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Blindtext
Blindtext
So, gut. Du hast angefangen mich zu lesen. Da kommst Du nicht mehr raus. Gerade jetzt in diesem Moment denkst Du Dir, mhh, was ein komischer Text. Stimmt´s? Um es mal kurz zu fassen: Du bist mir hilflos ausgeliefert. Wenn Du direkt jetzt aufhören würdest zu lesen, was natürlich nicht geht, da das Wort „jetzt“ schon längst vorbei ist, hättest Du vielleicht noch eine Chance. Eine sehr gute Chance sogar. Doch Du hörst ja nicht auf, stimmt´s? Du liest brav weiter. Wenn ich hier und jetzt abrupt aufhören würde, würdest Du Dir denken – mein Gott, was ein Schwachsinn. So ist es doch. Aber ich höre hier nicht auf, und Du liest immer noch weiter. Du kannst einfach nicht aufhören. Ich könnte Dich sogar beleidigen. Hey, Du verdammter Versager! Du widerliche Schabracke! Hör SOFORT auf, mich zu lesen, verdammt!
Siehst Du? Du liest immer noch weiter. Möglicherweise mit einem dezenten Lächeln auf den Lippen, möglicherweise leicht geschockt, möglicherweise vollkommen ausdruckslos. Dennoch liest Du weiter. Verstehst Du nicht, dass Du keinen konkreten Nutzen aus mir, diesem Text, ziehen wirst? Du liest und liest und liest. Hach ja. Lesen ist was Tolles. Aber der Text, den man Liest, beziehungsweise das Gedicht, die Novelle, von mir aus einfach die Gebrauchsanleitung von irgendeinem Krempel – es muss Sinn machen. Ich mache bislang keinen Sinn. Dennoch bist Du voll dabei. Ich habe Dich in der Hand. Du bist mir absolut hilflos ausgeliefert. Wahrscheinlich verstehst Du es noch nicht ganz.
Betrachte es mal von dieser Seite: Jetzt gerade, da Du mich liest, sind Deine Augen auf das Blatt Papier oder den Bildschirm, auf dem ich stehe, geheftet. Du wirst sie nicht abwenden. Eventuell schaust Du heimlich hin und wieder hoch und taxierst Dein Umfeld, aus Angst, Du könntest etwas verpassen. Allerdings ist Dein Blick die meiste Zeit auf mich hier, schwarz auf weiß, gerichtet. Ich habe Dich eines Deiner wichtigsten Sinnesorgane beraubt. Ist Dir das jetzt endlich klar?
Du hast jetzt die Chance aufzuhören. Du wirst damit besser leben. Los...leg mich einfach aus der Hand. Oder drücke Alt + F4, und das Fenster schließt sich und ich bin weg. Los schon...worauf wartest du?
Ich weiß es. Du bist neugierig. Verdammt neugierig. Tief in deinem Inneren sprechen zwei Stimmen zu dir. Die eine fleht, „bitte, los, dieser Text ist krank, leg ihn weg. Du hast nichts davon.“. Eine andere Stimme jedoch, ganz klein und leise, dennoch absolut präsent, suggeriert: „Du kannst nicht aufhören. Du musst ihn zuende lesen. Sonst würdest du nicht erfahren, was noch in ihm steht!“ Es ist klar, für welche Stimme Du Dich entscheidest. Wer an dieser Stelle tatsächlich aufhört und auch nicht wieder anfängt, erhält meinen allerhöchsten Respekt. Wirklich. Aber wer macht das schon?
Niemand! Du liest weiter. Und weiter. Dabei bist Du prinzipiell schon Deiner Augen beraubt. Doch nicht nur das: Während Du lest, denkst Du auch zum Großteil an das, was hier steht. Das bringt die Tätigkeit des Lesen nun mal mit sich. Ich halte Dich in gewisser Weise gefangen. Augen, Geist. Forschungen besagen, dass durch das Lesen auch das Gehör beansprucht wird und an Genauigkeit einbüßt.
Siehst du denn nicht, dass es hoffnungslos ist? Du tätest dir selbst mehr als einen Gefallen, wenn du nun das Lesen abbrichst. Langsam verliere ich nämlich die Geduld. Eine so glasklare Dummheit wie die Deine ist mir selten untergekommen. Jetzt sagst Du sicherlich: „Jeder spannende Text fesselt seine Leserschaft.“ Fuck off, sage ich. Ich bin nicht spannend. Und auch nicht gut. Und Du kannst aus mir auch keine filigran ausgearbeiteten Stilmittelchen saugen und schon gar nicht eine tiefere Moral in mir entdecken, über die Du weiß Gott noch wie lange nachsäuselst. Ich bestehe nur aus Zeichen, die sich vor Jahrtausenden mal jemand überlegt hat und die zu sogenannten „Wörtern“ und „Sätzen“ zusammengefasst wurden und nun auf einem toten Stück Baum abgedruckt sind. Mehr ist das nicht. Und Du bist so dämlich, und verschwendest Deine Zeit.
Zeit!
Das ist es, was ich Dir stehle. Ich sauge Dich aus von dem, was in Eurem Leben doch ach so wichtig ist: Zeit. Man könnte mich auch Zeit-Dieb nennen. Den Zeitsauger. Zeitparasit. Das gefällt mir. Für eine bestimmte Zeit bin ich Dein Parasit. Ich beraube Dich deiner Augen, deines wachen Geistes und deiner Zeit. Und Du liest immer noch weiter. Findest Du das nicht sadistisch?
Warum liest Du weiter?
Warum?
Ist Dir klar, dass ich aufhöre zu existieren, wenn Du nicht mehr weiterliest? Ich habe nur eine Bitte: Bitte denk nach meinem Tod nicht länger über mich nach. Es wäre mir einfach zu peinlich, von jemandem gelesen worden zu sein, der so dämlich ist, sich über verbalen Abfall wie mich auch noch Gedanken zu machen.
Danke sehr.
Und nun hör endlich auf.
Ah – welch Wohltat. Endlich Ruhe.