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Blaue Veilchen
Ich stosse die grosse Eingangstür auf, die schwerer aussieht, als sie ist und sehe mich nach einem freien Platz um. Das modern gestaltete Café war so gut besetzt, wie es an einem Montagmorgen um Zehn vor acht sein konnte. Ich setze mich an einen sonnigen Fensterplatz. Die hohen Rundbogenfenster und die vielen Pflanzen erwecken in mir das Bild einer mit Efeu umrankten Burg.
«Na, mit was kann ich Ihnen den Tag versüssen?», die junge Kellnerin verzieht ihre bordeauxroten Lippen zu einem freundlichen Lächeln. Ich lächle verhalten zurück.
«Einen Kaffee, bitte. Schwarz mit Zucker.»
Ihr Stift fliegt über den kleinen, rechteckigen Notizblock. Sie nickt freundlich und geht weiter. Fasziniert folgt mein Blick ihrem pinken Haarschopf, bevor ich durch das etwas trübe Fenster nach draussen schaue und die vorbeieilenden Menschen beobachte. Eine junge Frau mit schwarzer Pilotenbrille und hellbraunem Kunstledermantel gestikuliert heftig am Telefon. Ein Anzugträger eilt mit braunem Lederaktenkoffer und To-Go-Kaffeebecher über die Strasse und bemerkt nicht einmal, wie er beinahe von einem Auto umgefahren wird und rennt selbst um ein Haar eine Mutter mit Kind über den Haufen. Entschuldigend die Hand hebend hetzt er mit seiner etwas unpassenden grünen Krawatte weiter die Strasse runter.
Durch das Geräusch, der sich nährenden Schritte reisse ich meinen Blick los und beobachte, wie die Kellnerin eine dampfende Kaffeetasse geschickt vom überladenen Tablett nimmt und vor mir abstellt.
"Hier ist ihr Kaffee", sie lächelt erneut und überlässt mich sogleich wieder meinen Gedanken. Der Kaffee riecht gut. Ich trinke einen Schluck.
Ein alter Mann betritt den Laden, drei spielende Kinder rennen draussen lachend vorbei. Als ich einer älteren Dame beim Überqueren der Strasse zusehe, stellt sich ein verliebtes Pärchen vor meinen Ausblick und versperrt mir durch den dunkelroten Mantel der Frau meine Sicht.
Die Augen verdrehend sehe ich auf meine Armbanduhr.
08:11 Uhr.
Schnell trinke ich den Rest meines Kaffees aus und lege den üblichen Betrag und Trinkgeld neben die leere Tasse, stehe auf und verabschiede mich von der pinkhaarigen Kellnerin mit einem freundlichen Winken, welches von ihr mit einem Lächeln quittiert wird.
Ich lasse die gläserne Eingangstür los und trete in die warme Sonne. Mit den Kopfhörern in den Ohren und der roten Sonnenbrille auf der Nase gehe ich los. Zehn Minuten später betrete ich ein weisses Betongebäude. Ich gehe den Gang entlang, begrüsse die Menschen, die mir entgegenkommen und öffne die Tür zu meinem Klassenzimmer.
Ein paar Schüler:innen sind schon da, der Rest kommt kurz vor Beginn hineingestolpert.
Ich warte, bis alle ihren Platz gefunden haben.
«Good morning, everybody. I hope you enjoyed your weekend, who would like to tell us about it?», beginne ich den Englischunterricht. Eine Weile erzählen die Schüler:innen von ihrem Wochenende, bevor wir mit einer Schreibübung weiterfahren. Die Zeit geht vorbei wie im Flug, jedenfalls für mich, und schon ist es Mittagspause. Ich beende den Unterricht und bin auf dem Weg ins Lehrerzimmer, da kommt mir eine grossgewachsene Person entgegen. Ich erwidere sein Lächeln und kleine Schmetterlinge tanzen in meinem Bauch.
«Hey, Mia! Gut, dass ich dich hier treffe, ich wollte dich etwas fragen»
Ich erwidere Louies Begrüssung. «Hey! Was ist denn?»
Louie nimmt mich am Arm und führt uns einige Schritte von der aus den Klassenzimmern strömenden Menschenmasse weg.
