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Charlotte Sometimes
Mein dampfender Atem, Nebelschwaden aus dem Toten Meer. Die Hausbeleuchtung, matte Reminiszenz an eine strahlende Vergangenheit, ein Leuchtturm auf zerklüfteten Felsen. Heimatliche Gestade in Sicht. Anziehungskraft: unwiderstehlich. Kurs: Leben!
Meine Hände zitterten, als ich die Klingel betätigte. Warten. Eine Ewigkeit. Kaum war sie vergangen, kroch die nächste schon heran. Der Summer ging. Hastig drückte ich die Tür auf und betrat den Flur. Vierter Stock, hatte sie gesagt.
Ich riß das kitschige Packpapier von der Rose und warf es achtlos in die Ecke. Dann das Treppenaus hinauf.
Im zweiten Stock kam mir eine Frau entgegen. Nicht viel älter als ich, noch keine vierzig. Verhärmtes Gesicht. Falten wie Fahrrinnen des Kummers, vom Salz der Tränen in die Haut gefressen.
Sie sah mich erschrocken an.
Was starrst du? Ist es die schwarze Kleidung? Sind es meine Haare?
Über ein halbes Jahr nicht mehr geschnitten, wuchsen sie mir bis über die Schultern hinab. Vor zwei Wochen hatte ich sie gefärbt. Schwarz. Wie damals. Die Schläfen kahlrasiert, bis in den Nacken hinunter.
Oder ist es diese Rose? Begehrst du sie? Bist du ungeliebtes Ödland?
Ich schob mich an ihr vorbei. Sie trat zur Seite, bis an die Wand.
Hast du etwa Angst? Warum? Was hast du noch zu verlieren? Du bist schon tot.
Die nächsten Stufen wie im Flug. Endlich stand ich vor der Wohnung. Vierter Stock, ihr Name an der linken Tür.
Ich verbarg die Rose hinter meinem Rücken und klopfte. Es dauerte einige Sekunden, bis sie öffnete. Sie lächelte mich an, aber es war ein müdes Lächeln. Die Ränder unter ihren Augen waren erschreckend präsent.
„Hallo“, sagte sie nur.
„Hallo“, erwiderte ich und hielt ihr mit jungenhafter Plumpheit die Rose entgegen. „Die ist für dich.“
Sie zögerte einen Moment, dann nahm sie die Rose und blickte unverwandt auf die rote Blüte. Kein einziges Wort aus ihrem Mund.
Ich hatte plötzlich das sichere Gefühl, etwas Falsches getan zu haben. Zu aufdringlich, zu eindeutig. Ihr Verhalten mir gegenüber vollkommen mißverstanden. Wir kannten uns erst zwei Monate. Nur gute Freunde, nichts weiter.
„Danke, das ist wirklich lieb von dir“, fand sie dann doch noch Worte. „Ich weiß gar nicht recht, was ich sagen soll. Möchtest du nicht erst mal reinkommen?“
Sie lächelte immer noch, und jetzt erreichte das Lächeln auch ihre Augen.
Ein Aphorismus kam mir in den Sinn:
Das Schlimme an der Einsamkeit ist mitnichten, nichts zu empfangen; das Schlimme an der Einsamkeit ist vielmehr, nichts geben zu können.
Ich hatte ihr zu danken, nicht sie mir.
Mit wackligen Knien betrat ich ihre Wohnung. In meinem Bauch schwang eine Abrißbirne wild umher und zerbarst Mauern. Zurück blieb giftiger Schutt. Den würden die Schmetterlinge entsorgen. Auf die Schmetterlinge war Verlaß.
Das gedimmte Licht in ihrem kleinen Wohnzimmer wirkte wie Make-Up – es überdeckte die Blässe ihrer Haut, die Schatten um ihre Augen, die Sorgen. In dem Halbdunkel wirkte sie so lebendig, wie ich sie nicht kannte. Für einen kurzen Moment sah ich das Mädchen, das sie einmal gewesen sein mußte.
Während ich Mantel und Stiefel auszog und mich in den Sessel hockte, stellte sie die Rose in eine schlanke Kristallvase und plazierte sie auf dem Tisch.
„Möchtest du etwas trinken?“ fragte sie. „Kaffee, Saft, Rotwein?“
„Rotwein“, nickte ich ihr zu.
Sie nahm eine Flasche und zwei Gläser aus dem Schrank. Ich betrachtete sie. Auch sie trug schwarze Kleidung. Einen knöchellangen Wickelrock, Socken, eine Seidenbluse mit dem aufwendigen Kunstdruck eines fauchenden roten Drachens auf dem Rücken. Und natürlich schwarze Haare. Heute trug sie sie schulterlang. Morgen vielleicht schon wieder kurz. Übermorgen erneut lang. Sie liebte diese kleine Abwechslung.
