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Blumenantlitz
Um das Jahr 100 n. Chr. hatte das Römische Reich seine größte Ausdehnung erlangt. Im Osten war es Kaiser Trajan gelungen, die Grenzen bis zum Kaspischen Meer und an den Arabischen Golf vorzuschieben, im Norden reichte das Herrschaftsgebiet bis zur Krim, über die Donau und an den Rhein, im Süden gehörte das nördliche Afrika dazu, und auch auf die Britischen
Inseln waren die Römer gelangt - lediglich im Teutoburger Wald war ihrem Expansionsdrang Einhalt geboten worden.
Im Allgemeinen nimmt man auch heute immer noch an, dass sie Irland niemals betreten hätten, doch trifft dies nicht zu. Einem Bericht der Frankfurter Rundschau vom 23. Januar 1996 ist zu entnehmen, dass es zu Beginn des 2. Jahrhunderts nördlich von Dublin ein römisches Fort oder Kastell gegeben haben dürfte.
Wie mag es kommen, dass die Tatsache der - zumindest vorübergehenden - römischen Invasion in Irland bis heute nahezu unbekannt geblieben ist? Nun, die Expedition war in der Tat nur von kurzer Dauer - wie nachfolgend berichtet wird.
Im frühen Herbst des Jahres 115 brach eine kleine Triërenflotte von der walisischen Küste in Richtung Irland auf. Die Schiffe standen unter dem Befehl eines noch recht jungen sogenannten Centurio Prior namens Marcus, und die Anordnung zu dieser Expedition war von keinem Geringeren als dem Kaiser Trajan ergangen. Denn seit der Eroberung Britanniens hatte man sich an der Westküste der Insel immer wieder gegen Überfälle der irischen Kelten, also der Gälen oder Goidelen, zur Wehr zu setzen, und diesem Treiben wünschte der Imperator ein Ende zu bereiten. So hatte er also den Beschluss gefasst, zunächst ein Vorkommando zu entsenden, um die Möglichkeiten zur Errichtung römischer Befestigungsanlagen zu erkunden; die eigentliche Besetzung der Insel sollte sich gegebenenfalls später vollziehen.
Die Überfahrt erfolgte ohne besondere Vorkommnisse, und nachdem man einige Zeit an der irischen Ostküste entlanggesegelt bzw. -gerudert war, gingen die Seeleute im Norden der Siedlung Eblana (d. i. das heutige Dublin) an Land und begannen unverzüglich damit, eine provisorische Festungsanlage zu errichten. Zur allgemeinen Verwunderung ereigneten sich keinerlei Angriffe seitens der Kelten, obwohl doch die Landung unmöglich konnte verborgen geblieben sein - immerhin aber war es denkbar, dass die einheimischen Stämme derzeit mit inneren Auseinandersetzungen befasst waren oder sich einfach nicht in der Lage sahen, die Ankömmlinge zu attackieren. Wie dem auch sei, in den nächsten Wochen blieb man unbehelligt. Eines Vormittags wandelte Marcus die Lust an, mit einem kleinen Trupp von Soldaten in den umliegenden Wäldern auf die Jagd zu gehen und so, wenn möglich, ein wenig Abwechslung in die tägliche Kost zu bringen. Dies war naturgemäß nicht ganz ungefährlich, denn die bisherige Ruhe war möglicherweise trügerisch, doch gedachte er, sich nicht allzu weit vom Lager zu entfernen, so dass im Falle einer unliebsamen Begegnung schnell Hilfe zur Stelle sein konnte. Das erwies sich jedoch nicht als erforderlich. Gegen Abend hatten die Männer zwei Rehe und diverses Geflügel erbeutet und machten sich auf den Rückweg, ohne einer Menschenseele begegnet
zu sein.