«Ich wollte dich das schon länger fragen. Ich möchte dich zum Abendessen einladen», Er hat seine Hände in den Hosentaschen vergraben, «so als Date.»
Ich starre ihn an. Meine Gedanken überschlagen sich. Nach ein paar Sekunden erwache ich aus meiner Starre. «Louie, das ist echt nett, aber ich…»
«Du musst mir nicht sofort antworten. Du kannst es dir in aller Ruhe überlegen und mir diese Woche Bescheid geben.» unterbricht er mich, dreht sich um und geht. Ich schaue ihm hinterher. Auf der einen Seite bin ich euphorisch und will jauchzend durch die Luft springen und auf anderen Seite bildet sich ein dunkler, kalter Brocken in meinem Magen.
Endlich im Lehrerzimmer angekommen, lasse ich mich resigniert auf einen Stuhl sinken. Der Appetit ist mir vergangen. Aufregung der guten und schlechten Art verweben sich in meinem Magen zu einer aufwühlenden Mischung. Ich würde die Einladung gerne annehmen, aber ich weiss jetzt schon, wie es enden wird. Romantische Abendessen gehen immer mit einer gewissen Erwartung einher, die ich nicht erfüllen will. Seufzend stochere ich in meinem Essen. Schliesslich verstaue ich das Tupperware in meinem Schliessfach und mache mich auf den Weg zur nächsten Unterrichtsstunde.
Langsam schliesse ich meine Tür auf und betrete meine kleine Wohnung. Die Tür fällt hinter mir ins Schloss, während ich meinen Mantel aufhänge und meine Schuhe ausziehe. Schon den ganzen Tag dreht sich mein Kopf nur um die eine Sache. Die Einladung. Ich wollte Louie schon lange auf einen Kaffee einladen, aber ich habe es aus Angst nicht getan. Aus Angst davor, dass er mich nicht verstehen würde. Nicht verstehen würde, wieso ich so bin, wie ich nun mal bin. Auch aus Angst davor, dass die Beziehung nicht halten wird und ich unsere Freundschaft aufs Spiel setze. Angst vor dem üblichen Drama eben. Genervt schiebe ich den Gedanken nun doch endlich zu Seite und gehe in die Küche.
Als der Wecker am nächsten Morgen klingelt, bin ich schon lange wach. In der Nacht hatte ich eine Endscheidung getroffen. Ich werde die Einladung annehmen, aber die Sache offensiv ansprechen und aus dem Weg schaffen. So kann er sich überlegen, ob er eine solche Beziehung führen kann und will. Zufrieden mit meiner Entscheidung betrete ich das Schulgebäude und will gerade die Tür zum Lehrerzimmer öffnen, als diese sich von alleine auftut und Louie herauskommt. Ich stocke kurz und lächle ihn dann an.
«Hey, ich habe darüber nachgedacht», meine ich etwas atemlos, «Und ich würde gerne mit dir essen gehen.» Er lächelt und schiebt eine Hand in seine Hosentasche.
«Das freut mich zu hören. Wann hättest du Zeit?», Er kratzt sich im Nacken, «Und ich dachte wir könnten ins "Blue Royal" gehen. Das sollte bei dir in der Nähe sein.»
Ich lächle. «Klingt gut. Hast du heute Abend Zeit?»
«Heute Abend?», er hebt überrascht die Augenbrauen und überlegt kurz, «Ja, ich habe Zeit, ich komme dich um 18:00 Uhr abholen. Lilienweg 3, oder?»
«Ja, genau», ich nicke. Einen Moment lächeln wir uns einfach an, bis ich die Hand hebe und auf die Tür hinter ihm zeige.
«Ich sollte da noch kurz rein, es klingelt gleich.»
«Oh!», verlegen tritt er von der Tür weg und lässt mich durch.
Mein Lächeln würde noch den ganzen Tag anhalten.
