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Blueberry Child

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19.01.2004
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Blueberry Child

Sein Atem setzte aus. Die Lungen gaben nur noch kurze, rasselnde Geräusche von sich, als er versuchte, sich aufzurichten. All die feinen Härchen in seinem Nacken standen ihm zu Berge, durchzogen von derselben Angst, die auch seine Atmung gefangen hielt. Im Zelt war es stockdunkel und es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen daran gewöhnt hatten. Annie lag neben ihm, schlief tief und fest, wie ein Baby. Draußen war es still. Joe wischte sich den Schweiß von der Stirn und versuchte, seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen. Es verstrichen einige Minuten bis er sich beruhigt hatte, dann kroch er aus seinem Schlafsack und krabbelte hinüber zum Eingang des Zeltes, um einen Schluck Wasser zu trinken. Zügig leerte er die Flasche und dachte nach. Nur bruchstückhaft konnte er sich an die Bilder aus seinem Traum erinnern. Es waren schreckliche, verstörende Dinge, die sich vor ihm abgespielt hatten, soviel wußte Joe. Doch was genau hatte er gesehen? Er erinnerte sich nur daran, dass er plötzlich keine Luft mehr bekommen hatte und zu ersticken drohte und dieses Gefühl hallte auch jetzt noch in seinem Körper wider, dessen Fesseln sich nur langsam lösten. Zögernd legte sich Joe auf seinen Schlafsack, der feucht war von seinem Schweiß, versuchte einzuschlafen, doch es gelang ihm nicht. Was hatte ihm nur solche Angst gemacht? Und wieso hatte er immer noch das Gefühl, etwas würde in seinem Hals stecken und ihm die Luft abdrücken? Ein letztes Mal blickte er hinüber zu Annie, die sich inzwischen auf die Seite gedreht hatte, dann schloss er die Augen. Ein dichter Nebelschleier legte sich über seinen Kopf, ließ seinen Körper schwer werden und drückte ihn auf die Erde. Joe ließ Annie und das Zelt hinter sich und fand sich zwischen unzähligen Blaubeersträuchern wieder. Vorsichtig sah er sich um. Dann plötzlich konnte er sich an diesen Ort erinnern. Er war schon einmal hiergewesen. Und obwohl er wußte, was ihn hinter dem dicht wuchernden Gestrüpp erwartete, kehrte er nicht um, sondern folgte einem schmalen Pfad durch die Sträucher, und merkte, wie sich mit jedem seiner Schritte die Schlinge um seinen Hals ein Stückchen enger zog.

