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Beschneidung
Die Sonne von Cisah tränkte die Ebene mit kaltem Rot, als Sinja sie durchquerte, um sich auf ihre Beschneidung vorzubereiten. Barfuß trabte sie über die scharfen Steine der Betäubung, tapste durch den schlammigen Bach der letzten Erinnerung und erreichte den Fuß des runden Hügels der Jin Sagi. Als sie ihn elfmal umrundet hatte, was der Anzahl ihrer Sommer entsprach, stand plötzlich Kivil vor ihr. Er war der Sohn eines Jin Sagi. Damit hatte er das Privileg, von der Beschneidung verschont zu bleiben.
Sie entbot ihm den angemessenen Gruß, indem sie ihm den Rücken zu wandte. Sein Grinsen konnte sie spüren wie seine Berührung an ihrem Rückgrat, als er sie ansprach: »Warm, stark, regt dein Hinten mich.«
Sinja konnte den Atem des Jungen riechen.
Die Zeit des Ewigen Himmelsgrau.
Das Kommen der Jin Sagi.
Die Moral der Sternenfahrer.
Aus unzähligen Geschichten kannte Sinja die Jin Sagi. Ihr Volk war voll Dankbarkeit für ihr Erscheinen.
Kivils Hände wanderten Sinjas Rücken hinunter dorthin, wo es kribbelte. Sie erschauerte und zog sich von ihm zurück. Er spuckte aus. »Jakk! Aber, nun, bald, jetzt fast, bist mein du.«
Angst stieg in Sinja hoch, und sie ballte die Fäuste, um ein Erzittern zu unterdrücken. Nein, sie würde keine Schwäche zeigen. Und doch war Bitterkeit in ihrer Stimme, als sie dem anderen über die Schulter zuwarf: »So will es das Gesetz der Sterne, das ihr uns überbracht habt.«
»Nur, ein Kind, das nur existieren darf, du, damit du wächst, um eines Tages kein Kind zu sein.« Sinja hörte, wie der Junge sich von ihr abwendete. Er sagte noch: »Bald, ist dein Phadiga entfernt, du wirst gehört.«
Aber dann, dachte Sinja, werde ich nicht mehr sprechen wollen. Als sie wusste, dass der Jin Sagi weit genug entfernt war, liefen Tränen über ihr Gesicht.
Das Gesetz der Sterne hatte viel Gutes und Frieden nach Cisah gebracht. Aber musste den Kindern dazu wirklich das Phadiga weggeschnitten werden?
Die Frage eines Kindes, sagten die Erwachsenen. Die Antwort lautete, dass das Gesetz es vorschrieb. Und das Gesetz war gut.
Ist es das wirklich?
Für mich nicht, entschied Sinja. Das Ritual wird ohne mich stattfinden.
Während sie auf der Flucht war, pflückte Sinja hier und da einige Goiala-Beeren. Am Abend musste sie lange rasten, weil ihre Füße bluteten. Sie wusste nicht, wo sie war, denn nie zuvor hatte sie Kunjon verlassen.
Nie war ich so weit weg von zuhause.
So weit weg vom Hügel der Jin Sagi.
Am nächsten Morgen erreichte Sinja einen breiten Fluss. Sie konnte nicht schwimmen, also blieb ihr nichts anderes übrig, als dem Gewässer zu folgen. Am Ufer wuchsen reife Pratteln, die sie unterwegs in sich hinein stopfte.
Als die Sonne am höchsten stand, folgte sie einer Biegung des Flusses. Erschrocken blieb sie stehen, und ließ sich gleich darauf hinter einen Busch fallen. Da war der Hügel der Jin Sagi.
Aber es konnte nicht derselbe sein. Sie war zwei Tage gewandert, und sie war gewiss nicht im Kreis gelaufen.
Sinja überlegte. Ein Hügel, kantig und grau. Aber ich bin weit von Kunjon weg. Es muss ein anderer Hügel sein.
Die Jin Sagi hatten die Macht über die ganze Welt. Überall, wo ihre Hügel standen. Also standen ihre Hügel überall.
Auf der ganzen Welt gibt es Jin Sagi. Und auf der ganzen Welt gibt es Jungen und Mädchen wie mich, die vor ihrem Phadiga Cath davon laufen. Ich muss sie finden. Bei ihnen werde ich in Sicherheit sein.