Meine Armbanduhr zeigt 17:44 Uhr. Ich halte zwei Outfits vor mich hin. Aus dem Spiegel sieht mich eine hübsche, junge Frau an. Einmal aus einem orangen, knielangen Kleid und dann aus einem grünen Rollkragenpullover und High Waist Jeans mit breiten Hosenbeinen. 17:48 Uhr. Aus einem Impuls heraus werfe ich das Kleid auf mein ungeordnetes Bett und steige in die Jeans und ziehe mir den hellgrünen Pullover über den Kopf. Ketten, Ohrstecker, Ringe. Schnell ordne ich meine Haare. 17:58 Uhr. Ein letztes Mal schaue ich in den Spiegel. Der Blick der junge Frau von vorhin hatte sich von gestresst zu aufgeregt gewandelt. Ich hoffe sehr, dass es heute Abend gut läuft. Es klingelt. Ich atme tief durch und öffne die Tür. Louie steht lächelnd vor der Tür. Wie immer hat er Jeans an, aber dazu ausnahmsweise ein schwarzes Hemd und einen kleinen Topf mit blauen Veilchen in der Hand.
«Hey», er hält mir den Topf hin, «ich dachte ich bringe dir lieber lebendige Blumen, keine Toten.»
«Danke!», Ich lache und nehme den Topf entgegen, «Sehr aufmerksam von dir! Ich komme gleich wieder.» Ich bringe den kleinen Topf in meine Küche und gehe wieder zur Tür.
«Danke für die Blumen.», meine ich zwinkernd. Louie lacht und wir gehen los. Entspannt gehen wir nebeneinander und betreiben Smalltalk. Fünf Minuten später betreten wir das Café und setzen uns in die hintere Ecke. Ich erinnere mich an die Abmachung mit mir selbst und ein schwerer Klumpen bildet sich in meinem Magen.
«Louie, bevor wir was bestellen, muss ich dir noch etwas erzählen», mein Blick huscht zwischen ihm und der, beim Fenster stehenden, dunkelbraunen Speisekarte hin und her. Louie sieht mich überrascht an und legt die Hände auf den Tisch.
«Okay, schiess los.»
Ich verschränke meine Hände und lege sie vor mir auf den Tisch.
«Was weisst du über Asexualität?», ich schaue ihm in die Augen.
Er wiegt den Kopf hin und her. «Nicht besonders viel. Ich habe davon gehört, aber ich habe nicht wirklich eine Vorstellung davon. Wieso?»
«Ich bin asexuell.», fange ich an zu erklären, «Das heisst, ich verspüre keine sexuelle Anziehungskraft.» Ich hebe meinem Blick und sehe in ein nachdenkliches Gesicht.
«Du hast jetzt bestimmt Fragen», meine ich verständnisvoll. Alles läuft nach Plan
«Mhm», er lehnt sich etwas in den Stuhl zurück, «Okay, also du magst keinen Sex?»
Ich wäge den Kopf nach links und rechts: «Nicht ganz. Ich empfinde kein sexuelles Verlangen, aber die Nähe und Intimität, die dabei entsteht, mag ich durchaus. Du kannst dir das so vorstellen, dass ich Sex etwa so gerne mag, wie du ein bestimmtes Essen nicht gerne magst. Du isst es, wenn es sein muss, aber du würdest es dir nicht selbst kochen.»
«Aha», macht er und schaut mit gerunzelter Stirn auf seine Hände. Ich sehe ihm beinahe an, wie die Rädchen in seinem Kopf das Gesagte verarbeiten.
«Fehlt dir das nicht? Ich meine, hast du nicht manchmal das Gefühl, etwas zu verpassen?»
«Nein, definitiv nicht. Bevor ich zum ersten Mal tatsächlich Sex hatte, war ich schon auch etwas neugierig, wie sich das anfühlt. Aber nur weil ich kein sexuelles Verlangen habe, heisst das nicht, dass ich keinen Orgasmus haben kann.»
«Okay.»
Für einen Moment sagt niemand von uns etwas, dann erinnere ich mich an den Grund, wieso wir hier sassen.
«Wollen wir was zu trinken bestellen?»
Louie nickt: «Gute Idee, was möchtest du denn?»
Ich überlege kurz: «Ich glaube, ich nehme einen Margarita und du?»
«Klingt gut, ich nehme auch einen.»
Ich hebe die Hand und ein junger Mann kommt, um unsere Bestellung aufzunehmen. Kurz danach ist es wieder still am Tisch.
«Und was ist mit sich küssen? Knutschen?», kommen auf einmal die nächsten Fragen. Ich grinse ihn wissend an: «Bei mir hört es so zwischen Herumknutschen und sich ausziehen auf, aber das ist von Person zu Person unterschiedlich.»