Als Annie erwachte und nach dem warmen Körper ihres Freundes tastete, fand sie lediglich einen leeren Schlafsack vor. Vermutlich, so dachte sie, hatte Joe wieder nicht schlafen können. Die Tour durch die Blackmore-Woods war seine Idee gewesen. Wie besessen hatte er davon geredet, wochenlang, bis Annie endlich eingewilligt hatte. Doch schon nach einigen Tagen in den Wäldern schien er sich nicht mehr wohl zu fühlen. Er schlief kaum, war ständig in Gedanken versunken und Annie begann langsam, sich Sorgen zu machen.
Noch ganz verschlafen öffnete sie den Reißverschluss des Zelteingangs und warf einen Blick hinaus. Es war ein klarer, sonniger Morgen und die Vögel zwitscherten vergnügt in den Baumwipfeln, durch deren Blätterdach vereinzelte Sonnenstrahlen fielen. Die kleine Lichtung, auf der Annie und Joe ihr Zelt aufgeschlagen hatten, machte einen freundlichen Eindruck, war umringt von hohen Farnen und Gräsern und es roch nach feuchtem Moos und frischer Rinde. Annie atmete tief ein und genoss die Leichtigkeit, die sich in ihr ausbreitete. Doch weshalb ging es ihr in dieser Natur so gut und ihrem Freund, dessen Vorschlag diese ganze Sache gewesen war, auf einmal so schlecht? Sie beschloss hinunter zum Fluss zu gehen um sich zu waschen und nach Joe zu suchen. Gemütlich schlenderte sie hinüber zu einer weißen Wäscheleine, die sie am östlichen Rand der Lichtung angebracht hatte, klemmte sich ein schwarzes Leinenoberteil und ihre beigen Hosen unter den Arm, zog sich ihre Sandalen über und spazierte dann, mit nichts weiter als ihrer Unterwäsche am Körper, einen kleinen Trampelpfad entlang, der zum Fluss führte. Die vielen Blätter streichelten ihre nackte Haut, hin und wieder kitzelten sie auch ein wenig, sodass Annie vergnügt kichern musste. Auch entlang des Flussufers war Joe nirgends zu entdecken, doch Annie blieb gelassen. Sie legte ihre Kleidung auf einen großen Stein, streifte die Sandalen wieder ab und tastete sich behutsam ein Stück in das kühle, klare Wasser. Gerade als sie sich gebückt hatte, um mit den Händen das erfrischende Nass über ihren müden Körper zu verteilen, zögerte sie plötzlich. Etwas an ihrem Spiegelbild störte sie. Es waren einige dunkle Stellen an ihrem Hals, die ihre Aufmerksamkeit erregten. Als Annie mit ihrer Hand darüber fuhr, blieb eine violette, klebrige Flüssigkeit an ihren Fingern hängen, die sie ratlos anstarrte. Sie roch süßlich und Annie glaubte, sie hätte auf dem Weg zum Fluss einen Gestrüpp mit Beeren gestreift. Noch einmal blickte sie ins Wasser, doch es war nichts Genaueres zu erkennen. Sie erinnerte sich daran, dass sie ihren Reisespiegel am vorherigen Abend in die Hose gesteckt hatte. Verwirrt und neugierig zugleich wühlte sie in ihrer Kleidung und fand den kleinen Spiegel in einer der Hosentaschen. Annie klappte ihn auf und blickte hinein, doch sie traute ihren Augen nicht. Vor lauter Schreck fiel ihr der Spiegel aus der Hand und zersprang auf dem steinigen Boden in tausend Scherben. Obwohl sie nur einen kurzen Blick auf ihren Hals geworfen hatte, war sie sich sicher: die Flecken hatten die Form von Händen. Zwei violette Handabdrücke klafften auf ihrem Hals. Es sah beinahe so aus, als hätte jemand versucht, sie zu erwürgen. Annie bekam Panik. Schlagartig fuhr sie herum und suchte mit den Augen das Ufer ab um sicher zu gehen, dass sie allein war. Wie kamen diese klebrigen Abdrücke auf ihren Hals? Hatte ihr wirklich jemand im Schlaf die schmutzigen Hände um die Kehle gelegt und versucht, sie zu erwürgen? Wer würde so etwas tun? Und wieso war Joe nirgends zu finden? Wo zum Teufel war Joe?

Das Wasser schlängelte sich sprudelnd durch die Felsen. Beim Zerspringen des Spiegels war Joe in seinem Versteck hochgefahren. Er hatte, verborgen hinter den dicken Stämmen der Bäume, mitangesehen, wie Annie die Abdrücke auf ihrem Hals entdeckt und sie wenig später abgewaschen hatte. Er ahnte, wie sie sich fühlen mußte, denn ihm selbst war es Angst und Bange geworden, als er diese Flecken auf ihrer weißen Haut gesehen hatte. Sie waren ihm gleich aufge-fallen, kurz nachdem er aufgewacht war. Er hatte nach Erklärungen dafür gesucht, doch wie er es auch anging, er kam jedesmal zu dem Schluss, dass es seine Handabdrücke waren und dass er es gewesen sein mußte, der diese Frau, seine geliebte Annie, töten wollte. Aus diesem Grunde hatte er das Weite gesucht, wollte nachdenken, sich eine Erklärung dafür einfallen lassen, was vorgefallen war. Mit einem Mal wurde ihm klar, wie absurd das alles schien. Hier saß er, versteckt im Unterholz, und beobachtete Annie, seine Freundin, wie ein psychopathischer Spanner. Könnte ich mich doch nur an die letzte Nacht erinnern, dachte er sich. Doch sein Kopf blieb leer. Die Tränen standen ihm bereits in den Augen, denn wenn sein Blick nicht auf die ängstliche Frau am Flussufer gerichtet war, so streifte er jedesmal hinunter zu seinen violett gefärbten Händen, die zitternd auf seinen Schenkeln lagen.

Ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wie sie mit der Situation umgehen sollte, lief Annie zurück zum Zelt. „Weshalb hätte Joe soetwas machen sollen?“, fragte sie sich auf dem ganzen Weg dorthin. Als sie bei der Lichtung ankam, fühlte sie sich etwas sicherer. Der erste Schreck war verflogen und das warme Sonnenlicht strahlte eine beruhigende Wärme aus. Annie beschloss, genau hier auf ihren Freund zu warten. Vielleicht gab es eine ganz simple Erklärung für das alles, auch wenn sich Annie nicht im geringsten vorstellen konnte, wie diese lauten sollte. Hatte sie sich das alles vielleicht doch nur eingebildet?
Beim Anblick des strahlend blauen Himmels kam ihr das Erlebte plötzlich gar nicht mehr so beängstigend vor. Sie setzte sich vor den Eingang des Zeltes und verschränkte die Arme, fest entschlossen, für all das eine vernünftige Erklärung zu finden. Eine leichte Brise kam auf, die einen zitronengelben Schmetterling hoch in die Lüfte trug, ihn über Annies Kopf schweben ließ bis weit über das Zelt hinaus. Annies Blick folgte ihm und sie begann zu lächeln. Die Sonne wärmte ihr Gesicht, die Angst war vom Wind davongetragen worden, genau wie der Schmetterling. Annie wandte sich nach ihm um, doch statt des fröhlich dahinflatternden Zitronenfalters erblickte sie zwei blutrote, tote Augen, die sie aus dem Zelt heraus anstarrten, sie mit ihrer unablässlichen Kälte durchbohrten. Noch ehe ihr die Bedeutung dieses Anblicks bewußt wurde, fühlte sie zwei leichenblasse Hände nach ihr grabschen, fühlte, wie sich zwei steife Arme um ihren Körper legten und versuchten, ihr mit aller Kraft die Luft abzudrücken.

Als Annie ihre Augen öffnete, erblickte sie als erstes Joe, der neben ihr saß und sehr besorgt dreinschaute. Obwohl sie immer noch die eisigen Handabdrücke auf ihrem Körper spürte, fühlte sie sich etwas besser.
„Wie geht es dir?“, fragte Joe mit sanfter, liebevoller Stimme und strich ihr dabei behutsam die krausen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Annie versuchte zu antworten, doch es stiegen nur krächzende Klagelaute aus ihrem Hals empor. Joe legte sich neben sie und drückte sich beschützend an ihren Körper.
„Ich habe keine Ahnung was hier vorgeht, mein Liebling, aber ich möchte das du weißt, dass ich dir niemals weh tun würde, in Ordnung?“ Er blickte erwartungsvoll in Annies müde Augen und ihm schien ein Stein vom Herzen zu fallen, als sie nickte. Doch tief in Annie fand ein Kampf statt. Das Vertrauen zu Joe war gebrochen, nicht weil sie ihn verdächtigte, sondern aus Prinzip. Sie konnte sich ja noch nicht einmal mehr selbst trauen. Was hatte sie gesehen? Was hatte sie da angegriffen? Dieses Ding konnte unmöglich existieren. Dieses widerwärtige Monster, das sie gesehen hatte, konnte lediglich ihrer Phantasie entsprungen sein. Es gab keine andere Erklärung dafür. „Vielleicht war alles nur ein furchtbarer Traum.“, versuchte sie sich einzureden. Doch wenn es so war, weshalb schmerzten ihre Schultern dann, als ob man sie mit einem Hammer zerschmettert hätte? Und wieso war sie erneut am ganzen Oberkörper mit diesem klebrigen, violetten Teufelszeug beschmiert? Seufzend schloss sie die Augen und fiel gleich darauf in einen tiefen Schlaf.
Die Nacht hatte sich angeschlichen, lautlos und hinterlistig, wie sie es immer tat. Annie würde vor dem Morgengrauen wohl nicht mehr erwachen und auf gewis-se Weise ängstigte das Joe. Denn er versuchte, nicht einzuschlafen. Er wollte sich nicht der Hilflosigkeit seiner Träume ausliefern, wollte nicht die Kontrolle über seinen Körper verlieren. Denn vielleicht war es sein Körper gewesen, der Annie bedroht hatte. Eine Weile saß er reglos da und dachte nach.
Annie hatte, als sie noch ein Kind gewesen war, mit ihren Eltern hier in der Gegend gelebt, und Joe hatte gedacht, sie würde sich darüber freuen, nach so langer Zeit an diesen Ort zurückzukehren, doch sie wollte nicht. Aus welchem Grund waren sie dann beide hier? Wie kam es, dass er stundenlang auf Annie eingeredet hatte, sie solle mit ihm eine Tour durch diese Wälder machen? Er hatte sie mit allen Mitteln überreden müssen, mitzukommen. Und jetzt, da er hier in diesem Zelt saß und sich fragte, weshalb er diese Tour machen wollte, fehlten ihm die Antworten. Und das war nicht alles. Es kamen auch noch diese seltsamen Ereignisse hinzu, die ihn – einen achtundzwanzigjährigen, kräftigen Kerl – ängstlich und zusammengekauert in einem Zelt verharren ließen, mit Alpträumen, an die er sich nicht erinnern konnte, einer Freundin, die von ihm oder jemand anderem angegriffen worden war und dem Gefühl, von allen Seiten, sogar von der Dunkelheit selbst, beobachtet zu werden, bei jedem Atemzug den er tat. All das ergab keinen Sinn und Joe machte sich fast ein bisschen über sich selbst lustig. Vor wem oder was hatte er denn nun eigentlich Angst? „Du alter Schisser!“, beschimpfte er sich selbst, während er sich auf den Rücken legte und hin-auf zur Zeltdecke starrte. „Reiss dich mal zusammen! Was soll denn Annie von dir denken? Du weißt nicht, ob es deine Handabdrücke auf ihrem Hals waren. Du weißt noch nicht mal, was in deinen Träumen passiert ist und hast trotzdem Angst davor! Du bist wirklich erbärmlich!“ Annie wälzte sich im Schlaf herum und ihre plötzlichen Bewegungen rissen Joe aus seinen Gedanken. Sie schien schlecht zu träumen, schlug mit den Händen immer wieder um sich und murmelte wirres Zeug. Joe überlegte, ob er sie wecken sollte, dann wurde er darauf aufmerksam, was sie sagte. Eigentlich konnte man kaum etwas verstehen, doch einen Satz wiederholte sie immer und immer wieder:
„Ich habe sie umgebracht ... ich habe sie umgebracht.“
Während Joe seine Freundin fassungslos anstarrte, bemerkte er nicht, dass draußen vor dem Zelt etwas saß und im Schutz der Finsternis lauerte. Es wartete auf den richtigen Zeitpunkt. Es wartete darauf, ins Zelt zu kriechen um Annie die Bauchdecke aufzureißen und ihre Eingeweide an den Ästen der Bäume aufzuhängen, wie bunte Girlanden. Es wollte ihr die Augen auskratzen, ihr die Luft abdrücken bis sie blau anlief, sie zu Tode quälen und sie langsam verbluten lassen, wie ein abgestochenes Schwein. Doch es wußte, dass es das nicht allein schaffen würde. Beim ersten Versuch hatte es nicht geklappt. Es brauchte Hilfe. Jemanden, der dies an seiner Stelle erledigen würde. Jemanden, der verunsichert war und sich durch seine Träume leicht beeinflussen ließ.
Eine weitere Stunde verging, dann fielen Joe vor Müdigkeit die Augen zu. Er brauchte Schlaf, um neue Energie sammeln zu können. Und es war ihm egal, ob er wieder Alpträume bekam. Sollte dies der Fall sein, dann würde er einfach mitspielen. Denn ob gut oder schlecht, es waren im Grunde doch nur belanglose Träume. Und die konnten einem nichts anhaben, da war er sich sicher.

