Bis dass der Tod euch scheide
Bis dass der Tod euch scheide von Infelicia
Langsam bekam Mariella den Eindruck, dass ihre Mutter aufgeregter war als sie. Josephine sprang um sie herum wie ein Gummiball, fand immer irgendeinen Makel, mal an den Haaren, mal hatte sich am Kleid etwas gelöst, mal saß der Schleier nicht richtig. Und immer fügte sie hinzu, die durch die dicke Brille froschartig vergrößerten Augen ganz feucht: "Wär' ich an meinem Hochzeitstag froh gewesen, so wunderschön zu sein wie du. Aber ich hatte damals nur ein altes Kleid von meiner Nachbarin, das über zwanzig Jahre im Schrank gehangen hatte und nach Mottenkugeln stank. Weißt du..." Spätestens hier schaltete Mariella ihre Ohren auf Durchzug, betrachtete sich im Spiegel und versuchte die aufkeimenden Zweifel zu ersticken. Natürlich war Robert der richtige Mann für sie, trotz seiner Vergangenheit. Natürlich konnte sie ihm glauben, wenn er sagte die Psychotherapie hätte ihn geheilt. Natürlich war die DIS weg. DIS, das hatte sie in einem Fachartikel gelesen, war die Abkürzung für Dissoziative Identitätsstörung, eine Krankheit die früher unter dem Namen multiple Persönlichkeitsstörung bekannt gewesen war. Ihr armer Verlobter war sieben Jahre in einer Psychiatrie gesessen, nach dem eines seiner "Alters" (also eine andere Persönlichkeit in ihm) eine junge Frau brutal ermordet hatte. Eine Psychologin hatte ihn für nicht schuldfähig erklärt, so war ihm das Gefängnis erspart geblieben. Doch, hatte er ihr erzählt, "Es war eine verdammt harte Zeit bis ich diesen Rufus endlich getötet hatte."
"Kindchen, wo sind denn die Ringe?" Josephine holte ihre Tochter aus deren Tagtraum und starrte sie schreckerfüllt an. "Ohne Ringe keine Hochzeit. Keine Hochzeit ohne Ringe." Josephine war 1,50m klein, ungefähr so breit wie hoch, und trug zur Feier des Tages ihren fliederfarbenen, original Achtziger-Jahre Hosenanzug. "Ich habe sie dem Pfarrer vorher schon gegeben, Mama." Mariella steckte eine ihrer braunen Locken fest und betrachtete sich wieder eingehend im Spiegel. Wenn nur alles gut ging.
Robert war groß, braungebrannt und sehr attraktiv. Er war an der Börse, und von seinem Einkommen konnte er sich sogar ein Segelboot am Bodensee leisten. Er hatte blondgesträhntes Haar, der Schnitt "flippig, jung, frisch, wissen Sie wie IN das ist?", wie sein schwuler Friseur es auszudrücken pflegte, und himmelblaue Augen. Robert konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun. Nur dieser Rufus. Er ist weg, Mariella, es ist weg, weg, weg, okay? Robert war schon mal verheiratet gewesen, doch dann war seine Frau gestorben und er hatte sich drei Jahre nach Argentinien abgesetzt. "Ich habe das nie überwunden. Und ich glaube so wurde Rufus damals geboren," hatte er ihr anvertraut, in einer ehrlichen Nacht, in der sie fünfmal fantastischen Sex gehabt hatten. Womit sie bei der Hochzeitsnacht wäre...oh, sie hatte alles wunderbar vorbereitet, das sexy Oberteil von Victoria's Secret und die Strapse, die Erdbeeren und die Schokoladensauce. Aber jetzt-jetzt war es Zeit für die Kirche. Heute morgen waren sie auf dem Standesamt gewesen, und jetzt würde Pfarrer Hebler sie im Angesicht Gottes trauen. Mariella war kein sonderlich gläubiger Mensch, doch eher hätte sie sich einen Finger abgehackt als auf ein pompöses Kleid zu verzichten. Manche Leute behaupteten, sie sei ein Mode Freak, obwohl sie nur 40 Paar Schuhe hatte. Das war doch nicht zuviel. Sie grinste sich im Spiegel an. Welche absurden Gedanken ihr durch den Kopf gingen; das musste die Nervosität sein.
