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Chrissy (9): Mein schwarzes Herz
„Hey, du Zwerg! Hat wohl nichts genützt, die Erholung!“
Robert stand breitbeinig vor mir und grinste mich an.
„Idiot! So dumm kannst auch nur du sein und glauben, dass man in sechs Wochen viel größer wird!“
Ich biss mir auf die Unterlippe. Warum nur konnte ich den Mund nicht halten?
„Blöde Kuh!“ Sein spöttisches Grinsen war verschwunden. Er fasste nach meinen Haaren und zog daran.
„Aua, hör auf, du tust mir weh!“
„Auaaaa, du tust mir weeeeeh“, äffte er mich nach und riss kräftiger.
Wütend griff ich ihm mit beiden Händen ins Gesicht, krallte meine Nägel tief in seine Haut.
Robert kniff die Augen zusammen, ballte seine Hand zu einer Faust und boxte in meinen Bauch.
Ich keuchte auf. Zum Glück war es seine linke Hand. Er versuchte, mich wegzudrücken. Ich ließ nicht los. Meine Fingernägel hingen wie die Krallen einer Katze festgehakt in seinem Gesicht.
„Spinnst du, hör auf!“, Robert begann zu heulen.
„Erst lässt du mich los!“, ich würde nicht weinen und ich würde auch nicht als erste aufhören.
Mit einem langen Büschel meiner Haare zwischen den Fingern ließ er die Hand sinken.
Auch ich ließ los und trat einen Schritt zurück. Seine Backen bluteten. Robert verbarg sein Gesicht zwischen den Händen. „Das bekommst du zurück, du Giftzwerg!“, schrie er und rannte in das Schulgebäude.
Sicher würde Robert mir das heimzahlen, doch bestimmt erzählte er es nicht weiter. Sich von einem kleinen Mädchen zerkratzen zu lassen, würde ihn zum Gespött der anderen Jungs machen.
Bei den Mädchen sah das anders aus, wenn ich mich wehrte, rannten sie zu meiner Mutter.
„Irgendwann werden die Kinder Narben von dir zurückbehalten“, warnte sie mich jedes Mal. Um mir danach die Fingernägel so kurz abzuschneiden, dass die Fingerkuppen weh taten.
„Warum rennt der Robert schon in die Schule, es hat doch noch gar nicht geläutet?“
Ein paar Jungs aus meiner Klasse blieben vor dem Schulhaus stehen und sahen fragend zu mir herüber.
Ich zuckte mit den Achseln, während ich mir mit den Händen die Haare glattstrich.
Immer mehr Schulkinder stellten sich vor der Schultreppe auf.
„Hallo Chrissy, wie war die Erholung?“ Lilly streichelte mir zur Begrüßung freundschaftlich über den Rücken.
Ich war das erste Kind aus unserer Schule, das in Erholung musste. Unser Lehrer meinte, dass ich zu klein und zu dünn sei. Deshalb schlug er meinen Eltern vor, mich in ein Kindererholungsheim zu schicken.
„Toll, wie bei Heidi in den Bergen!“, schwärmte ich.
„Och Mensch, ich war noch nie in den Bergen!“, Birgit stellte sich zwischen uns und zog einen Schmollmund.
„Hattest du Heimweh?
Gab es dort viele Kinder?
Hattest du eine Freundin?
Erzähl schon!“ Lilly stupste mir mit dem Zeigefinger an die Schulter.
Vom Heimweh wollte ich nichts erzählen. Nichts von der ersten Woche, in der ich mich jeden Abend in den Schlaf geweint hatte. Nichts von den nassen Bettlaken, weil man nachts nicht aufs Klo gehen durfte. Ich erzählte von Rolf. Einem Jungen, den ich auf dem Bahnhof kennengelernt hatte. Er fuhr auch in das Kindererholungsheim im Allgäu und war super nett. „Rolf hat immer meinen Teller leer gegessen, wenn ich es nicht geschafft habe. Sonst hätte ich nachmittags ins Bett müssen“, erzählte ich den beiden.
„War der auch so dünn und klein wie du?“
Ich fand es ein bisschen gemein, dass Birgit mich das fragte. „Nein, seine Eltern haben ihn dahin geschickt, weil er so zappelig war und sich nicht konzentrieren konnte.“
„Klappt bei mir auch nicht, vielleicht muss ich auch bald in Erholung!“ Lilly lachte.
„Und die anderen Kinder, warum mussten die dahin?“, wollte Birgit wissen.
Ich erzählte von dem Mädchen, das ständig Haare verlor. Sie tat mir leid, ihr Bett lag morgens immer voller langer, schwarzer Strähnen und wie bei Opa sah man bei ihr die helle Kopfhaut. Ich berichtete von dem Jungen, der lang und dünn war, größer als die Betreuer. Nie durfte er beim Sport mitmachen. Ich glaube, sie hatten Angst, dass er auseinanderbricht.
