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Ben liebt Anna

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23.11.2003
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Ben liebt Anna

Wie leicht und sorgenlos die Regentropfen vom Himmel fallen - vom Wind verwirbelt und doch völlig frei...
fallen so lang bis sie schließlich mit einem leisen Knall auf sein Dachfenster prallen und von dort aus ihre Reise weiter fortsetzen - ein ewiger Kreislauf, sie werden immer wieder zu ihm kommen und ans Fenster klopfen, aber vielleicht ist er nächstes Mal schon nicht mehr da.
Am liebsten würde Ben mit ihnen reisen, egal wohin, nur weg von hier - er würde nie wieder etwas tun oder sagen müssen, könnte alles mögliche erleben und sich an der Welt erfreuen, ohne sich über irgend etwas Gedanken machen zu müssen.
Ein Schauer durchfährt ihn und sofort ist er wieder hell wach, die schönen Träume sind dahin und er findet sich wieder auf seinem dunklen Ledersofa in der Ecke seines kleinen Zimmers, dort wo er noch vor zehn Minuten gewesen war,
bevor er auf die Reise ging.
Seine traurigen Augen schweifen über sein zerwühltes und verschwitztes Bett, am Boden entlang vorbei an seinen hellen Jeans und den zerdrückten Bierdosen. Mit stechendem Schmerz hält er bei seinen Stiefeln inne, bis er den quälenden Druck in seiner Brust nicht mehr ertragen kann, den sie auslösen. Er hasst sie. Sofort gräbt er sich tiefer in sein Sofa, um sich darin zu verstecken wie ein kleines Kind. Hohl schaut er nun wieder in den leeren Raum, versucht krampfhaft nicht nachzudenken.

Ihm gegenüber war ein kleines, altes und schon leicht verfallenes Häuschen, in dem seit er denken konnte keiner mehr gewohnt hat. Es war an einem Mittwoch um 12 Uhr und Ben versuchte sich seit einer halben Stunde aufzuraffen. Vom Hunger getrieben, schwankte er schließlich zur Tür, um das Haus nach Essbarem zu durchsuchen, als sein Blick von einem blonden Haarschopf eingefangen wurde, der gerade das kleine Häuschen verlies.

Es ist ein Uhr, oder vielleicht auch halb zwei, das weiß Ben nicht so genau, er hat aufgehört der Uhr zu folgen, deren Zeiger so langsam über das Ziffernblatt kriechen, dass er Angst hat, sie könnten vor Schwäche stehen bleiben. Mit steifen Fingern greift er nach der mit kaltem Cafe gefüllten Tasse und trinkt den Rest - bloß nicht einschlafen, denn dann wären da sofort wieder diese grausamen Träume, die ihn die ganze Nacht verfolgen und so lange nicht in Ruhe lassen, bis er schweißgebadet aufwacht. Jedes Mal blickt er dann mit gehetztem Blick umher, versucht die feindliche Dunkelheit seines Zimmers zu durchdringen und lauscht angestrengt den Geräuschen der Nacht, während er versucht seinen schnellen, hehelden Atem unter Kontrolle zu bringen.

Mit Mädchen hatte Ben noch nie viel zu tun gehabt, wenn er ehrlich war, musste er sogar zugeben, dass er Angst vor ihnen hatte - er konnte nicht etwa so wie Tobias oder Philipp mal locker auf eine zugehen, meistens brachte er nicht mal ein Wort heraus, wenn eine in der Nähe war.

Ben hatte nie wirklich viele Freunde gehabt, jedenfalls keine richtigen - er hatte sich immer versucht an andere dranzuhängen - war mal hier und da mitgegangen, wurde aber nirgendwo richtig aufgenommen. Um seine Einsamkeit zu überwinden, schuf er sich als Kind oft imaginäre Freunde, die dann mit im sprachen und auch immer da waren. Helden aus dem Fernseher oder Comics tummelten sich da neben von ihm perfektionierten Videospielfiguren - Ben hatte eine blühende Fantasie und lies sie alle zum Leben erwecken. Mehr und mehr überlies er ihnen seine Entscheidungen, kämpfte seine seiner Meinung nach feige eigene Persönlichkeit nieder und war vollkommen davon überzeugt, selbst mal ein Superheld zu werden.
Freunde bekam er dadurch aber auch nicht.
Bis er schließlich eines Tages auf Tobias traf, auf Marko, Daniel und Philipp, zukunftslose Alkoholiker, deren Daseinsbegründung ihrer Meinung nach in der Wiedererschaffung des Dritten Reiches bestand, für Ben aber wurden sie zu seinen neuen Helden, zum ersten Mal fühlte er sich wohl, bei anderen Menschen zu sein. Nun sah Ben einer glücklichen Zukunft entgegen, mit 17 Jahren schien sein Leben nun so richtig zu beginnen. Von Tag zu Tag fühlte er sich in seiner kleinen Wohnsiedlung mehr geachtet und falls ihn da mal einer schief anguckte, musste er das nur mal Tobias stecken, für den es unerträglich schien, wenn ein Mitglied seiner kleinen SS-Armee beleidigt wurde.

