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Beschneidung

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15.04.2002
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Beschneidung

Die Sonne von Cisah tränkte die Ebene mit kaltem Rot, als Sinja sie durchquerte, um sich auf ihre Beschneidung vorzubereiten. Barfuß trabte sie über die scharfen Steine der Betäubung, tapste durch den schlammigen Bach der letzten Erinnerung und erreichte den Fuß des runden Hügels der Jin Sagi. Als sie ihn elfmal umrundet hatte, was der Anzahl ihrer Sommer entsprach, stand plötzlich Kivil vor ihr. Er war der Sohn eines Jin Sagi. Damit hatte er das Privileg, von der Beschneidung verschont zu bleiben.
Sie entbot ihm den angemessenen Gruß, indem sie ihm den Rücken zu wandte. Sein Grinsen konnte sie spüren wie seine Berührung an ihrem Rückgrat, als er sie ansprach: »Warm, stark, regt dein Hinten mich.«
Sinja konnte den Atem des Jungen riechen.
Die Zeit des Ewigen Himmelsgrau.
Das Kommen der Jin Sagi.
Die Moral der Sternenfahrer.

Aus unzähligen Geschichten kannte Sinja die Jin Sagi. Ihr Volk war voll Dankbarkeit für ihr Erscheinen.
Kivils Hände wanderten Sinjas Rücken hinunter dorthin, wo es kribbelte. Sie erschauerte und zog sich von ihm zurück. Er spuckte aus. »Jakk! Aber, nun, bald, jetzt fast, bist mein du.«
Angst stieg in Sinja hoch, und sie ballte die Fäuste, um ein Erzittern zu unterdrücken. Nein, sie würde keine Schwäche zeigen. Und doch war Bitterkeit in ihrer Stimme, als sie dem anderen über die Schulter zuwarf: »So will es das Gesetz der Sterne, das ihr uns überbracht habt.«
»Nur, ein Kind, das nur existieren darf, du, damit du wächst, um eines Tages kein Kind zu sein.« Sinja hörte, wie der Junge sich von ihr abwendete. Er sagte noch: »Bald, ist dein Phadiga entfernt, du wirst gehört.«
Aber dann, dachte Sinja, werde ich nicht mehr sprechen wollen. Als sie wusste, dass der Jin Sagi weit genug entfernt war, liefen Tränen über ihr Gesicht.
Das Gesetz der Sterne hatte viel Gutes und Frieden nach Cisah gebracht. Aber musste den Kindern dazu wirklich das Phadiga weggeschnitten werden?
Die Frage eines Kindes, sagten die Erwachsenen. Die Antwort lautete, dass das Gesetz es vorschrieb. Und das Gesetz war gut.
Ist es das wirklich?
Für mich nicht
, entschied Sinja. Das Ritual wird ohne mich stattfinden.

Während sie auf der Flucht war, pflückte Sinja hier und da einige Goiala-Beeren. Am Abend musste sie lange rasten, weil ihre Füße bluteten. Sie wusste nicht, wo sie war, denn nie zuvor hatte sie Kunjon verlassen.
Nie war ich so weit weg von zuhause.
So weit weg vom Hügel der Jin Sagi.

