ob ich nicht da wäre.“ Olaf leerte sein Glas und gab es dem Barkeeper zurück. Langsam drehte er sich zu Isabelle um und betrachtete sie aus zusammengekniffenen blauen Augen. Sie blitzten gefährlich. „Du wagst es, mich anzulügen?“ Er war äußerlich sehr ruhig, doch in ihm brodelte es. Isabelle merkte es nicht: „Nein, ich lüge nicht. Ich bin wirklich...“ Olaf erhob sich so rasch, dass der Stuhl umfiel und mit einem lauten Knall auf dem Boden landete. Er war kurz vor dem Überkochen. Er zwang sich zur Ruhe und nahm Isabelle hart am Arm. „Hör mal, wir beide gehen jetzt schön nach oben und erzählen uns ein wenig.“ So wütend hatte sie Olaf noch nie erlebt. Er schleifte sie förmlich die Treppen hoch in den zweiten Stock. Im Zimmer 12 warf er sie aufs Bett und verschloss die Türe. Dann setzte er sich neben sie. Er roch nach Alkohol, Zigaretten und Schweiß. Isabelle drückte sich an die Wand und atmete flach. Wie hatte sie bloß so dumm sein können? Olaf genoss das ängstliche Mädchen. Er mochte solche Mädchen wie Isabelle, aber noch lieber, wenn sie litten. Und das sollte Isabelle. Sie würde schon noch lernen, was harte Arbeit bedeutete. Schließlich hatte er Geld für sie bezahlt. Viel Geld. Genüsslich zog er ein starkes Seil aus seiner Jackettasche. Ja, sie würde es schon noch lernen.


Isabelle fand sich vor dem Hoteleingang wieder. Ihr war kalt, Wasser fiel auf sie herab. Es war dunkel. Ihr Kopf schmerzte und ihr Körper war ihr fremd. Die Glieder wollten ihr nicht gehorchen. Stöhnend richtete sie sich schließlich doch auf. Der Portier war verschwunden, das Vordach über dem Hoteleingang eingefahren. Es regnete und Nebel lag über der Stadt. Langsam stand sie auf. Sie wollte sich nicht erinnern was passiert war. Es war schrecklich gewesen. Ächzend schleppte sie sich zu ihrem Stammplatz unter dem Baum. Dort lehnte sie sich an den Stamm und sank zu Boden. Sie war kraftlos, voller Angst und Trauer. Wieso war es bloß passiert? Was hatte sie getan, dass sie nach Deutschland hatte gehen müssen?


Es war ein schöner Sommertag. Der Himmel blau, kaum Wolken, eine wunderschöne gelbe Sonne. Im Garten tollte Isabelle mit ihren Geschwistern. Sie spielten Fangen und schaukelten um die Wette. Senad war arbeiten und die zwei großen Schwestern halfen der Mutter im Haus. Um halb acht sollte der Vater nach Hause kommen. Doch er kam nicht. Es wurde halb neun, halb zehn, zehn. Die Kleinen lagen schon im Bett und schliefen. Senad war, auf die Bitte der Mutter, zur Firma gefahren wo der Vater arbeitete, und Isabelle wartete mit ihren Schwestern und der Mutter. Bange Minuten. Um halb elf kam Senad wieder. Ohne Vater.
Dafür mit rot verweinten Augen und verschwitzten Haaren. „Vater... ist tot...“, konnte er nur noch stammeln, bevor er zusammenbrach.


Isabelle träumte immer noch von diesem Tag. Denn danach war nichts mehr so gewesen wie vorher. Senad machte nun Vaters Job, die Schwestern wurden Haushaltshilfen bei reichen Leuten, die Mutter ging putzen bei städtischen Einrichtungen. Und Isabelle? Eines Tages kam ein Mann, Olaf, ins Haus. Er erzählte der Mutter eine Lügengeschichte, wie sehr er sie doch bemitleide und wie gerne er der Familie helfen würde. Er wüsste, wie sehr sie Geld bräuchten und wolle ihnen deshalb auch ein faires Angebot machen. Er würde die drittälteste, Isabelle, mitnehmen nach Deutschland, denn dort gäbe es eine Pflegefamilie für sie. Isabelle könne zur Schule gehen und die Mutter würde Geld bekommen. Viel Geld. Die ganze Familie ließ sich von dem reichen, adretten Deutschen um den Finger wickeln. Eine Woche später saß Isabelle schon im Zug nach Deutschland.