«Okay, dann Herumknutschen gleich Ja. Sex gleich Nein.», fasst Louie zusammen, bevor er mich etwas verlegen anschaut, «Ist es in Ordnung, wenn ich einfach frage und wenn ich eine Grenze überschreite, schaust du böse und ich halte die Klappe?»
«Ja, ist gut. Danke fürs Nachfragen», innerlich vergeht mein Herz, es ist schön, dass er meine Grenzen nicht überschreiten wollte. Ich fühle mich wohler, ihm von mir zu erzählen, wenn ich weiss, dass ich jederzeit aufhören kann. Manche Menschen gehen einfach davon aus, dass wenn ich ihnen von meiner Asexualität erzähle, sie dadurch direkt das Recht haben mich über meine intimen Bedürfnisse und Gewohnheiten ausfragen zu können.
«Okay, gut», etwas überfordert fasst sich Louie in den Nacken, «Ist das immer schon so gewesen? Oder hast du mal etwas Schlimmes erfahren müssen oder so?»
«Ja, das war schon immer so, ich wusste es schon mit relativ jung. Damals hatte ich nur noch nicht die Worte, um es zu beschreiben oder zu erklären. Und nein, ich… mir ist nie etwas passiert.» Ich merke, wie Louie erleichtert aufatmet.
«Das ist gut zu hören.»
Der Kellner tritt an unseren Tisch und serviert uns die Margaritas.
«Danke», ich lächle ihn an und stosse dann mit Louie an, «Auf uns!» Louie grinst.
«Auf offene Kommunikation!» Ich lache befreit.
Louie nimmt einen Schluck. «Ich habe noch ein paar Fragen, wenn das in Ordnung ist?»
Ich nicke und er räuspert sich.
«Und dieser Mangel an Verlangen, kann es sein, dass er etwas mit deinem Hormonspiegel zu tun hat? Ich meine kann es sein, dass da was durcheinander ist?», er merkt, dass ich die Frage nicht so toll finde und spricht schnell weiter, «Sexuelles Verlangen wird durch Hormone und Botenstoffe ausgelöst und ich… tut mir leid, das war wohl eine ziemlich unangebrachte Frage»
Er wirkt zerknirscht und ich muss schmunzeln.
«Nein, nein alles gut. Irgendwo hast du ja auch etwas recht, aber Asexualität ist angeboren, da ist nichts falsch. Mein Hormonhaushalt funktioniert einfach anders, aber das heisst nicht, dass er falsch läuft. Glaub mir, ich habe das auch schon abgeklärt.»
Nachdem Essen sitzen wir noch eine Weile zusammen und schliesslich finden sich unsere Hände über dem Tisch. Draussen wird es dunkel und wir bemerken, dass wir die einzigen Gäste sind. Etwas verlegen bezahlten wir und der Kellner wirft uns einen wissenden Blick zu, den ich etwas verärgert erwiderte. Immer diese Erwartungen sind anstrengend. Louie zieht mich grinsend aus dem Diner. Händehaltend spazieren wir in die Richtung meiner Wohnung. Als wir vor meiner Wohnungstür ankommen, stelle ich mich mit dem Rücken zur Tür.
«Danke für den schönen Abend. Es hat gut getan mit jemandem über meine Asexualität zu sprechen, der so verständnisvoll ist.», ich schaue lächelnd zu Louie hoch, er erwidert meinen Blick.
«Gerne, und das sollte eigentlich selbstverständlich sein. Ist ja das absolute Minimum.», antwortet er und, ohne mir zu nahe zu kommen, fragt er leise, «Wäre es jetzt sehr unverschämt, wenn ich dich küssen würde?» Schmetterlinge fliegen auf.
«Nein, wäre es nicht, wenn du schon so lieb fragst.»
Er lächelt und beugt sich langsam zu mir herunter. Der Kuss ist behutsam und liebevoll.
Louie löst sich sanft von mir, flüstert, «Gute Nacht», er dreht sich um und geht. Ich stehe noch ein paar Sekunden dort, bevor ich meine Haustür aufschliesse und hineingehe.
Barfuss gehe ich in der Küche und nehme den kleinen Topf in die Hände. Die kleinen Blüten haben sich inzwischen geschlossen, doch ihre Farbe sieht man trotzdem.