Dicke, reife Beeren hingen zwischen den Blättern, auf ihnen lag ein schillernd violetter Glanz. Joe blickt hinunter auf seine Hände und wußte, dass die Verfärbung von diesen Früchten gestammt haben mußten. Er ging einen schmalen Weg entlang, der mitten durch die vielen Sträucher führte, die über und über mit Blaubeeren behangen waren. Plötzlich blieb er stehen, lauschte, und fühlte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Es klang wie ein leises Kichern. Joe zögerte, versuchte, noch genauer hinzuhören. Da war es wieder und es schien näher zu kommen. Das Knacken von Zweigen, ein leises Rascheln im Unterholz und flüsternde Stimmen. Es bewegte sich, im nächsten Moment war es hinter ihm, dann plötzlich sprang etwas aus dem Wald und Joe fuhr zusammen. Es waren zwei Mädchen, die kreischend durch das Grün jagten, beide mit großen Körben unter den Armen. Sie sammelten die reifen Beeren ein. Joe schien für sie unsichtbar zu sein und er begriff, dass dies ein Traum sein mußte. Er erinnerte sich, das alles schon einmal erlebt zu haben und folgte den Kindern ein Stück die Böschung hinunter, blieb dann zwischen ein paar Birken stehen und verfolgte die Geschehnisse, beinahe wie einen Film auf der Leinwand. Zunächst gefiel Joe dieser Film, doch mit der Zeit veränderte er sich. Die Bäume warfen lange Schatten, dunkel und bedrohlich, bis sie alles um sich in tiefe Schwärze getaucht hatten. Einen Moment lang wollte Joe hinunter zu den Kindern gehen, um sie zu beruhigen, doch als er näher kam, wurde ihm klar, dass es sich wiederholen würde. Das, was er beinahe jede Nacht gesehen hatte, seit sie in diesen verfluchten Wäldern unterwegs waren. Jene grauenvolle Dinge, die hinter den Blaubeerbüschen vorgefallen waren, vor langer Zeit.
„Du darfst sie nicht essen, Annie. Wenn du wieder mit einem leeren Korb nach Hause kommst, dann wird Dad böse sein. Ich will nicht, dass er böse wird!“
Das andere Mädchen saß neben ihrem Korb und aß die gesammelten Blaubeeren, schien geradezu besessen von ihrem fruchtigen, herben Geschmack. Ihr Gesicht war ganz verschmiert vom Saft der Früchte, ebenso ihre Hände und das Kleid. Sie sah auf und ihre Augen funkelten hinterlistig: „Mach dir keine Gedanken. Dich schlägt er nie! Er würde dich nicht mal schlagen wenn du ihn ein dummes Arschloch nennen würdest. Er würde sagen, dass es meine Idee war und dann würde ich die Prügel bekommen. Weil du seine kleine Prinzessin bist!“
„Das ist nicht wahr! Ich bin nicht seine kleine Prinzessin! Er wird nur böse, wenn wir die Beeren essen.“
Doch anstatt ihn zu schlichten, entfachte dieser Einwand den Streit nur noch mehr und Joe lief es kalt den Rücken hinunter, denn er wußte, was ihm unmittelbar bevorstand, er wußte, was seine Augen in wenigen Sekunden zu sehen bekamen und diese Vorstellung machte ihn wahnsinnig. Er konnte nicht eingreifen. Er war zum Zusehen verdammt.
„Daddys Liebling, unsere kleine Prinzessin! Unser Blueberry Child! Vielleicht sollte ihm jemand sagen, dass seine kleine Prinzessin gestern in ihr Bettchen gemacht hat!? Vielleicht fängst du dann auch eine, Carol!?“
Annie ballte die Fäuste, fuchtelte wild gestikulierend herum und lachte, während sich in Carols Augen die Tränen sammelten.
„Er wird kommen und dir eine runterhauen. Vielleicht kriegst du sogar eine in den Magen, so wie ich letztes Mal. Oder er nimmt den Gürtel! Na, wie würde dir das gefallen? Wie wäre es, wenn Daddy dir mit seinem Gürtel den Rücken blau prügelt und dir danach einen deiner hübschen Zähne ausschlägt?“
Carol drückte sich die Hände auf die Ohren und weinte, doch Annie ließ nicht von ihr ab und steigerte sich immer weiter in ihre Wut hinein.
„Wie wäre es wohl, wenn du heute mit einem leeren Korb nach Hause kommen würdest, Carol? Dann wird Daddy auf dich böse sein und nicht auf mich.“
Annie stand auf und griff in Carols Korb, holte eine handvoll Beeren heraus und hielt sie ihr vor das Gesicht. „Da, iss! Iss sie alle auf, sie schmecken herrlich!“ Als Carol in Annies Augen blickte, spiegelte sich nackter Hass darin. Dann fühlte sie, wie eine Hand ihren Hals packte, wie der violette Saft der Beeren an ihrer Haut kleben blieb. Annie versuchte, ihr die Beeren in den Mund zu stopfen und es gelang ihr auch. Es wurden immer mehr, zu viele. Und die Hand drückte immer fester zu. Carol stieß um sich, doch es nütze nichts und sie bekam Panik. Alles ging so schnell, alles drehte sich. „Iss sie, dann werde ich Daddys Blueberry Child sein!“ Und Annie lachte - lachte, während die Luft in Carols Hals keinen Platz mehr fand. Das dicke violette Muß zwängte sich durch ihren Rachen, bahnte sich seinen Weg hinunter in Carols Körper, wurde von ihm erbrochen, blieb ihr im Halse stecken, denn der Weg war versperrt. Carol versuchte ein letztes Mal, Annie wegzustoßen, doch es gelang ihr nicht und als die Hand endlich von ihr abließ, lag sie mit weit aufgerissenen Augen da, ohne jede Bewegung. Auf der bleichen Haut ihres Halses klafften zwei violette Handabdrücke. Carol atmete nicht mehr.