Am nächsten Morgen erreichte Sinja einen breiten Fluss. Sie konnte nicht schwimmen, also blieb ihr nichts anderes übrig, als dem Gewässer zu folgen. Am Ufer wuchsen reife Pratteln, die sie unterwegs in sich hinein stopfte.
Als die Sonne am höchsten stand, folgte sie einer Biegung des Flusses. Erschrocken blieb sie stehen, und ließ sich gleich darauf hinter einen Busch fallen. Da war der Hügel der Jin Sagi.
Aber es konnte nicht derselbe sein. Sie war zwei Tage gewandert, und sie war gewiss nicht im Kreis gelaufen.
Sinja überlegte. Ein Hügel, kantig und grau. Aber ich bin weit von Kunjon weg. Es muss ein anderer Hügel sein.
Die Jin Sagi hatten die Macht über die ganze Welt. Überall, wo ihre Hügel standen. Also standen ihre Hügel überall.
Auf der ganzen Welt gibt es Jin Sagi. Und auf der ganzen Welt gibt es Jungen und Mädchen wie mich, die vor ihrem Phadiga Cath davon laufen. Ich muss sie finden. Bei ihnen werde ich in Sicherheit sein.
Vielleicht waren sie auf der anderen Seite des Flusses. Sinja sah auf das träge fließende Wasser hinab. Es sah nicht besonders tief aus. Vielleicht konnte sie einfach hindurch gehen. Solange ihr Kopf aus dem Wasser reichte, würde sie atmen können.
Mit klopfendem Herzen näherte sie sich dem Wasser. Sorgfältig hielt sie Ausschau nach den flachsten Stellen. Schon waren ihre Füße nass und kalt. Als sie zurück sah, lag das Ufer schon weit hinter ihr. Es ging leichter, als sie gedacht hatte. Plötzlich trat sie auf einen glitschigen Stein und fiel der Länge nach ins Wasser. Es war ziemlich kalt, aber sie lachte über ihr Ungeschick und nahm sich vor, besser achtzugeben. Nach zwei Schritten wurde das Wasser tiefer. Es reichte ihr bis zu den Knien, dann bis zu den Oberschenkeln, dann bis zum Bauch. Sinja ächzte, denn das Wasser drückte gegen sie und versuchte, sie umzuwerfen. Unbeirrbar suchten ihre Füße weiter nach Halt. Sie war schon fast bis zur Mitte und war überzeugt, das schlimmste überstanden zu haben. Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie ihr Gewicht verlagerte. Der Stein, auf dem sie jetzt stand, gab nach. Sie verlor das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen. Plötzlich war ihr Gesicht unter Wasser. Verzweifelt suchte sie nach Halt. Ihre Hände peitschten das Wasser. Es schwemmte sie fort. Unter ihr war nichts mehr. Sie keuchte, schluckte Wasser. Sie schloss die brennenden Augen. Sah nichts mehr.

Sinja lag auf dem Canh Cath. Sie war nackt, wie es das Ritual erforderte. Sie konnte sich nicht bewegen. Ihre Glieder gehorchten ihr nicht.
Sie konnte nur hinauf zum Himmel sehen, bis ihr die Augen tränten.
Sie zitterte. Versuchte, die Zuschauer um Hilfe zu bitten, konnte sich nicht rühren. Niemand wollte ihr helfen. Sie lag auf dem beißend kaltem Metall, und es schien ihr Wärme, Mut und Stolz zu entziehen.
Ein blau gewandeter Jin Sagi sprach zu den Zuschauern, erzählte von den Rechten und Pflichten der Erwachsenen. Von den Geschenken der Jin Sagi. Vom Gesetz der Sternfahrer. Vom Glück der Cisah, dass die Jin Sagi gekommen waren. Und von der Beschneidung, denn nur ohne die Last des Phadiga könne das junge Mädchen zu einem starken, wertvollen Mitglied der Gesellschaft heranwachsen.
Das Canh Cath summte und fuhr einen stählernen Arm aus, dessen mit Spitzen und Klammern besetzte Hand sich über Sinjas Körper erhob und dort verharrte. Sinja liefen Tränen über die Wangen.
Das Summen des Arms des Canh Cath war wieder da. Sie spürte, wie sich die kalte Hand zwischen ihre Lippen schob. Wie ein Hebel öffnete die Hand ihren Mund, ohne dass sie es verhindern konnte. Der Stahl fuhr über ihre Zunge, füllte ihren Mund völlig aus, drang weiter in sie vor, bis er durch ihren Rachen ihre untere Schädeldecke erreicht hatte. Ein heftiger Druck gegen ihren Kopf entstand, und ein Vibrieren ließ sie erschauern. Ihr ganzer Kopf dröhnte. Der Schmerz war wie Feuer. Sie schmeckte Blut. Ihr eigenes Blut.
Den eigentlichen Moment bekam sie nicht mit. Aber als das Canh Cath ihr Phadiga entfernt hatte und sich aus ihrem Kopf zurückzog, fühlte sie sich leicht.
Das Gefühl kehrte in ihren Körper zurück, und zwei Frauen mit hellblauen Kleidern halfen ihr, aufzustehen. Sie stützten sie, als sie vor den Zuschauern stand, die sie in ihrer Gemeinschaft willkommen hießen.
Sie sah die Schar der Erwachsenen, die den Jin Sagi seit Jahren willenlos gehorchten, so wie sie in Zukunft auch.

 

Das ist eine Art SF, wie ich es wirklich mag!
Allerdings finde ich, die Anspielung nicht deutlich genug. Du sagst es zwar dann, aber es sollte sich ja eigentlich aus der Geschichte ergeben. Zu viel kann ich interpretieren, das ich am Ende keinen klaren Gedanken fassen kann a la "Das war jetzt eine tolle Geschichte mit einem Statement über..."

