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Bodil
Abends überredete Stefan mich, zu dieser Party zu gehen, draußen auf dem Land, in einer umgebauten Scheune, die sie mit dem ausrangierten Boden der Sporthalle ausgelegt hatten. Wir tanzten zwischen schwarzen und weißen Linien, gruben unsere jahrzehntealten Discofoxkenntnisse wieder aus und als wir von weitem Mandanten sahen, flohen wir kichernd auf die andere Seite der Tanzfläche. Es wurde spät. Das Fahrerdisplay zeigte fast drei Uhr, als wir die Stadt erreichten. Stefan lachte leise neben mir.
„Was ist?“, fragte ich. „Ich dachte, du bist längst eingeschlafen.“
„Ich muss dir noch meinen Traum erzählen. Von gestern, oder vorgestern, weiß nicht mehr genau.“
„Was denn?“
Er lachte wieder und ich sah zu ihm rüber.
„Was Erotisches?“
„Kann man wohl sagen.“
„Was denn nun?“
„Ich hab dich gehabt.“
„Mich? Bist du sicher, dass ich das war?“
„Oh ja, das war eindeutig dein Hintern.“
„Und wie fand ich das?“
„Gut, sehr gut.“
Ich lächelte und er legte seine Hand auf meinen Oberschenkel und dann überfuhr ich Bodil.
Tagelang zuckte ich bei jedem lauten Geräusch zusammen, hörte den Aufprall des Fahrrades, sah den Körper des Mädchens über die Motorhaube rollen, wie in einem bescheuerten Actionfilm. Wenn ich im Krankenhaus anrief, sagten sie mir, Frau Kramer wolle keinen Besuch. Stefan fand, wir hätten genug getan. Das Mädel werde ordentlich entschädigt und wieder gesund. Ich aber kaufte Blumen und buk einen Kuchen.
Sie sah jünger aus als achtzehn, so klein, als müsse sie noch ein paar Jahre wachsen. Halb abgewandt hing sie über ihrem angewinkelten Bein und versuchte, ihre Fußnägel zu lackieren. Ihr Knie war bandagiert und so konnte sie den Fuß nicht ganz heranziehen. Wie eine Perlenkette zeichnete sich ihre gekrümmte Wirbelsäule unter dem T-Shirt ab. Erstaunlich, dass sie durch ihre Ponyfransen überhaupt etwas sah.
Die Frauen in den beiden anderen Betten hatten sich aufgerichtet.
„Zu wem wollen Sie denn?“, fragte die eine.
„Zu Bodil Kramer.“
Sie zeigte auf das Mädchen und verzog das Gesicht.
„Schubsen Sie sie mal an.“
Erst jetzt begriff ich, woher das scheppernde Geräusch im Raum kam.
Ich trat in ihr Blickfeld, winkte mit dem Blumenstrauß und lächelte. Bodil lächelte nicht.
„Ja?“, schrie sie.
„Sie sind Bodil Kramer? Ich bin Verena Kuntze.“
Sie stellte den Nagellack ab und riss sich die Stöpsel aus den Ohren.
„Ja?“
„Ich bin Verena Kuntze.“
„Und?“
„Ich bin … Ich hab Sie angefahren.“
Hinter mir wurde aufgeregt eingeatmet.
„Ich wollte Sie fragen, wie es Ihnen geht und ob ich irgendetwas für Sie tun kann.“
„Nee, können Sie nicht.“ Sie klang, als hätte sie Knötchen auf den Stimmbändern.
„Es tut mir so leid.“
„Ich hab gesagt, ich will keinen Besuch.“
„Kann ich Ihnen wenigstens ein paar Blumen hier lassen?“
„Nein.“
„Und Kuchen?“
„Ich vertrag keine Nüsse.“
„Ist ohne Nüsse.“
Ich nahm die Alufolie ab. Ein Duft von Zimt und Hefe stieg auf.
„Soll ich ihn auf Ihren Nachttisch stellen?“
Bodil antwortete nicht. Ihr Blick lag auf dem Kuchen, aber sie rührte sich nicht, saß merkwürdig verkrampft, die Füße angezogen, vielleicht wegen der halb angemalten Fußnägel.
„Oder auf den Tisch da drüben?“
„Nein. Nicht da.“
„Keine Angst, wir essen Ihnen schon nichts weg“, schnappte eine der Frauen.
Bodil sah nicht einmal in ihre Richtung, deutete schließlich auf die Aussparung unter ihrem Nachttisch.
„Dahin.“
„Hoffentlich schmeckt er Ihnen.“ Umständlich verstaute ich den Kuchen und überlegte, was ich noch sagen könnte. Beim Hochkommen deutete ich auf ihren Arm.
„Hübsch, der Schmetterling.“
Sie hob den Arm und ich sah jetzt erst richtig hin. Ein grinsender Totenschädel, gespalten durch den Schmetterlingskörper, die Augen zwei schwarze Löcher in den Flügeln. Zum ersten Mal lächelte sie. Ich holte Luft.
„Okay, du hast mich erwischt. Doch nicht hübsch.“
„Hast du wohl nicht richtig geguckt.“
„Nein. Und jetzt hab ich einfach 'du' gesagt, tut mir leid.“
Sie legte den Kopf schief.
„Macht doch nichts.“
Mein Mann lachte, als er die Sache mit dem Schmetterling hörte.
„Ziemlich morbide.“
„Sie wird am Montag entlassen und sie hat niemanden, der sie abholt. Ich fahr sie nach Hause.“
„Wie, sie hat niemanden? Was ist denn los mit der?“
„Ich weiß nicht, sie hat gesagt, sie hat niemanden. Sie will mit dem Bus fahren.“
„Aha.“
„Sie wirkt wie aus dem Nest gefallen.“
„Und? Wollen wir sie adoptieren?“
„Also einfach ist die nicht. Mit ihren Zimmergenossinnen hat sie sich's auch schon verscherzt. Ich bring sie noch nach Hause und dann ist gut.“
Wir hatten den Sonntag am Meer verbracht, bis nachmittags das Wetter umschlug und wir uns durch peitschenden Regen zu unserem Auto zurückkämpften. Noch beim Einschlafen hatte ich das Rauschen von Wind und Wasser in den Ohren. Als das Telefon klingelte, brauchte ich lange, um zu mir zu kommen.
„Hallo?“ Stille. „Hallo, wer ist da?“
Atmete da jemand? Der Wecker zeigte drei Uhr.
„Also ich lege jetzt auf.“
„Ist da Verena?“
„Bodil?“
„Ja.“
„Was ist los? Geht es dir nicht gut? Hast du Schmerzen?“
„Hab ich deinen Mann geweckt?“ Sie sprach wie gegen Widerstand.
„Nein. Der schläft nebenan.“
„Echt? Ihr schlaft getrennt?“
„Ja.“
Schweigen.
„Er schnarcht. Warum rufst du an?“
„Ich hab schlecht geträumt.“ Bodil, wie ihr Körper durch die Luft flog.
„Was hast du geträumt?“, flüsterte ich.
„Weiß nicht mehr. Mir geht’s schon besser. Kommst du morgen?“
„Ja.“
„Gut.“
Es klickte. Noch lange hielt ich den Hörer in der Hand.
Sie saß am Tisch, umarmte eine Sporttasche auf ihrem Schoß und starrte eine Krankenschwester an, die das Bett neu bezog.
„Eine blutige Entlassung ist das. Kennt man ja. Spart Geld.“
„Nö“, grinste die Schwester, “bei Ihnen ist nix mehr blutig. Sehen Sie mal zu, dass Sie wieder fit werden.“
Bodil stand auf und humpelte an mir vorbei zur Tür. Die Frau im anderen Bett beugte sich vor.
„Fit? Also doch kein Aids, was?“ Aber Bodil hatte den Raum schon verlassen, und ich lief ihr hinterher.
„Mann, bin ich froh, dass ich da raus bin“, sagte sie.
Ein Wohnblock. Der Lärm der nahen Bundesstraße war bestimmt nur mit geschlossenem Fenster zu ertragen. Es stank nach Diesel. Beim Aussteigen presste Bodil die Lippen zusammen, machte sich mühsam gerade, die Sporttasche quer vor der Brust. Während der Fahrt hatte sie pausenlos über das Krankenhaus geschimpft. Nur einmal hatte sie mich gefragt, was ich beruflich mache, und das Gesicht verzogen, als ich sagte, mein Mann und ich seien Steuerberater.
„Soll ich dich noch begleiten?“, fragte ich. „Ich könnte deine Tasche nehmen.“
„Nein.“
„Du humpelst noch so.“
„Es gibt einen Aufzug.“ Einen Moment lang schien sie auf etwas zu warten, dann drehte sie sich um.
„Danke fürs Bringen.“
„Gerne. Gute Besserung. Und wenn mal was ist, ruf an.“ Sie reagierte nicht mehr. Da war etwas Kundenfreundliches in meinem Ton gewesen. Als ich wieder im Auto saß, fielen die ersten Regentropfen. Zwei Männer überquerten die Straße. Sie musterten meinen Wagen, und sahen mir durch die Windschutzscheibe ins Gesicht, bevor sie weiter schlenderten. Bodil lehnte ein paar Meter vor der Haustür an einem Container. Sie hatte die Tasche abgestellt und fingerte Tabak aus ihrer Jacke. Ich stellte den Motor wieder ab.
„Was ist los? Geht es dir nicht gut?“
„Es geht schon. Ich kann nur nicht so schnell.“
„Ich könnte dir helfen. Was einkaufen.“
„Nee, lass mal.“ Sie leckte an ihrem Blättchen und blinzelte mich unter ihrem Pony an. Ich sah mich nach dem Wagen um. Als ich mich wieder zu Bodil wandte, grinste sie.
„Keine Sorge, ich behalte dein Auto im Blick.“ Sie hielt mir ihren Tabak hin. „Willst du auch eine? Rauchst du überhaupt?“
Ich schüttelte den Kopf.
Sie nickte. „Klar.“
Der Regen nahm zu, und ich fröstelte.
„Hast du Lust, uns mal zu besuchen? Ich back uns einen Kuchen, und wir können bei uns im Garten sitzen, wenn das Wetter gut ist.“
Sie nahm einen tiefen Zug und stieß den Rauch aus.
„Darf ich zugucken, wie du backst?“
Stefan wollte wissen, warum ich Bodil nach zwei Monaten immer noch abholte. Er schüttelte den Kopf, als ich sagte, Bodil habe Angst vor dem Fahrradfahren und er meinte, sie müsse so schnell wie möglich wieder rauf auf den Gaul. Klar, er hatte recht. Was ich ihm nicht sagte, war, wie sehr ich mich jedes Mal auf den Moment freute, wenn ich in Bodils Straße einbog und sie dort warten sah, einen Fuß über den anderen gekreuzt, die Tasche auf dem Boden und immer pünktlich. Selbst als ich einmal zehn Minuten zu früh war, stand sie schon da. Ich fuhr sie gerne im Auto zu uns nach Hause, um für sie zu backen und ihr von meinem Leben zu erzählen, von der Arbeit, von unseren Reisen. Davon, dass meine Eltern kurz nacheinander gestorben waren, von meinen Wechseljahren und dass Stefan überall seine Socken herumliegen ließ.
„Wieso habt ihr keine Kinder?“
„Wir wollten keine.“
„Echt? Wieso das denn nicht? Kinder sind doch was Tolles. Ohne Kinder ist das Leben verpfuscht.“
„Du willst also Kinder?“
„Nein. Mein Leben ist sowieso schon verpfuscht. Wer wollte keine Kinder, du oder dein Mann?“
Ich zögerte, und als ich Bodils Blick sah, stieg mir das Blut in den Kopf.
„Wir haben das gemeinsam entschieden“, sagte ich lahm. „Wieso ist dein Leben verpfuscht?“
„Ich bin krank. Ich sterbe bald.“
„Das hast du schon ein paarmal gesagt. Was ist es denn nun?“
„Ich kann nicht darüber reden, sonst breche ich zusammen und der schöne Nachmittag ist kaputt. Hast du mal abgetrieben?“
„Wenn du nicht redest, muss ich auch nicht reden, oder?“
Ich zog den Kuchen aus dem Ofen und behielt Bodil dabei im Blick. Ihre Lippen öffneten sich und ihre Augen glänzten wie die eines Kindes unterm Weihnachtsbaum. Beim ersten Mal hatte sie angefangen zu schluchzen und ich hatte hilflos den Arm um sie gelegt, in der Erwartung zurückgestoßen zu werden. Aber sie hatte still gehalten und leise weiter geschluchzt. Wenn ich daran dachte, spürte ich immer noch ihre schmale, bebende Schulter in meiner Hand.
„Lass uns am Samstag mal wieder nach Sylt fahren“, sagte mein Mann.
„Samstag kommt Bodil.“
„Wird mir allmählich etwas viel. Das Mädel ist ja ständig bei uns.“
„Du profitierst doch auch von dem Kuchen.“
„Schmeckt nicht so gut, wenn man ihn unter so Mörder-Blicken essen muss.“ Er legte den Kopf schief, zog die Schultern hoch und presste die Lippen zusammen. Ich lachte, als er leise zu knurren begann.
„Hör auf, sie hat dich noch nie angeknurrt. Du bist selbst schuld, wenn du versuchst, mit ihr über Politik zu reden.“
„Oder wenn ich sie frage, was sie mal aus ihrem Leben machen will.“
„Genau.“
„Mir wird das zu viel“, sagte er. „Und was ist jetzt mit dem Fahrrad? Nimmt sie das überhaupt? Ich dachte, sie hätte sich so darüber gefreut.“ Sie hatte immerhin danke gesagt und es klingelnd in den Fahrradkeller gefahren. Da stand es seitdem und ich holte sie immer noch mit dem Wagen ab.
„Wir wollen demnächst mal trainieren“, sagte ich.
Ihre Kondition war unglaublich schlecht. Obwohl ausnahmsweise wenig Wind war, kamen wir kaum voran. Die kleinste Steigung zwang sie zum Absteigen und Schieben. Ich achtete darauf, noch früher abzuspringen, noch langsamer zu werden. Sie war hochrot im Gesicht, sie schnaufte und sie ekelte sich vor der Sonnencreme, die ich ihr aufdrängte. Aber als wir auf einer Bank Pause machten, sang sie mir ein wirres Lied vor, das sie noch aus ihrer Jugendwohngruppe kannte. Kurz darauf entdeckten wir ein Café, und mir war klar, dass wir an diesem Tag nicht weiter kommen würden. Wir bestellten Eis und ich ging zur Toilette. Auf dem Rückweg sah ich einen Mann, der seine Hände auf den zweiten Stuhl an unserem Tisch gelegt hatte.
„Nö, den brauchen wir. Meine Mutter kommt noch.“ Bodils Stimme, klar und deutlich. Mit zwei Schritten stolperte ich zurück in den Gang und starrte eine ganze Weile auf die Flyer, die dort auslagen. Das Eis stand schon auf dem Tisch, als ich wiederkam und Bodil strahlte mich an.
„Hat ja lange gedauert.“
„Ja. Schmeckt das Eis?“ Ich lächelte zurück und hob den Schal auf, der von ihrer Stuhllehne gerutscht war.
„Lecker. Mal probieren?“
„Nee, lass mal, ich hab doch mein eigenes.“
Ihr Lächeln blieb für einen Moment wie festgeschraubt, bevor sie mit den Schultern zuckte und sich über ihr Eis beugte.
„Oder doch, lass mich mal Schokolade probieren“, sagte ich schnell.
„Zu spät!“ Sie grinste, schob mir aber mit einer großen Bewegung ihren Becher entgegen. Dann lehnte sie sich zurück und verfolgte mit verschränkten Armen meine Reaktion. Ich nahm einen Löffel und rollte mit den Augen.
„Mh! Willst du bei mir auch probieren?“
Sie rührte sich nicht, sah mich nur an, dieses Kuchen-Glänzen in den Augen.
„Willst du?“, fragte ich.
„Du siehst toll aus“, platzte sie heraus. „Gar nicht wie über fünfzig."
„Ach Bodil ...“
„Du siehst aus wie eine Filmschauspielerin.“
„Das ist der Fahrtwind. Der macht Farbe im Gesicht. Bei dir auch.“
„Fahren wir morgen noch mal? Nach deiner Arbeit?“
Ich hätte es ihr schon lange sagen müssen.
„Vielleicht wird mir das zu eng, ich muss noch packen. Ende der Woche fliegen wir in Urlaub.“
Ihr Blick irrte kurz an mir vorbei, bevor sie mich wieder ansah.
„Wie lange?“
„Drei Wochen.“
„Drei Wochen. Liebesurlaub mit Stefan.“ Sie zog eine Grimasse, und ich war erleichtert, dass sie nur spottete.
„Wanderurlaub. Ja und auch Liebesurlaub. Warum nicht?“
Auf dem Rückweg stürzte sie. Als ich hinter mir ihren Schrei hörte, dachte ich zuerst, sie wolle mich auf etwas aufmerksam machen. Aber dann lag sie im Gebüsch und kratzte sich Arme und Gesicht an den Dornen blutig. Ich sprang vom Rad und zog sie auf die Füße. Wie rasend trat sie nach ihrem Fahrrad, immer wieder. Leute fuhren kopfschüttelnd vorbei und irgendwann packte ich sie und hielt sie fest. Es dauerte lange, bis sie aufhörte zu weinen.
„Das kriegst du nicht mehr raus.“
Die Zahnbürste im Mund sah Stefan zu, wie ich versuchte, über der Badewanne die Blutflecken aus der Bluse zu waschen. „Wieso fällt die plötzlich vom Rad?“
„Keine Ahnung. Bis dahin war es so schön. Vielleicht ist sie wirklich krank. Sie hat überhaupt keine Ausdauer. Ich glaube, sie hat noch ein Trauma, von dem Unfall. Meinst du, das kann sein?“ Ich holte Luft. „Das ist total ungünstig, wenn wir jetzt in Urlaub fahren. Können wir das nicht verschieben? Oder verkürzen, etwas später losfahren?“
„Was?“
„Bodil ist total durch den Wind.“
„Das ist sie hinterher auch noch.“
„Das finde ich überhaupt nicht witzig.“
„Aha, das findest du nicht witzig. Dann sag ich dir mal, was ich nicht witzig finde. Ich lasse mir von dem Mädel nicht bestimmen, wann ich in Urlaub fahre.“
Ich schmiss die Bluse in die Wanne, dass es spritzte.
„'Von dem Mädel'“, äffte ich ihn nach, „sag nicht immer 'Mädel'! Sie heißt Bodil. Außerdem kannst du in Urlaub fahren, wann du willst. Du wolltest doch immer mal alleine los. Dann mach das doch endlich mal. Du bist doch so frei, du brauchst auf niemanden Rücksicht nehmen, so wolltest du das doch immer. Deine Freiheit.“
„Verena ...“
„Ich lass sie jetzt nicht im Stich.“
Als ich ihr am Telefon anbot, sie am Nachmittag abzuholen, fragte sie, ob ich nicht packen müsse. Ich sagte, es sei noch nicht so sicher, ob wir wirklich reisen würden. Stefan und ich hatten kaum ein Wort gewechselt. Er war morgens gleich ins Büro gefahren.
Sie humpelte wieder stärker und zu ihrer Blässe kamen noch die roten Kratzer im Gesicht und an den Armen. Wir redeten kaum. Sie saß auf der Bank am Tisch, sah zu, wie ich den Teig rührte, und schnitt die Äpfel klein, die ich ihr hinstellte. Im Radio lief Musik. Während der Kuchen im Ofen war, räumte ich die Küche auf, und als ich fertig war, setzte ich mich zu ihr auf die Bank. Zum ersten Mal fiel mir nichts ein, was ich ihr erzählen könnte. Ich hatte Angst, sie könne nach dem Urlaub fragen und nach Stefan. Aber das tat sie nicht.
„Darf ich auf deinen Schoß?“, fragte sie.
Wie erwartet, war sie leicht, jedenfalls anfangs. Ihre Stirn lag an meiner Schläfe. Sie schnaufte ein wenig beim Atmen und sank gegen mich, während ich meine Finger um ihre Taille verschränkt hatte. Die ganze Zeit starrte ich auf den Kuchen, der sich im Ofen langsam wölbte. Im Radio spielten sie Madonna. Dann senkte sich die Türklinke und Stefan stand in der Tür. Er prallte zurück, als sei er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Als ich seinen Blick sah, ließ ich sofort die Hand sinken, die ich schon abwehrend gehoben hatte. Er holte Luft, trat ein und schloss die Tür hinter sich. Bodil versteifte sich auf meinem Schoß. Ihre Hand krallte sich in meinen Rücken. Mit ein paar Schritten war Stefan am Fenster und öffnete es. Erst jetzt fiel mir auf, wie sehr ich schwitzte. Er riss den Kühlschrank auf, nahm Butter und Aufschnitt heraus und stellte sie neben den Herd auf die Anrichte.
„Schick ihn weg.“ Bodils Stimme ganz leise an meinem Ohr.
Er nahm Brot aus dem Kasten und begann, Scheiben davon abzuschneiden. Ich fragte mich, warum er so viele Scheiben abschnitt, und ich sah seinen Rücken, seine hochgezogene Schulter, seine bedächtigen Bewegungen. Wie sehr ich mich nachts nach ihm gesehnt hatte.
„Er soll weggehen“, flehte sie. Ihre Finger gruben sich schmerzhaft in mein Fleisch. Ich wand mich vorsichtig, löste meine Hände voneinander, und sie wurde schlaff wie eine Puppe, rutschte mir fast aus dem Arm.
Stefan stellte Brot, Schinken, Käse und Butter auf den Tisch. Erst jetzt sah er mir in die Augen. Ich versuchte zu lächeln. Er nickte, wandte sich um und öffnete einen Schrank.
„Isst du mit, Bodil?“, fragte er, nahm drei Teller heraus und stellte sie dazu. Dann zog er die Besteckschublade auf. Bodil regte sich, drehte sich zögernd um. Ich ließ sie los und sie rutschte auf die Bank.
„Brot mit Schinken?“, fragte ich. “Unser Kuchen dauert bestimmt noch eine halbe Stunde.“
„Mein Licht war kaputt“, sagte sie.
„Was?“
„Bei dem Unfall. Du konntest mich gar nicht sehen. Ich habe euch alle angelogen. Die Kohle kassiert. Peng.“
Sie saß mit hochgezogenen Schultern und wartete.