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Chrissy (10): Die alte Scheune
In meinem Heimatdorf gab es eine alte Scheune. Obwohl an ihrem hölzernen Tor ein Schild hing, auf dem in roten Buchstaben „Betreten verboten“ stand, schlichen wir uns häufig hinein, um zu spielen. Wir waren eine Bande aus fünf Kindern, die in der selben Straße wohnten. Der große Paul, mein bester Freund Martin, Angsthase Ludi und der stotternde Bruno gehörten dazu. Häufig spielten wir im Erdgeschoss, in das man über eine offene Seitentüre gelangte. Hier war es düster und schaurig. Nur wenig Licht drang durch die kleinen, von Fliegenschiss und Staub verdreckten Fenster. An dicken Wänden hingen schwere, rostige Eisenketten, daran hatte man früher die Stiere festgebunden. Hohe Metallgitter trennten die Tiere voneinander. Zwischen den Gittern standen längliche Steintröge, in denen altes Heu lag.
Der hintere Teil war gefüllt mit allerlei Gerätschaften wie Heuwagen, Dreschschlegel, Siebe und Güllefässer. Es roch nach Stall und überall lag eine dicke Schicht aus Staub und Stroh. Wenn der Wind um die Scheune blies, rieselte feines Heu durch die Ritzen der Holzdecke.
Meistens spielten wir hier Verstecken. Oder wir jagten die Gespenster aus schaurigen Geschichten, die im Dorf erzählt wurden. Da gab es den Stier, der sich mit seiner Eisenkette erdrosselte, weil er die Schläge des bösen Bauern nicht mehr aushielt. Oder das Pferd, das den Bauern abwarf und sich danach im Dorfweiher ertränkte. Immer wieder, so wurde erzählt, könne man nachts ein Brüllen und Wiehern aus der Scheune hören.
Wir wieherten und brüllten, rannten dabei durch die Scheune und jagten einander. Einmal hatte uns die alte Lene gehört, die gegenüber der Scheune wohnte. Mit erhobenen Fäusten war sie an der Türe gestanden. „Ihr Saubande, wenn ich euch noch einmal hier erwische, dann sage ich es dem Bauern!“ Kreischend hatte sie ihre dünnen Arme in die Höhe gestreckt. Wochenlang wagten wir uns nicht mehr in die Nähe der Scheune.
Bis wir eines Tages unbedingt wieder auf dem Heuboden spielen wollten. Das größte Problem war Lene, ein Blick aus ihrem Fenster und sie konnte uns sehen. Als Anführerin der Bande schlug ich vor, dass Paul Schmiere stehen sollte. Immer nur einer von uns durfte zum Tor rennen, um hineinzuschlüpfen. „Paul, du pfeifst, wenn du die Lene siehst. Bleib hinter der Mauer, damit sie dich nicht sehen kann.“
„Klar doch, oder denkst du, ich bin blöd und lass mich erwischen!“ Er tippte sich an die Stirn.
Paul war mein einziger Gegner bei der Mutprobe gewesen. Wer es schaffte, den Turm unserer alten Burgruine bis zum Fenster hochzuklettern, der sollte Anführer unserer Bande werden. Ich erreichte das Bogenfenster mit zitternden Knien und brauchte ewig, bis ich wieder unten war. Paul kletterte weiter, bis an den Rand des Turms. Er schaffte es auch vor mir, wieder unten anzukommen. Trotzdem wollte die Gruppe ihn nicht als Anführer haben. „Der Eierkopf ist zwei Jahre älter als wir und lügt.“
„Sag noch einmal Eierkopf zu mir und ich schlage dich windelweich!“
Martin duckte sich gerade noch rechtzeitig, sonst hätte er von Paul eine Ohrfeige bekommen.
Pauls Kopf hatte tatsächlich die Form eines waagrechten Eies. Ständig prahlte er von seinen Abenteuern mit Old Shatterhand und Winnetou. „Die beiden sind meine besten Freunde!“, erklärte er stolz.
„Der lügt, dass sich die Balken biegen!“, meinten die Jungs und liefen davon, wenn er zu erzählen anfing.
„Aber Paul kann doch nicht so lügen“, zweifelte ich und hörte ihm weiter mit offenem Mund zu.
Martin schlüpfte als Erster durch das Scheunentor.
„Jeeetzt iiich“, stotterte Bruno und drückte sich als Zweiter durch.
Vor mir kam Ludi, er brauchte ein bisschen länger, sein Bauch steckte fest und er musste ihn ordentlich einziehen, damit er durch den schmalen Spalt passte.
Bevor ich durch das Tor schlüpfte, winkte ich Paul zu, dass er kommen sollte.
Zum Glück hatte Lene sich nicht blicken lassen, und wir stürmten auf den Heuboden.
Im vorderen Bereich hatte der Bauer das Heu schon abgeholt, aber im hinteren Teil gab es Heuberge, die bis zum Dachgebälk reichten. Wir streckten die Arme aus und ließen uns ins Heu fallen.