Ansonsten habe ich den anderen Kritiken nichts mehr hinzuzufügen.

Es grüßt,
Devika

 

Hm.. recht überzeugt hat mich deine Geschichte nicht, werter Uwe Post.

Sprachlich holpert es einige Male. (Tränen laufen durch das Gesicht?? Zuviele Passivkonstruktionen, bzw. zu oft sich der Vorvergangenheit bedient)
Aber das ist zu verschmerzen, denn es gibt auch ausgesprochen klasse beschriebene Stellen. Z.b. die fast durchquerung des Flusses. Und das gleicht das Ganze sprachlich wieder aus.

Was mir aber fehlt ist 1. die Charakterisierung der Dame. Sie ist blass, austauschbar. und 2. fehlt mir ein guter Plot. (es muss nicht mal genial sein.)

Eine Frau flieht vor ihrer Beschneidung, auf ihrer Flucht verunglückt sie und findet sich auf Canh Cath wieder und wird beschnitten. Das ist arg wenig.

Gruß
Gabriel

 

Hallo Uwe Post,
auch mir hat deine Geschichte nicht wirklich gefallen. Zum Einen, weil ich auch der Meinung bin, das der Bruch Fluss und Beschneidung viel zu sehr ein Bruch ist, kein guter Übergang. Zum Zweiten, deine Absicht die hinter der KG steht ist eine gute Idee, dass aber mit dem Thema Beschneidung zu verbinden, finde ich ehrlich gesagt ein wenig geschmacklos. Dieses Thema gehört meiner Meinung nach nicht in die Kategorie Sience Fiction, sie ist für viel zu viele Frauen oder besser gesagt Mädchen harte Realität. Und ich empfinde es als einen Fehlgriff dieses Thema für deine Geschichte zu nutzen. Denn es ist auch ein sehr sensibles Thema und mir hätte die Geschichte wesentlich besser gefallen, wenn du die falsche Fährte nicht in die Richtung gelegt hättest. Sorry, aber da ich mich mit dem Thema Beschneidung schon ausführlich befasst habe, habe ich damit ein echtes Problem, diese Thematik hier in der Form eingebunden zu sehen.
Sprachlich gefällt mir die Geschichte durchaus bis auf die Punkte, die schon genannt wurden und den Beschreibungen, die teilweise vielleicht zu lang sind und dadurch zu wenig Handlung entstehen lassen.
Gruß
carrie

 

Und ich empfinde es als einen Fehlgriff dieses Thema für deine Geschichte zu nutzen.

Du muss ich als Frau und als Mensch widersprechen.
Ist es nicht das Wesen von SF Missstände darzustellen, anzuprangern? Hättest du zu Asimov gesagt, er soll seine Roboter-Geschichten sein lasen, weil die Diskriminierung von Schwarzen in den USA harte Realität ist? Das war doch der Grund warum er sie geschrieben hat!
Die reale Beschneidung von Mädchen hat ja das selbe Ziel, wie die Beschneidzung in Uwes Geschichte.
Totschweigen ist auch keine Lösung. Visibility matters!

Es grüßt,
Devika.

 

Hallo Leute,
danke für eure Bemerkungen.

Gegenrede, carrie. Auch ich habe über Beschneidung recherchiert. Und *deshalb* habe ich sie thematisiert. Aus der Verstümmelung von Geschlechtsteilen habe ich eine Verstümmelung des freien Willens gemacht. Das ist eine Metapher, falls Dir das entgangen sein sollte. Keine Verharmlosung.
Geschmacklos wäre vielleicht, eine lustige, witzige, banale Story über Beschneidung zu schreiben, die sie verharmlost. Eine solche Geschichte habe ich aber nicht geschrieben.
Die SF hat wie jede andere Gattung das Recht, über jedes Thema zu schreiben - und ganz besonders über Missstände. Dadurch werden auch Leser darauf aufmerksam gemacht, die nicht in Sparten lesen, die sich sonst des Themas annehmen.

@Gabriel: Danke für die Bemerkungen zum Holpern. Diesbezüglich sollte ich mir den Text nochmal ansehen. Nett, dass er mal wieder ausgegraben wurde ;)
Was die Charakterisierung angeht: Sie beschränkt sich absichtlich auf die Angst, die sie treibt und für die Geschichte wesentlich ist. In diesem Fall habe ich eine tiefere Charakterisierung als unnötig empfunden. Zugegeben, die Story ist Schwarzweißmalerei. Daher auch der simple Plot.

