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- 23.05.2004
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Bittere Tränen
Eine einzige blühende Blume spross noch neben der kahlen Kellerwand. Die anderen waren der klirrenden Kälte zum Opfer gefallen. Ein großes Loch gähnte neben der kleinen, zerbrechlichen Blume. Ein Mann humpelte an dem verlassen Haus vorbei. Der böige Wind drang durch seine vielen Kleiderschichten und biss in seine Haut. Er fror erbärmlich. Seine Sachen waren schmutzig und er hatte immer noch den Gestank des verkohlten Fleisches in der Nase, das seinen Magen revoltieren ließ. Auf seinen schmutzigen Wangen, rannen noch vereinzelte Tränen. Seine Schuhe waren durchnässt. Der Mann vergrub seine Hände tiefer in den Taschen und bog um eine Ecke. Der braune, gefrorene Schnee lag noch ein paar Zentimeter hoch auf den Strassen. Der Himmel war schwarz. Wenige Straßenlampen beleuchteten die kleine Straße. Einige waren ausgefallen. Auf beiden Seiten standen schiefe Fachwerkhäuser. Alt, genau das waren sie, dachte er, genauso wie ich. Alt. Er hatte sein Leben verwirkt.
Es begann zu regnen. Ein Fahrradfahrer schälte sich aus der Dunkelheit und fuhr hastig vorbei. Der Mann blickte ihm nach. Sein Gesicht war steinern, es troff vor Regen. Nasse Strähnen klebten an seiner Stirn, seine Wangen glühten und seine Finger waren steif. Der Mann fuhr sich mit den gefühllosen Fingerspitzen über seine Wangen. Ein großer Druck schien sich in seinem Schädel aufzubauen. Er wuchs an. Der Mann schleppte sich weiter. Er hörte freudige Kinderstimmen in einer Hauseinfahrt, gedämpft. Seine Ohren waren noch halb taub von den verzweifelten Schreien seiner Familie. Das Lachen der Kinder schnitt ihm ins Herz. Jeder Nerv in seinem Körper schien sich in einen glühenden Draht zu verwandeln. Im rann der Schweiß über den Rücken. Sein Unterhemd klebte. Der Regen schien seine ganzen Emotionen zu ertränken. Nichts blieb, außer dem Schmerz. Er irrte nun schon seit Stunden in den Straßen der Stadt herum. Aber er brauchte den Schmerz. Er zeigte ihm, dass er noch lebte. Das nicht alles ein grauenvoller Alptraum war der nicht enden wollte. Alles ist wahr, dachte er. Er hatte das Gefühl, der Druck in seinem Kopf würde sein Gehirn zermalmen. Er presste beide Handballen gegen seine Schläfen und sackte an einer Wand in sich zusammen. Ein einzelner Grashalm glänzte im morgendlichen Tau. Die Sonne rekelte sich verschlafen am Horizont. Ein neuer Tag begann, aber nicht für ihn. Für ihn ging er zuende. Endlich. Und er wollte nicht wieder aufwachen.
Als es ihm ein wenig besser ging, stand er auf. Er musste weiter. Er stützte sich auf den Fensterrahmen. Das Zimmer hinter dem Fenster lag in einem vollkommenen Dunkel. Sein Gesicht spiegelte sich im Glas. Die weiße Farbe des Rahmens blätterte ab. Er betrachtete sein Konterfei. Er blickte sich in die Augen. Dann spuckte er sein Spiegelbild an und wandte sich ab. Seine Schritte knirschten auf den gefrorenen Kiesel. Ein Schwindelanfall, ließ ihn schwanken. Seine tauben Füße stolperten. Er strauchelte und fiel auf die Knie. Die Straße schwankte vor seinen Augen. Für einen kurzen Augenblick hatte er das bestimmte Gefühl zu erblinden. Der Mann kroch zurück zur Wand. Seine Hände versanken in dem schmutzig, braunen Schnee. Er lehnte sich wieder an und spürte die Kälte durch seinen Anorak dringen. In seiner Hand fühlte er das schwere Gewicht der Pistole. Seine Finger schlossen sich um den kalten Griff. Der Mann hatte sie am Bahnhof gekauft, bei einem jungen Mann, der mit einer Wolldecke auf den Beinen, auf einer Bank gesessen hatte. Er kam gerade von seinem Haus. Es war ein spontaner Entschluss. Er hatte den Mann gesehen und die Waffe gekauft. Aber er bereute es nicht.
Er wollte nur schnell Zigaretten holen. Bevor sie schlafen gehen wollten. Aber er hatte vergessen den Gasherd abzustellen. Der Mann hatte sich eine Stange Zigaretten gekauft und sich mit dem Kioskbesitzer unterhalten, den er schon seit vielen Jahren kannte. Als er zurückkam, stand die ganze obere Etage ihres Wohnhauses in Flammen. Er war hochgerannt, wollte seine Familie retten. Die Feuerwehr hatte ihn abgehalten. Sie würden das schon hinkriegen, hatte ein Feuerwehrmann gesagt. Aber sie hatten es nicht geschafft. Er hoffte nur, dass seine beiden zweijährigen Töchter geschlafen hatten. Mehr hatte er nicht tun können. Er war ziellos durch die Straßen geirrt, er wollte nicht dabei sein, wenn sie die Leichen seiner Familie bargen, und ihn mit Fragen quälten. Dann war schließlich am Bahnhof angekommen.
Der Mann lehnte an der kältestrahlenden Wand und begann zu weinen. Am liebsten hätte er geschrieen. All die Last, die ihm aufgebürdet worden war, und all den Schmerz, den er hatte ertragen müsse, einfach herausschreien. Aber das tat er nicht. Er saß einfach nur da.
Er spürte den kalten Lauf auf seinen spröden Lippen. Für einen Moment spürte er keinen Schmerz, keine Trauer, keine Angst. Nur Stille und Frieden. Er krümmte seinen Finger um den Abzug. Frieden. Ein Schuss hallte durch die enge Gasse. Ein paar Vögle flatternden kreischend davon. Der leblose Körper sackte zur Seite. Eine einzelne Träne rann über seine Wange und versickerte im Schnee. Und nur der Schuss begleitete ihn zu seiner Familie, in eine bessere Welt, bis auch er allmählich verklang.