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... bis in alle Ewigkeit.
Geliebter Javier,
Nun bist du schon seit zehn Monaten weg, zehn lange, endlos wirkende Monate ohne irgendein Lebenszeichen von dir. Viele Nachrichten erreichen die Abgeschiedenheit unserer Farm, Nachrichten, die uns schockieren und uns zittern und weinen lassen. Nachrichten des Krieges im Norden, weit weg von hier... Vielleicht zu weit weg, denn wenn wir nicht so abgeschieden wären, wüssten wir vielleicht etwas von dir...
Warum schreibst du bloss nie? Wir machen uns solche Sorgen, dein Vater, dein Bruder, ja, sogar die dicke Köchin Rosa wischt sich manchmal verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel, wenn sie deine Lieblingskekse macht, in der Hoffnung, dass du bald zurückkehren wirst und es dann immer frisches Gebäck hat... Doch es sind immer wir, die die Kekse essen, und jeder einzelne Bissen erscheint uns staubtrocken und fad.
Und natürlich ich. Ich vermisse dich so sehr, dass alleine ein Gedanke an dich genügt, um mein Herz zum Zerbersten zu bringen, und wenn ich mir dein Gesicht und deine strahlenden Augen vorstelle, deine Zähne, die wie Perlen an einer Schnur zwischen deinen Lippen aufblitzen, wenn du lächelst. Und jede Nacht träume ich von dir, jeden Morgen wünsche ich mir, von deinem süssen Kuss aufgeweckt zu werden, jeden Tag bilde ich mir ein, dein Lachen zu hören, dein sonniges Lachen, das das ganze Haus mit Wärme und Geborgenheit erfüllt.
Doch jetzt, wo du nicht da bist, erscheint mir der Himmel über der Farm grau und trist, und sogar die Vögel in den Bäumen scheinen verstummt zu sein. Die Atmosphäre im Haus ist angespannt und nervös, und obwohl es niemand sagt, weiss ich ganz genau, dass alle Gedanken, bei jeder Handlung, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, bei dir sind. Bei dir im Krieg. Wir wissen ja nicht einmal, ob du noch lebst, ob du verletzt bist, ob du... Und du, der du uns nie ein Zeichen schickst – wie könnten wir nicht Tag und Nacht an dich denken?
Doch in jeder noch so schwarzen und gefährlichen Nacht hat es einen glänzendern Stern, der dir Sicherheit gibt und die bedrohliche Dunkelheit mit Licht erfüllt. Vor drei Monaten gebar ich deinen Sohn, Chabi. Er ist ein wahrer Sonnenstrahl in diesen grauen und traurigen Zeiten, der kleine Prinz des Hauses. Alle verehren ihn und beten ihn an. Wie könnte man das auch nicht! Wenn er sein zahnloses Mündchen zu einem Lächeln verzieht, sieht man die Sonne aufgehen, und wenn du ihm einen Finger zum Spielen hinhältst, beginnt er glücklich zu glucksen und sein rundes Gesichtchen fängt zu strahlen an. Und erst seine Augen! Blau wie der wolkenlose Sommerhimmel sind sie, strahlend und intensiv, wie die deinen. Sie laden dich ein, ihn ihnen zu versinken und von besseren Zeiten zu träumen...
Stell dir vor, ich musste ihm schon die Haare schneiden! Ich lege dir eine seiner schwarzseidigen Löckchen bei, als Talisman im Krieg... Und vielleicht kann er schon gehen, wenn du zurückkehrst! Wenn du zurückkehrst... Etwas schwöre ich dir bei meinem Leben: für unseren Sohn mache ich alles, damit er ein wunderschönes und behütetes Leben hat, ich würde ihm mit meinen eigenen Händen die Sterne vom Himmel holen und mit blossen Füssen ans Ende der Welt gehen, wenn er nur glücklich ist.