 

@ Devika und Uwe:

Totschweigen ist auch keine Lösung. Visibility matters!
Nein das ist richtig, totschweigen ist auch keine Lösung, da hast du vollkommen recht und das war auch absolut nicht das was ich meinte.
Es ist halt so, wie ich es geschrieben habe, ich empfinde es als Unangenehm, dieses Thema in Sience Fiction zu verpacken, eben weil es Realität ist. Und meine Empfindungen mögen in Euren Augen falsch sein, aber es ist halt so. Das was ich geschrieben habe ist entstanden aus dem Gefühl, das ich hatte, als ich die Geschichte las. Und soweit ich weiß, ist es ja Sinn und Zweck, sich darüber zu äußern, wie einem die Geschichte gefällt.
Also, nichts für ungut.
gruß
carrie

 

@carrie: Vermutlich hast Du noch nicht viele gute SF-Geschichten gelesen (wobei ich explizit meine ausklammere) und daher einen etwas einseitigen Standpunkt gegenüber der SF an sich. Die meisten guten SF-Storys befassen sich durchaus mit der Realität, wenn auch in überzeichneter Form. Das ist genaugenommen die Aufgabe der SF, neben der Unterhaltung und der Anregung der Fantasie (und noch ein paar anderen Dingen).

Freilich sieht der Plot vieler SF-Storys wie folgt aus:
"Raumschiff fliegt von Nekrem nach Andros und begegnet dem Geistwesen Akuba, welches das Universum vernichtet."

Das hat dann in der Tat nix mit der Realität zu tun. Meistens ist das reine Unterhaltung. Aber ich lehne es ab, die SF als reine Unterhaltung zu betrachten.

Deshalb *muss* die SF Themen aufgreifen, die real sind. Gerade durch die Möglichkeit der SF, zu überzeichnen, kann sie auf Missstände aufmerksam machen.

Davon abgesehen freut es mich, dass die Geschichte polarisiert. Sie ist nämlich eigentlich ziemlich böse. Die Opfer verlieren ihren freien Willen und finden es auch nocht toll. Sie lehnen sich nicht auf, weil sie ohnmächtig gegenüber den Mächtigen sind. Das ist die Realität, was denn sonst?

 

Hallo Uwe,
ja genau, ich habe noch nicht viele SF-Geschichten gelesen und sicher, was das Genre angeht, einen einseitigen Standpunkt. Genauso wie du es in deinem 2. Absatz geschrieben hast, so sah ich bisher die SF-Geschichten und deshalb meine negativen Gefühle beim lesen deiner Geschichte. Vielleicht kannst du das ja verstehen. Und ich werde mich bemühen, dazu zulernen was SF-Geschichten angeht. Vielleicht kannst du mir ja mal ein paar gute empfehlen.
gruß
carrie

 

Hi carrie (Ich zwar nicht Uwe Post, aber ich antworte trotzdem mal.)
Die von mir erwähnten KG des Asimov sind eine Leseempfehlung.
Ich habe Best of Asimov. Gerade für "Anfänger" interessant ist das Vorwort wo er eine kurze Erleuterung gibt warum er die einzelnen geschichten geschrieben hat und vor welchem Hintergrund. ZB "Die Verschwender vom Mars"/ "The Martian Way" als Antwort auf die McCarthy Zeit. Eine Zeit der Paranoia und Idioten in den USA und vielleicht aktueller den je.
Oder "Ein Herz aus Metall" als Beispiel seiner Roboter-Geschichten. In Roboter-Visionen, einer Sammlung von KGs und Essays. (Der Roboter/Mensch Konflikt als Bild für die Konflikte der Schwarzen und Weißen in den USA oder generell zwischen Majoritäten und Minoritäten in einem Land. )


Das alles ist aber auch nur eine Art von SF. Aber es ist die ursprüngliche, meines Erachtens nach. Entwickelt in den Ländern des Ostblocks um gesellschaftliche und politische Verhältnisse anzuprangern, was anders wegen der starken zensur nicht möglich gewesen wäre.

Solltest du dir wirklich die Mühe machen etwas derartiges zu lesen, wird sich dein Empfinden sicher ändern. :read:

BTW: Auch in Star Trek gibt es Folgen die diesem "alten" Muster des SF folgen. :)

Grüße Devika.

 

@carrie:
Schau mal in den Empfehlungsthread hier in der Rubrik und in den "was passt in diese Rubrik"-Thread. Darin ist wiederum ein Thread "SF-Einstiegsliteratur" verlinkt.

 

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