Und jetzt saß sie hier, unter dem Baum, auf hartem Boden, regennass und frierend. Vergewaltigt, vergessen. Wie ein Hündchen, das nicht mit in den Urlaub kommen sollte kam sie sich vor. Isabelle weinte. Der Regen vermischte sich mit Salzwasser und floss in Bächen von ihren Wangen. Olaf hatte sie mit einem Messer bedroht und ihr Wunden zugefügt. An Beinen und Armen klebte getrocknetes Blut. Da tippte sie jemand an der Schulter. „Hey Isa, komm mit zu mir“, flüsterte eine bekannte Stimme. Es war Jasmin. Sie trug nun Hose und Regenjacke. Sie sah aus wie viele Mädchen in ihrem Alter. „Komm ruhig mit, Rafael wird dir nichts tun. Er ist zwar auch ein Zuhälter, aber wenn du den Job nicht machen willst, dann hilft er dir einen neuen zu finden, so fair ist er.Du wirst schon sehen, es wird alles wieder gut.“ Vertrauensvoll nahm Isabelle Jasmins Hand und zusammen gingen sie die Straße hinab.

 

Ungern störe ich mich an der Realität, die in einer Geschichte entworfen wird. In diesem Fall aber, die Geschichte ist ja unter "Alltag" gepostet, habe ich dann aber doch Bedenken: Es erscheint mir sehr seltsam, daß der Zuhälter Olaf seine Mädchen persönlich in Rußland einkaufen geht. Auch, daß die Protagonistin nicht weiß, welche Zukunft er ihr bieten wird, halte ich für merkwürdig. Aber gut, ich kenne mich da nicht aus.

Ich denke, der Text würde sich in der Rubrik "Gesellschaft" besser machen.

Der Text braucht meiner Ansicht nach noch etwas Arbeit, vor allem, was die Psychologie der Protagonistin angeht. Sie erscheint mir dann doch ein wenig einfach gestrickt. Sie macht nicht den Eindruck, als habe sie sich an ihren Beruf schon gewöhnt, also sollte das thematisiert werden. Die Gedanken beispielsweise, die sie sich über ihre Freier macht.

Vorschläge/ Detailanmerkungen:

  • "Doch die ersten Autos fuhren an ihr vorbei. Die meisten auch bei Jasmin." - Soll das heißen, daß einige bei Jasmin hielten? Zudem sollte das 'bei' im zweiten Satz vermutlich auch ein 'an' sein.
  • "ohne das die Frau zu Hause was davon mitbekam." - 'ohne, dass [...] etwas davon'
  • "Nur sehr selten verirrten sie Obdachlose oder brave Familienväter hierhin." - 'verirrten sich'; auch denke ich, sollte am Ende 'hierher' stehen
  • "Den Bäumen, den Häusern, dem wenigen Grashalmen" - 'den wenigen'
  • "Sein schwarzer Anzug ließ ihn noch größer erscheinen als er schon war." - 'erscheinen, als er [+ohnehin?]'
  • "Sie wollte sich nicht erinnern was passiert war." - 'Sie wollte sich nicht an das erinnern, was gerade passiert war.'
  • "Wie ein Hündchen, das nicht mit in den Urlaub kommen sollte kam sie sich vor." - 'sollte, kam'; Eine Umstellung wäre vielleicht besser.
  • "Komm ruhig mit, Rafael wird dir nichts tun." - Wer ist denn Rafael? Ein neuer Zuhälter?

 

auf Wunsch der Autorin nach Gesellschaft verschoben.

hi Leana, nur kurz: zum einen hat mich die Geschichte mit ihren Details berührt, zum anderen entspricht sie mehr oder minder genau dem, wie man sich Prostitution und Frauenhandel veorstellt. Familie überredet, halbes Kind gekauft mit falschen Versprechungen, Prostitution. Insgesamt bietet die Geschichte keinen neuen Aspekt, ist aber durchaus gut und flüssig geschrieben.

schöne Grüße
Anne

 

Danke Maus. :D
Ich denke es muss nicht immer was neues sein, früher oder später wiederholt sich vermutlich eh alles. Vielleicht.

 

Hallo Leana222,

mir hat deine Geschichte gut gefallen.

Ich bin mir zwar auch nicht sicher, ob das mit den Zuhältern so abläuft, auch der Betrag von 500 €, den sie an den Zuhälter abdrücken muss, erscheint mir für eine "Straßennutte" recht hoch, aber da kenne ich mich wirklich nicht aus.

Ansonsten hast du schön und einfühlsam erzählt...

Natürlich bedienst du dich mancher Klischees, doch das tut der Geschichte meiner Meinung nach keinen Abbruch.

Kompliment auch zu deinem flüssigen Erzählstil!

Bella

 

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