Sie waren bereits in die Nähe der kleinen Lichtung gelangt, welche das Fort vom Waldessaum trennte, als Marcus ein leises Klagen vernahm. Es schien aus einem dichten Gestrüpp zu kommen, und es konnte sehr wohl die Stimme eines weinenden Kindes sein, doch ließ sich das nicht mit Bestimmtheit sagen - auf jeden Fall entschloss er sich ohne langes Zögern, der Sache auf den Grund zu gehen. Seinen Leuten befahl er, vor den Büschen auf ihn zu warten, dann machte er sich daran, mit seinem kurzen Schwert einen Weg durch das Dickicht zu bahnen. Nach einiger Mühe hatte er denn auch das Wesen erreicht, von welchem die kläglichen Töne stammten - und zu seiner grenzenlosen Verblüffung fand er sich im Halbdunkel des Blattwerks einer Eule
gegenüber, die unter einem Strauch zusammengekauert saß und ihn aus großen, bernsteinfarbenen Augen anblickte. Den einen Flügel hielt sie ein wenig abgespreizt, der andere hing reglos an ihrer Seite; wie es schien, war sie verletzt, und angesichts des Mannes war sie verstummt. Der Centurio überlegte einige Momente, und schließlich dachte er bei sich, dass er das Tier auf jeden Fall mit sich nehmen und versuchen könne, es zu pflegen. Denn in der Wildnis, zumal ohne die Möglichkeit des Beutefangs, musste die Eule unweigerlich binnen kurzem elend zugrunde gehen - irgend etwas in ihren Augen zog ihn darüber hinaus unwiderstehlich an. So schob er also seine Waffe wieder in die Scheide zurück und streckte vorsichtig seine Hände aus, um den Vogel behutsam zu ergreifen.
Er hatte damit gerechnet, sich einige Schnabelhiebe einzuhandeln, doch geschah nichts dergleichen. Vielleicht war es der beruhigende Klang seiner Stimme, welcher der Eule Vertrauen einflößen mochte, vielleicht auch war sie nur zu schwach zur Gegenwehr - wie dem auch sei, sie ließ sich ohne jeden Widerstand fassen und davontragen. Die Legionäre staunten nicht schlecht, als sie ihren Vorgesetzten in so ungewöhnlicher Begleitung wieder hervorkommen sahen, doch stand es ihnen natürlich nicht zu, ihrer Verwunderung über das Verhalten eines Offiziers Ausdruck zu verleihen. Eine Viertelstunde später hatten sie das Lager wieder erreicht, und Marcus begab sich mit der Eule in sein Zelt.
Die nächsten Tage verbrachte er überwiegend damit, sich mit dem Tier zu befassen. In der Tat hatte es einen Flügel gebrochen, und der Centurio, der sich als Sohn eines Arztes ein wenig auf die Behandlung von Verletzungen verstand, hatte ihn behutsam geschient. Wann immer seine dienstlichen Belange ihm die Zeit dazu ließen, begab er sich zu seiner Patientin, die sich
stets im Zelt aufhielt und keinen Versuch unternahm, sich zu entfernen - offenbar spürte sie, dass ihr Pfleger nichts Böses im Schilde führte. Und dieser wiederum fühlte sich immer mehr von dem eigenartigen Gast angezogen. Insonderheit die Augen des Vogels hatten es ihm auf seltsame Weise angetan; sie zogen ihn mehr und mehr in ihren Bann, und es schien ihm, es läge etwas ungreifbar Geheimnisvolles in ihrem Blick, fast als handle es sich um ein menschliches Wesen, welchem ein nicht alltägliches Schicksal widerfahren war - wieso er diesen Eindruck hatte, war ihm allerdings vollkommen unklar. Dazu hatte er begonnen, mit der Eule zu sprechen (was immerhin nicht gar so ungewöhnlich ist), und dann und wann schien es ihm, sie gebe leise Antwort ... Auch glaubte er nach einigen Tagen, zuweilen einen leichten Duft von Blüten zu spüren, wenn er sein Zelt betrat. Dies konnte er sich im Geringsten nicht erklären, doch wurde die Wahrnehmung immer häufiger und intensiver, und ganz allmählich und nahezu unmerklich stellte sich bei Marcus das Empfinden ein, sich in Gegenwart seines Pfleglings in einem Zustand der Unwirklichkeit wiederzufinden ... was ihm aber durchaus nicht unangenehm war.
Eines Abends hatte der Centurio sich später als gewöhnlich zurückgezogen. Es versprach eine wundervolle, sternklare Nacht zu werden, der Mond hatte sein volles Stadium erreicht, und Marcus vermeinte, der Blumenduft in seinem Zelt sei noch nie so stark, ja nachgerade betäubend gewesen. Gegen seine Angewohnheit widmete er sich nur wenige Minuten dem Vogel, der inzwischen
zwar wieder gesundet war, aber dennoch nicht zurück in die Freiheit wollte; die Eule war an diesem Abend besonders lebhaft und begleitete jedes Wort ihres Freundes mit gleichsam gurrenden Lauten, fast wie eine Taube - ihre Augen leuchteten heller denn je ... als Marcus sich jedoch zu seinem Lager begab, blieb sie in ihrer Ecke sitzen, ohne indes den Blick von ihm zu wenden. Der Centurio hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und fiel trotz des Vollmondes rasch in Schlaf. Alsbald begann er zu träumen:
Unter einem mächtigen Baum mit ausladenden Ästen saßen zwei Männer in langen, hellen Mänteln. Um sie herum waren Unmengen von Blüten verstreut, welche sie aufzusammeln und in einem bestimmten Muster zusammenzulegen schienen. Wie es in Träumen so oft der Fall zu sein pflegt, war der Ablauf der Zeit ganz unregelmäßig, sie piaffierte gleichsam ... schon hatten sie ihre Arbeit beendet, und als sie sich erhoben, waren die Umrisse einer Frauengestalt zu sehen. Der eine der Männer - seinem weißen Bart nach zu urteilen der ältere von ihnen - beugte sich über die Figur und vollführte einige seltsame Gesten mit den Händen. Offenbar war er ein Zauberer oder Druide ... Die Blüten, aus welchen die Gestalt bestand, begannen zu verschmelzen; das ganze Bild flirrte wie bei einer Fata Morgana, und als der Träumende wieder klar zu sehen vermochte, erblickte er ein wundervolles Mädchen, welches sich halb aufgerichtet hatte und ihre Arme um den Hals des jüngeren Mannes schlang. Für einen kurzen Moment waren ihre Augen zu sehen - sie blitzten in bernsteinfarbenem Gelb ...
Das Mädchen und der junge Mann befanden sich auf einer Wiese. Beide waren prächtig gekleidet;es handelte sich offensichtlich um einen Fürsten und seine Frau. Der Mann hatte den einen Fuß auf eine Art von Mauer oder Brunneneinfassung gesetzt, welche in das Gras hinein gebaut war, der andere Fuß ruhte merkwürdigerweise auf dem Rücken einer Ziege ... er schien seiner Liebsten etwas zu erläutern - und dann, ganz plötzlich und völlig unvermutet, drang die Spitze eines Pfeils aus seiner Brust, so als habe jemand hinterrücks auf ihn geschossen. Er sank zu Boden; wieder verschwamm das Bild für einen Moment. Als es zurückkehrte, erhob sich ein offenbar verletzter Adler mit lautem Schrei in die Luft - die Frau blickte ihm mit strahlenden Augen nach, und ihr Lachen klirrte wie berstendes Glas ...
Hinter einem mächtigen Felsblock kauerte ein Mann, neben sich das Mädchen mit den gelben Augen. Der Fels brach auseinander, und hindurch schoss mit unglaublicher Gewalt ein Speer, der den Mann durchbohrte.
Die Königin lief über Felsen, mit ihr einige junge Frauen, möglicherweise ihr Gefolge. Zur Linken klang ein Rauschen wie von Meeresbrandung, es wehte heftiger Wind. Eines der Mädchen nach dem anderen verschwand; offenbar rutschten sie von den Klippen ab ... endlich konnte die Fürstin nicht mehr weiter. Sie wandte sich um, und im Traum vermeinte Marcus zu sehen, wie sie ihm einen verzweifelten Blick mit ihren Bernsteinaugen zuwarf. Nun erschien der Zauberer, der sie aus Blumen erschaffen hatte - er schien überaus zornig, furchtbar waren seine Gesichtszüge anzusehen. Wieder machte er einige Handbewegungen, er schien etwas zu murmeln - die junge Frau sank in sich zusammen, und an ihrer Statt erhob sich ein großer Vogel, eine Eule, in den Wind ...
Der Centurio fuhr aus seinem Schlaf hoch. Noch vermeinte er das Brausen des Sturms und das Tosen des Meeres zu hören, doch nach einigen Augenblicken hatte er sich in der Wirklichkeit der Nacht wieder halbwegs zurechtgefunden. Schlaftrunken ließ er sich auf sein Lager zurücksinken - da spürte er, dass eine weibliche Gestalt sich eng an ihn schmiegte und ihn
zärtlich mit ihren Armen umschlang. Das Aroma der Blumen war unglaublich geworden, es brachte ihn völlig durcheinander; durch einen Spalt des Daches schien der helle Vollmond in sein Zelt. Verwirrt machte er sich aus der Umarmung frei, um seine Besucherin zu betrachten.
Das Mädchen hatte sich aufgesetzt und blickte ihn aus wundervollen Augen an, die er sofort erkannte. Sie schien es nicht für notwendig zu erachten, sich zur Nacht zu bekleiden ... Sie hatte ein bezauberndes Gesicht, Haar wie gesponnenes Gold und eine herrliche Gestalt - ihre Haut schimmerte im Licht des Mondes wie Seide, in ihrem Lächeln drückte sich auf geheimnisvolle Weise Zutraulichkeit und Scheu gleichermaßen aus. Nach einem kurzen Moment der Verblüffung hatte Marcus sich wieder gefasst. "Wie kommst Du hierher, und wer bist Du - was bist Du?" fragte er mit unterdrückter Stimme; er bediente sich hierbei der in Wales gebräuchlichen kymrischen Sprache als einzigem keltischen Dialekt, dessen er halbwegs mächtig war. Und dass ein Einwohner Irlands das Lateinische beherrschen würde, war schließlich nicht anzunehmen. Die Schöne verstand ihn durchaus - ganz zart legte sie ihm eine Hand auf den Mund und flüsterte: "Man nennt mich Blumenantlitz ... aber nun sprich nicht mehr - dies ist eine besondere Nacht ... sie tritt nur ein, wenn ..." und dann wurde ihr Raunen nahezu unhörbar. Sie zog ihn erneut an sich und verschloss ihm den Mund mit einem Kuss.
Die Nacht verging dem jungen Mann, als träume er wiederum. Er hatte als römischer Unteroffizier trotz seiner Jugend mehrere Provinzen des Reiches kennen gelernt, und auch den Frauen war er nicht abhold geblieben, doch diese Liebste, die er auf so überaus bemerkenswerte Weise gewonnen hatte, erschien ihm wie eine Abgesandte der Venus, vielleicht gar wie die Liebesgöttin selbst. Die Stunden verrannen, und stets ersann das Mädchen eine neue Süßigkeit ... wie berauscht war der Centurio; ihm war, als habe seine Seele Flügel bekommen, und mit absoluter Sicherheit wusste er, dass er sterben müsse, sollte er dieses unvergleichliche Geschöpf jemals wieder verlieren. Schließlich jedoch befiel ihn eine große Erschöpfung, gleichsam als sei er an eine Lamia geraten, und wieder sank er in diesmal traumlosen Schlaf.
Im Morgengrauen betrat der Diener das Zelt, um seinen Vorgesetzten zu wecken, was ihm an diesem Morgen beträchtliche Mühe bereitete, und schließlich ließ er ihn noch schlaftrunken wieder allein. Im grauen Tageslicht fand Marcus sich nur langsam zurecht - sein erster Gedanke galt seiner bezaubernden Gespielin; unwillig wollte er den Diener schon zurückrufen, um ihn zurechtzuweisen, denn er hatte das unwillkürliche Empfinden, dass niemand die Schöne sehen dürfe. Doch - wo war sie? Sie lag nicht bei ihm ... der junge Mann rieb sich die Augen und schaute im Zelt umher. Doch hielt sich außer ihm niemand hier auf, selbst die Eule war fort ... als sein Blick nochmals auf das Bett fiel, sah er auch da nichts Ungewöhnliches - bis er einige verwelkte und vertrocknete Blüten bemerkte, die einen durchdringenden Geruch verströmten.
Als der Diener wenig später wiederum in das Zelt kam, um den Offizier vollends aufzuwecken, fand er ihn ohne Bewusstsein vor. Heftiges Fieber hatte den Centurio ergriffen, dem auch der herbeigerufene Feldarzt nicht abzuhelfen wusste. In den wenigen Momenten, in welchen er wieder zu sich zu kommen schien, brachte er nur unzusammenhängende Sätze hervor, aus denen niemand klug wurde; offenbar redete er von seiner Eule und einer Zauberin, einer Frau aus Blumen ...
An diesem Morgen, wie aus heiterem Himmel, begannen die Gälen ihre Angriffe auf die Befestigung; es war gerade so, als hätten sie geahnt, dass dort etwas vorgefallen sei, was ihnen nützen könnte. Das Unternehmen der Römer war unverzeihlich dilettantisch geplant worden, wohl ein einmaliger Vorgang in der römischen Kriegsgeschichte, denn außer dem offenbar tödlich erkrankten Marcus war niemand des Expeditionskorps befähigt, den Ansturm der Gegner abzuwehren. Die unerfahrene Besatzung hielt das Fort, solange die Lebensmittel reichten; schließlich machte man den Versuch, den Belagerungsring zu durchbrechen und sich zu den Schiffen durchzuschlagen. Der Ausfall misslang vollständig; keiner der Soldaten überlebte.
So endete die kurze Anwesenheit der Römer in Irland mit einer Tragödie. Eine weitere Landung unternahm das Imperium nicht, zumal Trajan wenig später starb. Die Parther nahmen diese Gelegenheit wahr, das verlorengegangene Mesopotamien zurückzuerobern, und so hatte das Römische Reich in der Folge anderes im Sinn als die Insel westlich von Britannien.
Was mag es mit der Eule und der geheimnisvollen Frau auf sich gehabt haben? Nun, den wesentlichen Aufschluss vermag wohl Marcus' Traum zu geben:
Die walisische Zauberin Arianrhod hatte ihrem Sohn Lleu den Fluch auferlegt, niemals eine menschliche Liebste zu haben. Sein Onkel Gwydion jedoch war ein stärkerer Magier; so formte er eine bezaubernde Frau aus Blüten. Sie erhielt den Namen Blodeuwedd, was soviel wie "Blumenantlitz" bedeutet, und Lleu war sehr glücklich mit ihr. Doch hatte Gwydion sie aus Blumen ohne deren Wurzeln geschaffen; mithin besaß sie kein Gewissen und möglicherweise nicht einmal eine Seele ... Als Lleu über längere Zeit von zu Hause abwesend war, erschien ein Jäger bei Blodeuwedd und bat um ein Lager für die Nacht; die junge Frau verliebte sich auf der Stelle in ihn, und die beiden beschlossen, Lleu zu ermorden. Dies jedoch war nur möglich, wenn er sich mit dem linken Fuß auf einen Kessel oder Brunnenrand, mit dem rechten auf den Rücken eines Ziegenbocks stellte. Der jungen Frau bereitete es keinerlei Schwierigkeiten, ihren Mann dazu zu überreden, und ihr Liebhaber erschoss ihn.
Dennoch war er nicht zu töten; er verwandelte sich lediglich in einen Adler, und Gwydion konnte binnen kurzem wieder einen Menschen aus ihm machen. Lleu rächte sich an dem Jäger: Obwohl dieser sich hinter einem Felsen zu verbergen suchte, durchbohrte er ihn mit seinem Speer. Blodeuwedd aber wurde von Gwydion in eine Eule verwandelt.
In der Folge ist sie - möglicherweise aus Furcht vor weiteren Verfolgungen - aus Wales nach Irland geflohen, und man darf als gewiss annehmen, dass Gwydions Zauber nicht ununterbrochen gewirkt hat. In einigen Nächten - insbesondere bei Vollmond - vermochte sie wieder ihre menschliche Gestalt zurück zu erlangen. Und es hat den Anschein, als habe sie sich für die Verwandlung in eine Eule an möglichst vielen Männern rächen wollen; vielleicht auch hatte sie die Hoffnung, eine Seele zu gewinnen.
Es ist durchaus zu vermuten, dass es sie auch heute noch gibt. Denn nach wie vor, auch wenn man's sich nicht eingesteht, ist es einem Mann kaum je möglich, das wirkliche Wesen einer geliebten Frau zu ergründen - was allerdings nicht unbedingt, wie im geschilderten Fall, zu einer Katastrophe führen muß ...