Wir prosteten uns zu. Die Rose auf dem Tisch gemahnte uns an ein Thema, aber im Verlaufe der nächsten Stunde vermieden wir dieses geflissentlich. Mir fehlte einfach der Mut. Ihr erging es wohl nicht anders.
Stattdessen sprachen wir über meine Ergebnisse. Klausuren in der Umschulungsmaßnahme, einfache Themen, es sah gut aus. Dann sprachen wir über ihre Ergebnisse.
Irgendwann fragte sie mich, ob ich Musik hören wolle. Natürlich wollte ich, auch wenn ich wußte, daß sie wieder nur dieses eine Lied spielen würde. Wir hatten uns bislang immer nur in der Stadt getroffen, in Cafés, in der Bibliothek, im Museum – immer hatte sie einen DiscMan dabei gehabt, und immer hatte sie dieses Lied gehört.
Sie griff nach der Fernbedienung und startete eine CD. Ich hatte mich nicht getäuscht. Nach einigen Sekunden sah sie mich fragend an.
„Möchtest du lieber etwas anderes...“
„Nein, nein“, unterbrach ich sie. „Ich mag das Lied ja auch. Laß nur.“
Sie nickte abwesend und schloß die Augen. Ich musterte ihr Gesicht. Die fein geschwungenen Augenbrauen. Die Nase, die sie selbst einen zu großen Zinken nannte, aber mir gefiel sie. Die kaum sichtbare Ader unter der Haut am Schläfenansatz. Der hervortretende Wangenknochen. Die schmalen Lippen, zu einem erzwungenen Lächeln zusammengepreßt. Das spitze Kinn...
Als das Lied fast vorbei war, öffnete sie die Augen wieder und sah mich an.
„Kannst du tanzen?“ fragte sie.
„Tanzen? Ich weiß nicht, ich...“
„Möchtest du mit mir tanzen?“
Ich bekam kein Wort heraus, nickte nur.
Das Lied endete. Kaum war die letzte Note verklungen, spielte es erneut.
Sie stand auf, nahm meine Hand und zog mich aus dem Sessel. Ich legte meinen linken Arm um ihren Körper, ergriff mit der rechten Hand ihre linke.
„Was tanzen wir denn?“ wollte ich wissen.
Sie lächelte zu mir hoch. „Ich weiß es nicht. Es gibt keinen Namen dafür. Mach einfach deine Augen zu und laß uns tanzen. Bitte!“
Ich schloß die Augen und folgte ihrem Lied.
All the faces
All the voices blur
Change to one face
Change to one voice
Meine Hand, mit der ich die ihre hielt, schwitzte. Es war mir unangenehm, aber es schien sie nicht zu stören. Ich zog sie noch etwas enger an mich. Es war so gottverdammt wunderbar, sie zu spüren. Ich hatte gar nicht mehr gewußt, wie das war.
Into the night with
Charlotte sometimes
Night after night she lay alone in bed
Her eyes so open to the dark
The streets all looked so strange
They seemed so far away
But Charlotte did not cry
Hin und wieder sah ich ihr ins Gesicht. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen fest geschlossen und die Lippen leicht geöffnet, sodaß ihre Zähne hervorschimmerten. Ich wollte sie küssen, aber sie schien diesen Tanz so sehr zu genießen, daß ich es nicht wagte, ihre Empfindung zu stören.
Sometimes I'm dreaming
Where all the other people dance
Sometimes I'm dreaming
Charlotte sometimes
Mitten in der vierten Wiederholung des Liedes ließ sie mich plötzlich los, trat einen Schritt zurück und fing an zu lachen. Es war das erste Mal, daß ich sie auf diese Weise lachen sah.
„Was hast du denn?“ fragte ich irritiert.
Sie schüttelte nur den Kopf und lachte weiter.
„Hab ich etwas falsch gemacht?“
„Nein“, sagte sie und kam näher. „Du hast überhaupt nichts falsch gemacht. Im Gegenteil.“
Sie umarmte mich und gab mir einen Kuß. Ihre Lippen waren rissig und rauh. Ich erwiderte ihren Kuß. Erst zaghaft, als könnte sie mich verletzen. Dann fordernder. Die Zeit verdrückte sich in ein Stundenhotel. Der Müll in meinem Kopf entsorgte sich wie durch Zauberhand von selbst, restlos und abrupt. Aller Sinn dieser Welt lag nur noch in dem Spiel unserer Zungen, in dem Saugen an unseren Lippen. Ich wollte nicht mehr aufhören. Ich konnte nicht mehr aufhören.
Es war, als würde Wein statt Blut durch meine Adern strömen. Es war wie ein Universum voller Vanillepudding, und frische Erdbeerstücke waren die Sterne.