Die Schulglocke läutete. Erste Stunde – Deutsch.
„Chrissy, wie schön, dass du wieder hier bist“, mein Klassenlehrer lächelte mich an. „In den vergangenen sechs Wochen hast du einiges verpasst und musst viel aufholen. Hier habe ich Aufgaben für dich.“ Er reichte mir die Blätter. „Du musst nicht alles auf einmal machen. Du kannst dir Zeit lassen.“
In der zweiten Stunde hatten wir Religion. Die Klasse stand auf; „Gelobt sei Jesus Christus!“, begrüßten wir den Herrn Pfarrer.
„In Ewigkeit Amen!“, antwortete er und schlug das Kreuzzeichen. Wir durften uns setzen.
Aus einer großen Stofftasche zog er ein Bild. In einem Holzrahmen war ein Mädchen abgebildet. Lange, blonde Haare umrahmten ein Gesicht, schön wie die Prinzessinnen im Märchenbuch. Was mich am meisten faszinierte, war ihr Herz. Groß, wie ein weißes Lebkuchenherz, mit einem gelben Strahlenkranz umgeben, war es über ihr rotes Kleid gemalt.
„Kinder, seht ihr das Herz des Mädchens?“ Der Herr Pfarrer zog seine buschigen Augenbrauen zusammen und blickte in die Klasse. Siebenunddreißig Köpfe nickten.
„Wer kann mir sagen, warum es weiß ist?“
Sofort gingen viele Hände in die Höhe.
„Weil es keine Sünden hat!“, rief Lilly, ohne dass sie aufgerufen wurde.
„Richtig“, bestätigte der Herr Pfarrer. „Ihr kommt bald zur Erstkommunion, da müssen eure Herzen genauso weiß sein wie das Herz dieses Mädchens. Deshalb müsst ihr vorher alle zur Beichte gehen. Dieses Mädchen“, er klopfte dabei lautstark auf das weiße Herz, „hat sich für unseren Herrn Jesus Christus angestrengt und keine Sünden begangen. Jede Sünde macht einen schwarzen Fleck auf euer Herz. Unser Heiland kennt jedes Herz und weiß genau, welches Kind sündigt. Er belohnt Kinder, die ein reines, weißes Herz haben und bestraft Kinder mit einem schwarzen Herzen.“
Ich dachte an Robert, wie ich ihm das Gesicht zerkratzt hatte und dass das bestimmt auch eine Sünde war und mir fielen noch ein paar andere Sünden ein. Mein Herz sah bestimmt wie ein Marienkäfer mit vielen schwarzen Punkten aus.
„Chrissy“, unterbrach er meine Gedanken. „Du warst zur Kommunionvorbereitung nicht hier. Du musst ins Pfarrhaus kommen. Ich werde dich dort unterrichten. Heute Nachmittag um 14:00 Uhr ist deine erste Vorbereitungsstunde und übermorgen die zweite. Am Sonntag üben wir gemeinsam den Einmarsch in die Kirche.“
Kurz vor 14:00 Uhr klingelte ich an der Tür des Pfarrhauses.
Fräulein Anni, die Pfarrköchin, öffnete die Tür. „Hallo, da ist ja unser Kommunionkind.“
„Hallo“, flüsterte ich, mir war ziemlich mulmig zumute, noch nie war ich im Pfarrhaus gewesen. Jeder im Dorf kannte und mochte Fräulein Anni, die für alle ein Lächeln hatte und manchmal sogar einen Lutscher. Sommer wie Winter trug sie eine bodenlange, schwarze Schürze und darunter eine langärmelige, weiße Bluse. Auf ihren grauen Haaren saß immer eine kleine schwarze Haube.
„Komm, der Herr Pfarrer wartet schon.“ Zögernd und mit gesenktem Kopf folgte ich ihr ins Haus. Sie öffnete eine der vielen Türen. Es roch nach den Zigarren, die der Herr Pfarrer manchmal rauchte. Niemals zuvor stand ich in einem Zimmer mit so vielen Büchern. Vom Boden bis zur Decke gab es Bücherregale. Und an der Wand dazwischen hing das Gemälde mit dem Mädchen. Ich starrte auf Ihr Herz. Wie gerne hätte ich auch so ein Herz gehabt.
„Gelobt sei Jesus Christus!“, murmelte ich.
Der dicke Bauch des Herrn Pfarrers stieß an die Tischkante, als er aufstand und „in Ewigkeit, Amen!“, antwortete. „Setz dich dorthin!“ Er wies mit der Hand an das andere Ende des Tisches.