Als die Kapelle den Hochzeitsmarsch spielte, hakte Mariella sich bei ihrem Vater ein und betrat den Mittelgang der Kirche. Sie spürte die bewundernden Blicke, und sie genoss sie. Natürlich sah sie wunderschön aus. Ihr langes Haar trug sie im Nacken zusammengesteckt mit weißen Rosen, dazu die seidenglatte weiße Robe. Vorne am Altar stand Robert, ein Bild von einem Mann, in seinem schwarzen Smoking. Sie würden attraktive Kinder haben, sogar Namen hatten sie sich schon ausgedacht. Für einen Jungen Stephen, für ein Mädchen Sophia. Ihr Lächeln wurde noch etwas breiter, als sie den bewundernden Blick auf Roberts Gesicht sah. Sogar der Pfarrer betrachtete einen winzigen Moment zu lang ihre großzügiges Dekolleté, bevor er zu seiner Rede ansetzte. “Hier sind wir nun also versammelt, um Robert Andreas Klingler und Mariella Evelyn Strohmann im Angesicht Gottes zu trauen. “
Plötzlich schoss etwas siedendheiß durch Mariellas Kopf. Die Frage, die die ganze Zeit irgendwo in ihrem Gehirn versteckt gewesen war und sich erst jetzt, vor dem Altar, wo Robert ihre schmale Hand in seiner kräftigen hielt, hervortraute. Warum ist seine Ex-Frau eigentlich gestorben? Unwillkürlich krallte sie ihre lackierten, manikürten Fingernägel in sein Fleisch, was er mit einem ungeduldigen Grunzen quittierte. "...So frage ich Sie, Robert: Wollen Sie die hier anwesende Mariella zu Ihrer angetrauten Frau nehmen, sie lieben und ehren, in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod euch scheide?" Robert zögerte keine Sekunde, und fast hätte Mariella ihm seine grenzenlose Liebe geglaubt, bis sie den Schatten in seinen Augen sah, als er sein "Ja!" in den Saal schmiss. "Wollen Sie, Mariella, den hier anwesenden Robert zu Ihrem angetrauten Ehemann nehmen, ihn lieben und ehren, in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod euch scheide?" Jetzt war der Moment gekommen. Mariella atmete tief ein. Sie war schon immer eine Frau gewesen, die ihr Ding ohne Rücksicht auf kleine Zweifel durchzog, und so würde es auch dieses Mal sein. "Ja, ich will." Doch nachher würde sie ihn fragen, beschloss sie als ihr Mann ihr den Ring auf den Finger steckte.
Die Feier fand in einem eleganten Restaurant statt, wohl weil Roberts Eltern sie bezahlt hatten. Mit dem Budget ihrer Eltern hätte Mariella wahrscheinlich gerade mal das Café Irmgard um die Ecke mieten können. Doch so stand sie gerade, ein Champagnerglas in der Hand, mit dem Bürgermeister im Foyer und lachte über seine schlechten Witze ("Wie nennt man Handschellen die man freiwillig trägt? Eheringe!"), als ihr wieder einfiel, was sie Robert fragen wollte. Er stand mit einem Jugendfreund in einer Ecke und unterhielt sich leise. "Robert?" Mariella winkte ihn zu sich. "Ja?" Er lächelte und strich ihr über den nackten Arm. "Ich muss dich etwas fragen. Lass uns doch nach draußen gehen." Bereitwillig folgte er ihr zu dem dichten Buchsbaumlabyrinth und hinter die erste Kurve. "Es gibt da etwas das du mir nie erzählt hast," begann sie und lief Hand in Hand mit ihm in das Labyrinth hinein. "Wie ist deine erste Frau gestorben?" Er seufzte, so als quäle es ihn immer noch. "Samantha? Eine verdammt traurige Geschichte. Wir waren gerade drei Wochen verheiratet, sie war schwanger, wir waren noch auf Hochzeitsreise in Hawaii und alles schien perfekt. Doch eines Morgens wachte ich auf, und sie war weg. Ein Jogger fand sie am Strand liegend, nackt, mit einem langen Messer erstochen. Den Finger mit ihrem Ehering hatte sie im Mund, ich meine nicht wie ein Kind das Daumen lutscht, sondern abgeschnitten und in den Mund gesteckt. Ich musste sie identifzieren, und dann verdächtigten sie mich, weil ich mich an nichts erinnern konnte. Die Wahrheit ist, dass es Rufus schon damals gab. Rufus hat Samantha getötet, in meinem Körper. Er sank in sich zusammen und weinte. Mariella war erstarrt. Verdammtnochmal, das hatte er ihr nicht sagen können bevor er sie geheiratet hatte? Sie kniete nieder und umarmte ihn. Er legte seinen Kopf auf ihre Schulter, und in seinen Augen blitzte etwas auf.
Eíne Stunde später war die Arbeit getan. Der Körper, der den Namen Robert trug, den sich aber zwei Identitäten teilten, setzte sich an eine Buchsbaumhecke und betrachtete das Werk. Rufus war viel zu lange zurückgehalten worden, und jetzt hatte er gefordert. Mariella sah noch schlimmer aus als Samantha, das Brautkleid in Fetzen gerissen und statt ihrer Innereien in ihren Bauch gestopft. Die Gedärme hingen wie eine makabere Festgirlande an den Büschen. Rufus war geschickt, er hatte diesen hässlichen Smoking nicht mal besonders mit Blut besudelt. Ein Lächeln umspielte die Lippen. Robert hatte keine Ahnung, wie viele Weiber Rufus schon erledigt hatte. Manchmal, wenn Robert abends ins Bett ging, wachte Rufus mitten in der Nacht auf und wollte Blut schmecken. Dann ging er und machte seinen Job, und wenn Robert morgens aufwachte, lag er wieder unter der warmen Daunendecke. Rufus spuckte aus und lachte. Scheiß Psychotherapie, komplett für den Arsch. Gut, eine Weile war Robert erschreckend stark gewesen, doch ein verliebter Robert war ein guter Robert, und diese Mariella ein ziemlich heißer Feger gewesen. Wieder kicherte er, dann stand er auf, wischte den Staub von seiner Hose und drehte sich ein letztes Mal zu Mariella um. "Leider hat der Tod euch ziemlich früh geschieden." Robert würde ziemlich niedergeschlagen sein wenn auch seine zweite Frau bestialisch ermordet worden war, und vielleicht würde er auch noch einmal versuchen Rufus loszuwerden. Doch dieser dachte nicht im Traum daran, wieder in dem Dunkel zu verschwinden, aus dem er gekommen war.
Alle Fachbegriffe sind dem Buch "die Geduld der Spinne" entnommen.