Als sie sich schließlich von mir löste, war ihre Unterlippe angeschwollen. Ein leichtes Ziehen sagte mir, daß es der meinigen nicht anders ging.
Sie ergriff meine Hand und führte mich ins Schlafzimmer. Es gab keine Lampe, nur Dutzende Kerzen und Teelichter. Sie zündete sie alle an. Dann setzten wir uns auf das Bett.
„Möchtest du heute nacht bei mir bleiben?“
Ihre Stimme klang brüchig.
„Ja“, sagte ich und nahm sie in den Arm. „Das möchte ich.“
Sie gab mir einen Kuß auf die Wange und machte sich von mir los.
„Ich geh nur schnell ins Bad.“
„Okay.“
Sie stand auf, zögerte und sah auf mich herab.
„Kannst du damit leben?“
Ich hatte gewußt, daß diese Frage kommen würde. „Wäre ich sonst hier?“
Sie senkte den Blick, drehte sich wortlos um und ging ins Bad. Aus dem Wohnzimmer hörte ich leise ihr Lied. Immer und immer wieder.
She hopes to open shadowed eyes
On a different world
Come to me
Scared princess
Charlotte sometimes
Als sie zurückkam, war es ein Schock. Ich hatte es gewußt, aber sie jetzt so zu sehen...
Sie trat bis an das Bett heran. „Bist du entsetzt? Du siehst mich an, als wäre ich ein Geist.“
„Nein“, sagte ich leise. Ich fühlte mich hilfos.
Sie trug nur noch einen Bademantel, den sie mit einem Gürtel in der Mitte zusammengeknotet hatte. Das flackernde Kerzenlicht spiegelte sich in ihren Augen wider. Und auf ihrer Kopfhaut. Sie hatte die Perücke im Bad gelassen.
„Nein“, sagte ich noch einmal, „es ist nicht das, was du jetzt vielleicht denkst. Es tut mir nur so furchtbar leid, daß du...“
Sie kniete sich auf die Bettdecke und legte mir ihren rechten Zeigefinger auf die Lippen.
„Sag das nicht, bitte. Du kannst doch nichts dafür.“
„Ich weiß, aber...“
„Kein Aber. Als Kinder haben wir immer gesagt: wenn schlimm ist, machen wir Verband drum. Was meinst du? Machen wir Verband drum?“
Ich konnte nichts sagen. Meine Augen brannten, ich mußte weinen.
Sie lächelte wieder und zog mich wortlos aus. Dann öffnete sie den Bademantel und warf ihn auf den Boden.
„Darf ich dich um etwas bitten?“ fragte sie mich.
„Ja, natürlich.“
„Laß uns heute nicht weitergehen. Nicht am ersten Abend. Wir haben noch soviel Zeit.“
„Ja, die haben wir.“ Ich nahm sie in den Arm.
Dann legten wir uns hin, sie auf die Seite, ich hinter ihr. Zwei ausgemergelte Körper, der in Hochglanzmagazinen angepriesenen Norm hohlwangig spottend. Beide waren wir innerlich zerfressen. Ich von der Einsamkeit, sie vom Krebs.
Metastasen, hatte sie mir vor drei Wochen gesagt und durch mich hindurchgesehen.
Metastasen! Sie hatte die zweite Silbe wie Haß ausgesprochen.
Die Chemotherapie hatte nicht angeschlagen. Ihre Haare waren ausgefallen, aber der Krebs war noch da.
Sie nahm meine Hand und legte sie auf ihre linke Brust. Das Gewebe war schlaff, sie hatte zuviel Gewicht verloren. In zwei Wochen sollte ihr diese Brust entfernt werden.
Ihr Kopf war auf meinen rechten Oberarm gebettet, den ich unter ihr durchgeschoben hatte. Tränen benetzten meine Haut und bahnten sich ihren Weg auf das Kissen. Ich drückte sie an mich und küßte ihren Nacken. Im Wohnzimmer lief immer noch das Lied.
On that bleak track
(See the sun is gone again)
The tears were pouring down her face
She was crying and crying for a girl
Who died so many years before...
Sometimes I dream
Where all the other people dance
Sie drehte den Kopf in meine Richtung. Ihr Nasenrücken glänzte feucht.
„Soll ich dir etwas sagen?“ fragte sie.
„Ja, sag es mir.“
„Ich weiß jetzt, wo all die anderen Leute tanzen.“
Sie ließ den Kopf wieder sinken. Ich spürte ihren warmen Atem auf meinem Arm.
„Ich möchte dir auch noch etwas sagen“, flüsterte ich ihr ins Ohr.
„Was denn?“
„Auch wenn schlimm ist...“
„Ja...?“
„Wir machen Verband drum.“
(Copyrighthinweis: Songlyrics by The Cure, Charlotte Sometimes)