Anna, so hieß - wie Ben später erfuhr - das lebensfrohe Geschöpf unter den langen blonden Haaren vom Nachbarhaus, war das erste reale weibliche Geschöpf, das ihn ernsthaft interessierte. Oft konnte er sie durchs Fenster beobachten und manchmal sah er sie abends auch an ihren eigenen Fenstern vorbeieilen. Selbst als ihr Licht schon ewig aus war beobachtete er weiterhin, immer in der Hoffnung, sie würde nochmals aufstehen müssen, vielleicht weil sie etwas vergessen hatte oder noch mal aufs Klo müsste.
Schon zu diesem Zeitpunkt hatte Ben ein inniges Verhältnis zu ihr aufgebaut - dazu musste er noch nicht mal mit ihr gesprochen haben, er fügte sie einfach von sich aus in sein Leben ein und malte sich dabei alle möglichen Lebenssituationen aus, die er zusammen mit ihr erleben wollte.
Anna grüßte Ben. Sie fing damit an, als sie sich auf dem Gehsteig vor ihrem Haus begegneten - einfach so. Ben hatte sie natürlich schon längst bemerkt, er verfluchte es heimlich gerade jetzt weggegangen sein zu müssen. Immer näher kam das strohblonde, leicht auf und ab wippende Mädchen an ihn heran. Angestrengt überlegte er, wohin er blicken könne, um sie nicht direkt anschauen zu müssen.
- Hi - sagte sie und instinktiv blickte er auf zu ihren fröhlichbunten Regenbogenaugen, die jegliche Arroganz vermissen ließen, wie er sie bislang bei Mädchen kennen gelernt hatte. Im Nachhinein wusste Ben nicht mehr was er geantwortet hatte, oder ob er überhaupt irgendetwas gesagt hatte, denn vermutlich hatte er lediglich etwas Unverständliches vor sich hin gestottert.
Ben kam sie vor wie ein kleiner Engel, ihm wurde schwindelig, wenn er sie beobachtete – es brachte ihn sofort in innere Wallung und ihm wurde unheimlich warm im Bauch – und sie kam im immer näher.
Er schaffte es sich mit ihr zu unterhalten, natürlich war er da gerade betrunken, aber es schien ihr nicht mal etwas auszumachen – er gewann von Tag zu Tag mehr Selbstbewusstsein und überlegte, wie er es zustande bringen sollte, sie mal einzuladen, sie zu berühren oder die ganze Nacht neben ihr liegen zu dürfen.
Wie sehr das Leben von Zufällen abhängt, falls es solche überhaupt wirklich gibt…
Oder vielleicht ist ja alles nur ein großer Plan, ein Roman der vor x-Jahren geschrieben wurde, in dem wir unbewusst die vorgeschriebenen Rollen einnehmen und uns selbst einreden frei handeln zu können…
Nachdem Ben und seine 4 Superhelden zwei Flaschen Schnaps gekillt hatten fing Tobias wieder einmal mit SS-Romantik an, erzählte wie schön und gut doch damals alles war.
Von der dritten Flasche schien Ben das meiste abbekommen zu haben. Die vierte leerte sich und Tobias begann zu lallen, während er von National-befreiten Zonen sprach.
Nun redeten sie alle auf Ben ein, sie können es nicht dulden – ihr schönes Wohngebiet sei beschmutzt. Obwohl er nun schon längst nicht mehr so klar bei Sinnen war, bemerkte er, dass sich da etwas zusammenbraute, was er ganz und gar nicht wollte. Ben versuchte angestrengt herauszufinden, von was die da redeten.
Ein kurzer Stich in seinem Kopf, er schloss kurz die Augen – jemand schrie – Tobias?
Ben öffnete die Augen – sie waren weg, alle vier und die Tür war offen. Das flaue Gefühl im Magen - er kroch die Treppe runter, zur Haustür hin. Durch sein verschleierten Blick sah er seine vier Freunde auf der anderen Straßenseite. Ihr Schweiß glitzerte im Mondlicht während sie mit ihren schwarzen Stiefeln auf das tschechische Mädchen eintraten, auf seinen kleinen blonden Engel mit den fröhlich-hübschen Augen. Annas Körper zuckte unter den Tritten, die sie ununterbrochen trafen. Sie versuchte sich schützend zusammenzukrümmen, doch schwere Stahlkoppen gruben sich immer wieder aufs Neue zu ihr vor und fanden ihr Ziel. Mit einem letzten Aufbäumen hob Anna ihren Kopf und zum letzten Mal trafen sich ihre Blicke.
Ben schreckt auf und kehrt in seine kleine Welt zurück, die er seitdem nicht mehr verlassen hatte, in der er immer mehr zu einem psychischen Wrack verkommt, die gelegentlich Polizisten betreten, oder seine Mutter. Doch dann ist er wieder allein.
Ben steht auf und geht zur Tür. Es regnet noch, aber die Geräusche am Fenster kommen nicht vom Regen. Schon bevor er sich zum Fenster dreht, weiß er, was da ist. Anna schaut herein, ihre toten Augen blicken ihn vorwurfsvoll an.
Es ist der Blick, der ihn nie wieder verlassen wird.

 

Hallo Halbkreis

Ich habe deine KG gelesen und sie gefällt mir gut. Ich finde, du hast die Spannung gut aufgebaut, mich als Leser gut in die Irre geführt mit den blonden Haaren und der Schluss war brutal, aber gut und (für mich) nicht vorhersehbar.
Ich habe mir schon gedacht, dass sie irgendeine wichtige Rolle spielen wird, aber nicht in diese Richtung.

Kompliment! Für mich eine gute KG, gekonnt aufgebaut und sprachlich flüssig und rund.

Weiter so!

Lieber Gruss
Muchel

 

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