Zuerst fielen nur ein paar vereinzelte Regentropfen auf das Zeltdach, wenige Minuten später prasselte ein ganzer Wolkenbruch hinunter auf die Erde. Ein Gewitter zog auf, wutentbrannt grollte der Donner über den Baumwipfeln, begleitet von grellen Blitzen, die die Nacht für Sekundenbruchteile erhellten. Joe saß kerzengerade und schwer atmend in der Dunkelheit und versuchte, ruhig zu bleiben, denn dieses Mal konnte er sich an seinen Traum erinnern. Ab und zu zuckte das weiße Licht eines Blitzes durch das Zelt und machte den schlafenden Körper einer jungen Frau sichtbar, die Joe bis vor wenigen Minuten zu kennen geglaubt hatte. War die kleine Annie im Traum seine Annie gewesen? Seine gebliebte Freundin? Es passte alles zusammen. Ihre Schwester, Carol, hatte mit neun Jahren einen tödlichen „Unfall“ gehabt, zumindest wurde ihm das so gesagt. Annie hatte so betroffen ausgesehen, als sie davon sprach, so unglaublich traurig. Alles nur Maskerade? Joe fand keine Antworten, die ihn zufriedenstellen konnten. Und obwohl es ihm missfiel, derartige Anschuldigungen aufgrund eines Traumes ins Leben zu rufen, spürte er eine Wut in sich aufsteigen, die er bisher noch nicht gekannt hatte. Es war diese Art von Wut, die Menschen unter ihre Kontrolle bringt und deren Verstand für kurze Zeit ausschaltet. Joe erinnerte sich daran was Annie im Schlaf gesagt hatte. „Ich habe sie umgebracht.“ waren ihre Worte gewesen. Hatte sie wirklich ihre eigene Schwester getötet?
Eine leise, kaum wahrnehmbare Stimme raunte durch das Zelt und Joe bekam eine Gänsehaut. „Ja.“, sagte sie und Joe erstarrte, wagte kaum sich umzusehen. Ein Blitz zuckte auf und für einen Moment glaubte Joe, eine kleine Gestalt in der Ecke des Zeltes zu sehen. Als es wieder dunkel wurde, blieben von ihr nur zwei rote Augen zurück, die Joe anstarrten. „Ja.“, flüsterte sie erneut und dieses Mal war es deutlicher zu hören. Das tiefe Stöhnen wurde ebenfalls lauter, verwandelte sich in ein aufgebrachtes Röcheln, und übertönte bald sogar den strömenden Regen. Kalter Schweiß lief über Joes Nasenspitze und erst jetzt bemerkte er, dass er am ganzen Leib zitterte wie Espenlaub.
„Rache, süß wie die Früchte des Waldes. Süß wie die blauen Beeren, die in meinem Halse stecken, bis das Miststück stirbt!“
Die rot glühenden Augen kicherten, dann bewegte sich etwas und plötzlich war es hinter Joe, der nicht mehr wagte, auch nur einen Atemzug zu tun. Er spürte etwas seine Schulter streifen, dann war das Flüstern direkt neben seinem Ohr.
„Die Schlampe hat den Tod verdient. Sie hat mich auf dem Gewissen. Sie hat mich umgebracht!“
Annie stöhnte im Schlaf und wälzte sich herum. Mit einem Mal prankten die roten Augen über ihrem Körper, verformten sich zu engen Schlitzen, die boshaft auf sie hinunter blickten.
„Räche meinen Tod und reiß ihr das Herz heraus, Joe. Dann werde ich Ruhe finden.Bring sie um. Bring sie um! BRING DAS MISTSTÜCK UM!“, krächzte das Ding und das Kichern verwandelte sich in euphorisches Gelächter, das durch Joes Knochen fuhr und er dachte, er würde vor Angst den Verstand verlieren.
„Ich kann nicht.“, kroch es ihm aus dem Mund hervor und die glühenden Augen wurden wieder schmäler, das Röcheln verwandelte sich in wütendes Schnauben.
„Sie hat ihre eigene Schwester ermordet. Sie wird es büßen, sie muss sterben! Schlag ihr den Schädel ein! Sie soll dafür bezahlen! SIE MUSS STERBEN!!!“