Und immer, wenn ich eine freie Minute habe, gehe ich mit ihm an unsere geheime Stelle, zu der versteckten Quelle im Wald. Wenn wir da sind, ich am Ufer sitzend und Chabi an meine Brust gekuschelt, erzähle ich ihm von dir, von uns. Von unserer ersten Begegnung, unserem ersten Kuss, unserer letzten und einzigen Nacht, und ich zeige ihm jedes Mal das Lederband, das du für mich geflochten hast und das ich jetzt über meinem Herzen trage. Ich lehre ihn dich zu kennen, dich zu verehren, dich zu lieben. Und gemeinsam träumen wir von deiner Rückkehr.
In der letzten Nacht hörte ich Chabi weinen. Es war ein harter Tag; wir hatten einige Kühe geschlachtet und das Fleisch zum Verkauf vorbereitet, deshalb erwachte ich nicht gleich. Und als ich dann meine Augen mühsam geöffnet hatte und bereit war aufzustehen, brauchte er mich schon nicht mehr; dein Bruder Diego war schon aufgestanden und mit viel Geduld und Zärtlichkeit wiegte er Chabi sanft in seinen Armen und summte ihm leise ein Schlafliedchen vor, bis das Baby wieder eingeschlafen war. Als ich das sah, verspürte ich einen harten, giftigen Stich im Herzen. Diego behandelte Chabi nicht mit der Liebe eines Onkels, sondern mit der eines Vaters. Ja, Diego, mein Ehemann und dein Bruder, denkt, Chabi sei sein Sohn. Niemals hatten wir es ihm gesagt, er ahnt nichts von unserer tiefen Liebe, von unserer Leidenschaft, und er hat keine Ahnung davon, dass Chabi nicht sein Kind ist.
Als er Chabi dann wieder in seine Wiege gebettet hatte, kehrte er ins Bett zurück, legte einen Arm um mich und zog mich zu ihm hin. Ich bewegte mich nicht; mit dem bitteren Geschmack der Lüge im Mund und die Faust um dein Band geschlossen machte ich ihn glauben, dass ich tief und fest schliefe.
Diego liebt mich so sehr, dass es beinahe weh tut, und seit Chabis Geburt beteuert er jeden Tag, dass wir zwei das Wichtigste in seinem Leben seien. Er verwöhnt mich, macht mir kleine Geschenke, nimmt mir so viel Arbeit wie nur möglich ab, mir, die ihn betrügt, ihm Liebe vormacht und dabei mit seinem eigenen und einzigen Bruder schläft!
Doch sag mir, was kann ich machen? Nichts, rein gar nichts! Wegen Chabi bin ich gezwungen zu schweigen, denn mit einem Geständnis würde ich seine ganze Zukunft uns sein Leben zerstören. Dein Vater würde keinen Bastard unter seinem Dach dulden, dein Bruder wäre unvorstellbar enttäuscht, deine Mutter selig würde sich im Grab umdrehen, man würde mich und Chabi verbannen, und du würdest nicht als den geliebten Sohn, der du jetzt bist, zurückkehren, sondern als Verräter und Betrüger. Nein, unmöglich kann ich auch nur einen Ton davon über die Lippen bringen.
Aber jedes Mal, wenn Diego mich küsst, mich umarmt und mich liebt, wünsche ich mir, dass es deine Lippen wären, die sich gegen die meinen pressen, dass deine starken Arme mir das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit verleihen würden, und dass es deine Haut wäre, die die meine liebkost.
Doch du bist nicht hier an meiner Seite, wo du hingehörst, nein, du bist an der Seite anderer Krieger und tötest hunderte und tausende von Feinden. Und du schicktst und keine Linie, keinen Anhaltspunkt über dein Befinden, einfach nichts. Ich weiss nicht einmal, wo du jetzt bist, ob du tot bist, verletzt, hoffnungslos, verzweifelt... Und ich weiss auch nicht, wohin ich diesen Brief schicken soll. Deshalb werde ich ihn wie immer verstecken, wie alle anderen Dinge, die ich verbergen muss, die ich weder sagen noch machen kann.
Ich zähle die Minuten bis zu deiner Wiederkehr, und ich werde bis in alle Ewigkeit auf dich warten.
Dein für immer,
Luna