Vielleicht waren sie auf der anderen Seite des Flusses. Sinja sah auf das träge fließende Wasser hinab. Es sah nicht besonders tief aus. Vielleicht konnte sie einfach hindurch gehen. Solange ihr Kopf aus dem Wasser reichte, würde sie atmen können.
Mit klopfendem Herzen näherte sie sich dem Wasser. Sorgfältig hielt sie Ausschau nach den flachsten Stellen. Schon waren ihre Füße nass und kalt. Als sie zurück sah, lag das Ufer schon weit hinter ihr. Es ging leichter, als sie gedacht hatte. Plötzlich trat sie auf einen glitschigen Stein und fiel der Länge nach ins Wasser. Es war ziemlich kalt, aber sie lachte über ihr Ungeschick und nahm sich vor, besser achtzugeben. Nach zwei Schritten wurde das Wasser tiefer. Es reichte ihr bis zu den Knien, dann bis zu den Oberschenkeln, dann bis zum Bauch. Sinja ächzte, denn das Wasser drückte gegen sie und versuchte, sie umzuwerfen. Unbeirrbar suchten ihre Füße weiter nach Halt. Sie war schon fast bis zur Mitte und war überzeugt, das schlimmste überstanden zu haben. Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie ihr Gewicht verlagerte. Der Stein, auf dem sie jetzt stand, gab nach. Sie verlor das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen. Plötzlich war ihr Gesicht unter Wasser. Verzweifelt suchte sie nach Halt. Ihre Hände peitschten das Wasser. Es schwemmte sie fort. Unter ihr war nichts mehr. Sie keuchte, schluckte Wasser. Sie schloss die brennenden Augen. Sah nichts mehr.
Sinja lag auf dem Canh Cath. Sie war nackt, wie es das Ritual erforderte. Sie konnte sich nicht bewegen. Ihre Glieder gehorchten ihr nicht.
Sie konnte nur hinauf zum Himmel sehen, bis ihr die Augen tränten.
Sie zitterte. Versuchte, die Zuschauer um Hilfe zu bitten, konnte sich nicht rühren. Niemand wollte ihr helfen. Sie lag auf dem beißend kaltem Metall, und es schien ihr Wärme, Mut und Stolz zu entziehen.
Ein blau gewandeter Jin Sagi sprach zu den Zuschauern, erzählte von den Rechten und Pflichten der Erwachsenen. Von den Geschenken der Jin Sagi. Vom Gesetz der Sternfahrer. Vom Glück der Cisah, dass die Jin Sagi gekommen waren. Und von der Beschneidung, denn nur ohne die Last des Phadiga könne das junge Mädchen zu einem starken, wertvollen Mitglied der Gesellschaft heranwachsen.
Das Canh Cath summte und fuhr einen stählernen Arm aus, dessen mit Spitzen und Klammern besetzte Hand sich über Sinjas Körper erhob und dort verharrte. Sinja liefen Tränen über die Wangen.
Das Summen des Arms des Canh Cath war wieder da. Sie spürte, wie sich die kalte Hand zwischen ihre Lippen schob. Wie ein Hebel öffnete die Hand ihren Mund, ohne dass sie es verhindern konnte. Der Stahl fuhr über ihre Zunge, füllte ihren Mund völlig aus, drang weiter in sie vor, bis er durch ihren Rachen ihre untere Schädeldecke erreicht hatte. Ein heftiger Druck gegen ihren Kopf entstand, und ein Vibrieren ließ sie erschauern. Ihr ganzer Kopf dröhnte. Der Schmerz war wie Feuer. Sie schmeckte Blut. Ihr eigenes Blut.
Den eigentlichen Moment bekam sie nicht mit. Aber als das Canh Cath ihr Phadiga entfernt hatte und sich aus ihrem Kopf zurückzog, fühlte sie sich leicht.
Das Gefühl kehrte in ihren Körper zurück, und zwei Frauen mit hellblauen Kleidern halfen ihr, aufzustehen. Sie stützten sie, als sie vor den Zuschauern stand, die sie in ihrer Gemeinschaft willkommen hießen.
Sie sah die Schar der Erwachsenen, die den Jin Sagi seit Jahren willenlos gehorchten, so wie sie in Zukunft auch.