Als Annie erwachte, glaubte sie, Carol zu sehen. Doch im nächsten Augenblick war dort nichts mehr. In der Ecke des Zeltes saß jemand. Annie rieb sich die Augen und erblickte Joe, der auf den Boden starrte.
„Hey, was ist los? Kannst du nicht schlafen?“, fragte sie mit müder Stimme. Doch ihr Freund gab keine Antwort. Er hob nur seinen Kopf und vielleicht war es dieser Moment, in dem Annie bewußt wurde, dass sie sterben würde. In seinen Augen kochte die Wut, sie brannten wie Feuer, glühten so hell, dass sie die Dunkelheit vertrieben. Aus seinen Mundwinkeln tropfte eine klebrige Flüssigkeit, lief hinunter zu seinem Kinn und über seinen pulsierenden Hals. Seine Arme waren angespannt, seine Finger verkrampft, beinahe wie gespreizte Krallen. Und als Annie dieses grauenvolle Röcheln in seiner Kehle hörte, wußte sie, wer da vor ihr saß und sie wußte, dass sie sterben würde.
„Es tut mir Leid.“, flüsterte sie kaum hörbar und senkte den Kopf ein wenig. Ein schrilles Kichern war die Antwort, dann kroch das Ding mit den leuchtenden Augen auf sie zu und seine Hände erstickten Annies Schrei, als sie ihren Hals umfassten. „Dafür ist es zu spät! Dafür ist es viel zu spät, Blueberry Child!“​


ENDE

 

Hi!