Ich fühlte mich fast genauso wie in der Eisenbahn, als ich mit Rolf in das Erholungsheim fuhr, nur dass ich heute nicht heimlich weinte.
„Wir werden am Sonntag den Einmarsch der Kommunion Kinder in die Kirche üben. Du warst bei der Einteilung nicht hier, deshalb wirst du am Schluss mitlaufen. Gerlinde in der Mitte, rechts Marianne und links du, das gibt ein schönes Bild.“ Zufrieden faltete der Herr Pfarrer seine Hände über dem Bauch und lächelte. Auch wenn ich mich getraut hätte, etwas zu sagen, ich hätte keinen Ton hervorgebracht, denn in meinem Hals steckte etwas fest, das so groß war wie Mamas Semmelknödel. Ich wollte nicht am Schluss laufen. Gerlinde war die größte in unserer Klasse und die einzige, die schon sitzen geblieben war. Marianne war ihre Freundin, sie sprach fast nie und wenn, dann lief ihr Spucke aus dem Mund.
Fräulein Anni kam ins Zimmer und stellte ein Glas Saft und einen Teller mit Keksen vor mich hin. Ich rührte nichts an. Alles, woran ich denken konnte, war: dass ich als letzte laufen musste. Was der Herr Pfarrer an diesem Nachmittag von der Hostie und dem Abendmahl erzählte, passte nicht in meinen Kopf, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt war, dem lieben Gott einen Deal vorzuschlagen: Lieber Gott, ich verspreche dir, nie wieder andere Kinder zu kratzen und ich werde jeden Sonntag zu dir in die Kirche kommen. Nur, bitte mach, dass ich nicht als letzte laufen muss.
Nach dem Unterricht rannte ich so schnell ich konnte nach Hause. „Ich will nicht mit Marianne und Gerlinde am Schluss laufen, sie sind nicht meine Freundinnen. Wenn ich das muss, dann gehe ich nicht zum Weißensonntag!“, heulend und zitternd vor Empörung stand ich vor Mama. Den restlichen Nachmittag weinte ich. Bis Mama entnervt versprach, mit Papa zu reden und ihn zum Herrn Pfarrer zu schicken. Am selben Abend ging mein Vater ins Pfarrhaus.
Vor Aufregung konnte ich nicht schlafen und lauschte, bis ich die Haustüre hörte. Dann stand ich auf und drückte mein Ohr gegen die Tür. Papa erzählte, wie er mit dem Herrn Pfarrer Wein getrunken hatte. Von dem schönen Bild am Schluss, dass die drei Mädchen geben würden und sich daran nichts mehr ändern ließ.
Nie mehr wollte ich zu diesem Kommunion-Unterricht gehen. Der Herr Pfarrer wusste doch nun, wie schlimm es für mich war, am Ende zu laufen. Warum ließ er mich nicht irgendwo in der Mitte mitlaufen? In der Nacht träumte ich von dem Mädchen auf dem Bild.
Aus Angst vor Bestrafung ging ich am darauffolgenden Tag doch wieder zum Unterricht.
Fräulein Anni brachte Saft und Kekse. Ich rührte es wieder nicht an. Als die Pfarrköchin zum Abräumen kam, fragte sie: „Kind, warum isst und trinkst du denn nichts?“
„Weil ich ganz am Schluss laufen muss!“, antwortete ich und blickte auf den Boden.
„Aber Mädchen, jemand muss doch am Schluss laufen. Das kann doch der Herr Pfarrer auch nicht ändern“, mitleidig strich sie mir mit der Hand über den Kopf.
„Aber der Herr Pfarrer kann die Reihe einfach umdrehen und wir drei gehen zuerst in die Kirche.“ Stolz über meinen Einfall und gespannt, was sie dazu sagen würde, blickte ich sie an.
Doch statt Ihr antwortete der Pfarrer: „Morgen wirst du zum Beichten kommen und dann wird deine Seele so weiß sein wie die von dem frommen Mädchen auf dem Bild. Ich will danach nichts mehr von dir hören, du weißt, dass man Erwachsenen zu gehorchen hat und es Sünde ist, sie nicht zu ehren.“
Als ich an diesem Nachmittag nach Hause kam, hatte Mama einen weißen Spitzenstoff gekauft und angefangen ein Kommunion-Kleid zu nähen. Weil der Stoff so teuer war, gab es ein kurzes Kleid.
„Das kannst du nach der Kommunion auch noch tragen“, hatte Mama sich gefreut.
Am Tag der Erstkommunion wartete meine Taufpatin nach dem Gottesdienst auf mich.
„Chrissy, um Himmels willen, warum musstest du denn am Schluss laufen und als einzige im kurzen Kleid?“
Mit vor Scham zitternder Stimme antwortete ich: „Weil ich ein schwarzes Herz habe!“