Was ist neu

Blick nach Osten - der sterbende Töns

jbk

Mitglied
Beitritt
17.06.2003
Beiträge
428

Blick nach Osten - der sterbende Töns

Töns schaute besorgt in die Morgendämmerung am Horizont. Sein Gesicht lag in tiefen, gefurchten Falten und sein Blick war müde, war schwer. In der einen Hand hielt er die Früchte seiner Mühen, in der anderen einen Bolzenschneider.
Töns bewirtschaftete sein Land seitdem er denken konnte. Immer schon war er früh morgens aufgestanden und spät abends heimgekehrt, hatte auf den Feldern gearbeitet und Geld für die Familie verdient.
Töns hatte diesen Tag gefürchtet. Nun aber war er gekommen. Gleich musste er den meterhohen Zaun, der all seine Felder umzäunte, einreißen. Und nicht nur sein Zaun musste weichen, auch alle anderen Zäune, die die Felder der anderen Landwirte abschirmten, durften nach Sonnenaufgang nicht mehr stehen. Aber was das allerschlimmste war: Nicht nur alle Zäune der Felder, sondern auch der eine, große Zaun, der die Stadt umfasste, würde der Vergangenheit angehören.
Töns schaute in seine Hand. Die Körner der Ähren, mit denen er aufgewachsen war, um die er sich Jahr für Jahr gekümmert hatte, liebevoll und aufopfernd: Was würden sie bei Sonnenaufgang noch wert sein? Während die Zäune noch standen, hatte er die Ernte immerzu in der Stadt zu akzeptablen Preisen verkaufen können. Dafür hatten die Leute in den hohen Positionen gesorgt. Auch wenn das Angebot zu groß war, kauften sie die Ernte auf und lagerten sie anschließend ein.
Doch das, so fürchtete Töns, gehörte nun der Vergangenheit an. Nachdem die Zäune beseitigt worden sind, würden mit der aufgehenden Sonne viele Händler kommen, die ebenfalls ihre Ernten verkaufen wollen. Sehr viele Händler, die größere Felder haben und die weite Reise nicht scheuen. Sie würden ihre Ernten zu billigen Preisen verkaufen, weil diese immer noch höher lagen als in der fernen Region, weitab von jeglichen Städten. Die Speicher würden sich mit Korn füllen wie sich die Stadt mit Menschen füllen würde, da die Leute in den hohen Positionen nun auch an die neuen Händler zahlen mussten. Letztlich bliebe für die alteingesessenen Landwirte weniger, für die neuen mehr übrig.
Töns hatte Angst. Würde er in Zukunft noch soviel für seine Ernte bekommen, dass es für sein Leben reicht? Er lebte zeitlebens weder in Luxus noch in Armut. Doch würde das auch so bleiben?
Töns schaute auf den Bolzenschneider. War er nicht das Symbol für seinen Untergang? Würde nicht mit jedem Schnitt in den Zaun ein Schnitt in seine Lebensader einhergehen? Er würde Schnitt um Schnitt ausbluten und sein Blut würde die Felder derer tränken, die bald aus dem Horizont Richtung Stadt strömen würden!
Sein Blick verfinsterte sich. Wer kam überhaupt auf die Idee, die Zäune einzureißen? Wer nahm sich das Recht heraus, dies zu veranlassen? Hatten sie alle nicht immer gut gelebt innerhalb der Zäune? Es hatte einen guten Grund, diese Zäune überhaupt erst aufzustellen! Man lebte sicherer und sorgloser mit ihnen! Ohne sie aber war die Sicherheit hin und mit ihrem Fall gedieh die Sorge um die Zukunft!
Doch was konnte er schon machen? Die Leute in den höheren Positionen haben es so veranlasst. Gegen ihre Entscheidung war das Leben eines Mannes nichts wert. Ihre Entscheidung war sein Todesurteil.
Töns blickte wieder zum Horizont. In der aufgehenden Sonne zeichneten sich die Zäune in einem blutigen Rot ab. Und ganz weit dort hinten, so meinte er zu erkennen, sah er schon die Lastwagenkolonnen rollen…

 

Hallo jbk,

Deine Geschichte hat mir gut gefallen. Thematisch habe ich sie natürlich insbesondere aufgrund der Aktualität mit der Aufnahme der zehn neuen Länder in die EU in Verbindung gebracht, ich denke das hast Du beabsichtigt? Die Angst des einfachen Bauern bringst Du gut rüber und machst deutlich, wie schwierig es ist die großen Entwicklungen von unten mit Unterstützung der Bevölkerung wachsen zu lassen. Insofern reagiert der Bauer sehr verständlich: er weiß nicht, was auf ihn zukommt und fühlt sich bedroht, klar.

Sprachlich ist mir nur ein Satz aufgefallen:

Nachdem die Zäune beseitigt worden sind, würden mit der aufgehenden Sonne viele Händler kommen, die ebenfalls ihre Ernten verkaufen wollen.
Hier ist m.E. ein Zeitensprung drin, da die Zäune ja erst in der Zukunft beseitigt werden.

Liebe Grüße,
Juschi

 

Hi Juschi,

verspätete Antwort, ich weiß.
Danke fürs Lesen.
Die Thematik haste erfasst! :)

Lg
Jan

 

Ich weiß nicht so recht was ich zu dieser Geschichte sagen soll, weil das Thema eigentlich nicht zu dem gehört, was ich hier lesen will (=> bereits von der Öffentlichkeit breit getretene Themen).

Dein anvisiertes Ziel die EU zu kritisieren, hast du erreicht. Seit dem Erwähnen der Zäune der Stadt, die eingerissen werden müssten, war mir klar um was es in dieser Geschichte geht.... Diese EU-kritischen Gedanken hast du deutlich zu erkennen in den Fokus gerückt.

Trotzdem nicht eine jener Geschichten die mich persönlich begeistern.

 

Das war eine der Geschichten, die innerhalb von ein paar Stunden eines Nachmittages geschrieben wurden.
Ich verstehe deine Kritik deshalb auch. Sie ist absolut nachvollziehbar.
Irgendwie fehlt das "gewisse etwas".
Sie war auch mehr als ein gedankliches Experiment in Richtung der Abivorbereitung in Erde gedacht...
Naja - never mind.

Danke trotzdem fürs Lesen.

Lg
Jan

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom