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Bolivien 1967
Am 14. Juni 1961, zwei Wochen nach meinem siebten Geburtstag, stand ich gelangweilt an einer Straße in einem Dorf mitten in Bolivien. Ich wohnte eigentlich mit meinen Eltern in Deutschland, doch kurz nach meinem Geburtstag eröffnete mein Vater mir, dass er mich mit einer Reise überraschen wolle. Ich war nicht gerade begeistert, da ich mich auf den Sommer mit meinen Freunden freute, und auch schon wenige Tage nach unserer Ankunft in Südamerika, wurde mir klar, dass die sogenannte Überraschung lediglich eine Ausrede war, um eventuellem Murren und Jammern vor der Reise, aus dem Weg zu gehen. Ich weiß bis heute nicht, was meine Eltern wirklich nach Bolivien führte oder was sie dort taten, ich weiß nur, dass ich es hasste. Ich hasste das Wetter, ich hasste die Straßen und die Hütten in denen wir schliefen. Selbst die Berge konnten mich nicht aufmuntern.
Und nun stand ich dort irgendwo in einem Dorf in der Nähe von Samaipata und wartete auf meine Eltern, die in einer der unzähligen Baracken am Wegrand verschwunden waren - Um etwas zu erledigen, wie sie sagten.
Ich scharrte mit den Füßen im Sand rum, wütete in Gedanken gegen meine Eltern und dachte an meine Freunde, die in diesem Moment wahrscheinlich auf unserem alten Spielplatz Steine warfen. Damals vertrieben wir uns oft die Zeit damit und machten sogar einen Wettbewerb daraus, wer am weitesten werfen könnte. Gelangweilt stöberte ich im Staub einige Steine auf und während ich mich dann darin übte, endlich einen weiten Wurf hinzubekommen, trat ein Mann aus einer der Baracken.
Noch heute glaube ich mich an den Geruch seiner Zigarre erinnern zu können, die er, während er am Türrahmen lehnte, genüsslich rauchte. Die Uniform, die er trug, ließ ihn mir groß und stark erscheinen. Unter dem Barett, das seinen Kopf schmückte, quollen dunkle Haare hervor, die seinem Gesicht einen so warmen Ausdruck verliehen, dass es mir wie ein Bild der Vollkommenheit erschien, welches sich mir darbot. Lachend kam er plötzlich auf mich zu und sagte einige Worte, die ich jedoch nicht mal annähernd verstehen konnte. Mit großen Augen starrte ich ihn erschrocken an und stammelte auf deutsch aufgeregt einige Worte zusammen. In seinem Blick jedoch lag soviel Ruhe und die Lachfältchen, die seine Augen umspielten, strahlten soviel Freundlichkeit aus, dass ich kaum anders konnte, als Vertrauen zu fassen und sein Lächeln zu erwidern. Mit ruhiger Stimme redete er auf mich ein, nahm einen, der von mir zusammengetragenen Steine und gab ihn mir in die Hand. Dann legte er eine seiner Hände auf meine Schulter, mit der anderen griff er mein Handgelenk und steuerte meine Bewegung so, dass sie den Einsatz meines ganzen Körpers verlangten. Ich begriff schnell, dass ich mein gesamtes Körpergewicht einzusetzen hatte, damit mir ein Wurf gelingen konnte, mit dem ich meine Freunde zu Hause endlich beeindrucken würde.
Eine Weile schaute er noch zu, wie ich begeistert diese mir vorher völlig unbekannte Technik ausprobierte und einen Stein nach dem anderen weit von mir warf. Nachdem ein weiterer Mann aus der Hütte trat und ihm etwas zurief, verabschiedete er sich von mir, indem er seine Hand über meinen Kopf gleiten ließ. Bevor er wieder in die Dunkelheit der Baracke verschwand, schaute er noch einmal zurück. Lächelnd winkte er mir zu.
Wenige Monate später, Ende Oktober, als mein Vater in seinem Auto mit mir durch die Stadt fuhr, sah ich meinen unbekannten Freund auf Plakaten einiger Demonstranten, die uns den Weg versperrten, wieder. Aufgeregt rief ich meinem Vater zu: "Den kenne ich. Papa, sieh mal, der hat mir gezeigt, wie man wirft."
"Nein", erwiderte mein Vater lachend, "das kann nicht sein. Das ist Ernesto 'Che' Guevara. Er wurde vor ein paar Tagen ermordet."