Tolle Geschichte! Der Plot schleicht sich langsam an, obwohl ab einer bestimmten Stelle das Ende vorherzusehen ist. Durch deine detaillierten Beschreibungen der Ängste der Protagonisten wirken die Charaktere lebendig und "echt". Die Atmosphäre ist düster, der Schauplatz gut gewählt (die Beeren), und deine Sprache sauber. Da kann man eigentlich nicht mehr viel schlechtes sagen, lediglich einige minimale Hänger sind drin, aber nichts, was den Lesegenuss trüben könnte. Tja... wenns nach mir ginge, eigentlich eine Empfehlung wert. Ich les die Geschichte nochmal, dann sehn wir weiter, k?

Grüße,

Lestat

 
Zuletzt bearbeitet:

Danke!!!

Vielen vielen Dank! *vor Stolz ganz aufgeplustert is*

Ich lerne mit jeder Geschichte dazu und mit solchen Kritiken steigert sich meine Motivation ins Unermessliche!!! Ich werde mich bei der nächsten noch mehr bemühen!!!

Viele Grüße

 

hi alistair!

als erstes mal: ein paar zeilenumbrüche wären nicht schlecht, liest sich sonst irgendwie quadratisch... ;)

All die feinen Härchen in seinem Nacken standen ihm zu Berge, durchzogen von derselben Angst, die auch seine Atmung gefangen hielt.
eigentlich ein sehr schöner satz - wenn du das all noch weg lässt.

Er erinnerte sich nur daran, dass er plötzlich keine Luft mehr bekommen hatte und zu ersticken drohte und dieses Gefühl hallte auch jetzt noch in seinem Körper wider, dessen Fesseln sich nur langsam lösten.
hört sich an als würde ihn der körper fesseln, aber ich schätze du meinst den traum.

Sie waren ihm gleich aufge-fallen, kurz nachdem er aufgewacht war

denn wenn sein Blick nicht auf die ängstliche Frau am Flussufer gerichtet war,
denn, wenn

Annie würde vor dem Morgengrauen wohl nicht mehr erwachen und auf gewis-se Weise ängstigte das Joe.

so, ich muss mich lestat anschließend. hat mir riesen spaß gemacht deine story zu lesen.
sehr schön geschrieben, stilistisch hab ich gar nix auszusetzen (außer das bisschen oben).
der prot ist schön. ganz ehrlich, eine rachgeschichte, die mal wieder spaß macht.
die idee, dass aus joes mund zum schluss der saft der beeren tropft (tut er doch?) ist sehr schön.

so, hat mir gut gefallen.

liebe grüße
Tama

 

Hi Alistair!

Eines vorweg: ein paar mehr Absätze wären nicht schlecht. Du schreibst hier am Stück, alle Sätze direkt nebeneinander. Das ist eine formale Sache und bezieht sich gar nicht auf die Geschichte: es wäre nur anders angenehmer zu lesen, denn der Monitor ist nicht der Freund von uns Lesern...

hin und wieder kitzelten sie auch ein wenig, sodass Annie vergnügt kichern musste.
Hier musste ich lachen, leider, das hat nämlich zeimlich die Atmosphäre zerstört, die du vorher so schon aufgebaut hast. Vor allem das kichern fand ich sehr lustig.

er es gewesen sein mußte, der diese Frau, seine geliebte Annie, töten wollte.
Ist das Absicht: es liest sich nämlich sehr distanziert. Das "Der diese Frau" meine ich da ganz konkret.

denn wenn sein Blick nicht auf die ängstliche Frau am Flussufer gerichtet wa
schon wieder...

Weshalb hätte Joe soetwas machen sollen
so etwas

Seufzend schloss sie die Augen und fiel gleich darauf in einen tiefen Schlaf.
Das liest sich ein wenig unrealistisch. Ich weiß nicht, ob man da so leicht einschlafen könnte, trotz Erschöpfung. Und wenn sie sehr erschöpft ist, würde ich das genauer schreiben.

Reiss dich mal zusammen! Was soll denn Annie von dir denken? Du weißt nicht, ob es deine Handabdrücke auf ihrem Hals waren. Du weißt noch nicht mal, was in deinen Träumen passiert ist und hast trotzdem Angst davor! Du bist wirklich erbärmlich!
Weißt du, was ich mir an dieser Stelle in Filmen immer denke: Warum reden sie nicht miteinander? Es ist das Normalste von der Welt...
Ich stelle mir vor: meine Freundin hat merkwürdige Würgemale am Hals, ich merkwürdige Farbe am Finger... ich nehme zuerst an, dass ich meine Freundin, die ich über alles liebe, gewürgt habe: warum rede ich nicht mit ihr?

Eine weitere Stunde verging, dann fielen Joe vor Müdigkeit die Augen zu.
Gut, es ist wichtig für deine Story, weil das Ding ja die Träume beeinflusst, oder? Aber wieder finde ich das etwas unlogisch.
Viel sinvoller, dramaturgisch gesehen, wäre es ja, wenn er quasi einschläft gegen seinen Willen, wenn das Wesen ihm Halluzinationen vorgaukelt, oder?


Ich bin etwas zweigespalten bei deiner Geschichte: sprachlich ist sie toll, inhaltlich finde ich sie stellenweise unlogisch und etwas vorhersehbar. Als die Stelle mit dem Traum von Joe kam und ich von Carol erfuhr, wusste ich, wer das Monster ist.
Aber es hat Spaß gemacht, deine Geschichte zu lesen, ein sicherer, sauberer Stil macht eben vieles wett.

In diesem Sinne
c

 

Hallo zusammen,

ich freue mich über die zahlreichen Leser und die Empfehlung.

Nun, zu der Vorhersehbarkeit der Geschichte sei gesagt - ohne das ich mich da jetzt rausreden will - natürlich war mir klar, dass der Leser weiß, wer an dem allen Schuld hat, sobald er die Auseinandersetzung der beiden Kinder vorgesetzt bekommt. Ich hätte die Namen weglassen können, aber das kam mir seltsam vor, denn auch da hätten die meisten sofort an Annie gedacht (als Schlussfolgerung zu der Information, dass sie hier früher gelebt hat), und deshalb glaube ich, dass ein eher vorhersehbares Ende gar nicht so schlecht sein muss, wenn es unterhaltsam ist.

Die oben zitierten Stellen werde ich mir bei Gelgenheit noch einmal ansehen, ebenso die Absatz-Struktur. Ich würde mich natürlich sehr darüber freuen, wenn ihr meine anderen Geschichten auch noch lest, sind ja noch nicht so viele. :-)

VIELEN DANK
(die nächste Geschichte ist bereits in Arbeit!)

Alex

 

Hallo Alistair,

Die kleine Lichtung, auf der Annie und Joe ihr Zelt aufgeschlagen hatten, machte einen freundlichen Eindruck, war umringt von hohen Farnen und Gräsern und es roch nach feuchtem Moos und frischer Rinde.

Alle Sinne mit einbezogen. Liest sich schön. :thumbsup:

Joe blickt hinunter auf seine Hände und wußte,

Joe blickte (!)

Tja … die Geschichte ist insofern gut, als dass Dir ein guter Spannungsbogen gelungen ist.

Stellenweiße hatte ich eine richtige Gänsehaut. Vor allem, als Du dieses Ding (Carol) im Zelt beschrieben hast. Die roten Augen, das irre Lachen – richtig gut gelungen ist dir dass.

Das Problem mit der Vorhersehbarkeit ist in dieser Geschichte eigentlich keins. Mir war bis zum Ende nämlich nicht klar, ob Joe nun Annie wirklich umbringt. Wäre ja durchaus möglich gewesen, dass Joe sich irgendwie diesem Carol-Ding widersetzt und Anni kein Haar krümmt. Oder eben, dass Joe nur von einer bösen Macht vorgegaukelt bekommt, Anni hätte ihre Schwester umgebracht, obwohl dies überhaupt nicht der Wahrheit entspricht.

Fakt also ist, dass – selbst, wenn der Leser die Ausganslage kennt – er nicht abschätzten kann, wie genau die Geschichte ausgeht. Ich zumindest habe es für möglich gehalten, dass Joe Annie nicht umbringt. Insofern hat mich das Ende der Geschichte schon überrascht. Überraschender freilich wäre es gewesen, wenn sich am Schluß herausstellen würde, dass Carol in Wirklichkeit bei einem Autounfall ums leben kam und Joe nur durch einen Trick zum Mord an seiner Freundin gezwungen wurde. (so wie in Somebodys Geschichte „Das Quiz“)

Was also lässt sich zur Geschichte sagen? Nun … ich fand sie gut. Unterhaltend und stellenweiße sehr gruselig. Ganz klar: :thumbsup:

weiter so.

Gruß

 

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