„Geschafft, die alte Lene kann uns mal.“ Ludi breitete die Arme aus und machte einen Heuengel.
„Mensch, sei leise, die Alte hat Ohren wie ein Luchs“, flüsterte Paul und blickte Ludi dabei so böse an, dass der sich umdrehte.
„Übermorgen ist der Erste Mai, da können wir der Lene und dem blöden Bauern eins auswischen. Ich scheiß dem vor die Tür!“ Paul grinste uns an.
Wie wär’s, wenn wir die Haustüren mit Brennholz zustapeln? schlug Martin vor.
„Super Idee!“, ich sah Bruno und Ludi an, die zustimmend nickten.
„Vie-lleicht noch paar f-faule Eier in d-den Briefkasten w-werfen“, stotterte Bruno.
„Au ja, aber wo bekommst du die Eier her?“, wollte ich wissen.
„K-kein Prob-blem, m-meine O-oma vergisst i-immer w-welche im H-hühnerstall“, stotterte Bruno weiter.
„Ich bringe Klopapier mit, habe ich schon unter meinem Bett versteckt, damit können wir seinen Traktor und Lenes Gartenzwerge einwickeln. Du darfst es auch nehmen“, lachend schlug ich Paul auf die Schulter.
„Ich will dein doofes Klopapier nicht.“ Paul griff mit beiden Händen ins Heu und warf es mir über den Kopf. Schnell sprang er auf und rannte davon.
„Na warte!“, ich nahm mir zwei Hände voll Heu und verfolgte ihn. Doch als Paul begann, den höchsten Heuberg hochzuklettern, gab ich auf. Er war zu schnell für mich.
Die Jungs lieferten sich ebenfalls eine Heuschlacht. Ich ließ mich fallen und schloss die Augen. Nachher würde ich einen Heuberg herunterrutschen, dachte ich, während das Heu, das auf mich rieselte, in meinem Gesicht kitzelte.
„Chrissy, willst du jetzt schlafen?“ Martin hatte sich neben mich fallen lassen.
„Nö, ich bin sauer, ich hab den Paul nicht gekriegt.“
„Wo ist der überhaupt?“ Martin stand auf und blickte sich um.
„Fangt mich doch!“ Breitbeinig stand Paul auf dem höchsten Heuberg und winkte uns grinsend zu.
„He Leute, kommt, den schnappen wir uns!“, Martin rannte los und alle hinterher.
Wir kletterten um die Wette, Bruno und Martin waren vor mir und hangelten sich von einem Heuballen zum nächsten. Über die Hälfte hatten wir schon geschafft, als der Heuhaufen zu schwanken begann.
„Der fääällt!“, Bruno setzte sich auf den Hosenboden und rutschte den Heuberg hinunter. Martin folgte ihm.
„Paul, los komm!“, schrie ich, als unter mir das Heu wegrutschte und ich fiel.
Ludi sprang und landete neben mir.
Schnell rappelten sich alle auf und liefen zum Tor. Hinter uns polterte es, Heuballen krachten auf den Holzboden. Erschrocken hob ich die Hände über den Kopf. Mit aufgerissenen Augen blickten wir auf einen Nebel aus Staub und Heu.
„Paul!“ Martin schrie es so laut, dass wir ihn erschrocken anstarrten. Er zog hustend sein T-Shirt über die Nase und kletterte auf das Heu, bis zu der Stelle, an der Paul heruntergestürzt sein musste. Vergeblich versuchte er einen der Heuballen wegzuziehen, während er immer wieder, „Paul! Paul!“ rief.
Wir krochen über das Heu. Ständig rutschte mein T-Shirt von der Nase, und ich musste husten. Tränen aus Staub und Angst liefen über mein Gesicht. Meine Panik wurde immer größer, während wir den Heuballen zur Seite zogen.
„Seid still, ich hab was gehört“, Ludi hielt den Zeigefinger vor den Mund und wir lauschten.
Irgendwo war da ein Kratzen. Es kam vom Tor – die dünne Lene zwängte sich durch den Eingang. Sie stand da. Blickte in unsere verheulten Gesichter. Masken aus Staub und Heu.
Ohne Luft zu holen, bewegungslos, blieb ich stehen. Biss mir auf die Lippen. Vielleicht war er tot. Was würden die Erwachsenen mit uns machen?
„Da liegt Paul irgendwo!“ Martins Zeigefinger deutete nach unten.
Lene, starrte auf die wie ein Gebirge aufgetürmten Heuballen. Ohne etwas zu sagen, wandte sie sich um und zwängte sich nach draußen.
Weinend und heftig atmend zog ich weiter an dem Heuballen. Martin zog mit. Er schluchzte. Ludi und Bruno begannen von hinten zu schieben. So zogen und schoben wir mehrere Heuballen auf die Freifläche vor dem Tor. Bis wir Stimmen hörten, die Eisenkette rasselte, das Vorhängeschloss wurde geöffnet. Quietschend ging das Tor auf. Der Bauer und der Dorfdepp Karl kamen auf uns zu. Lene blieb mit zusammengekniffenen Augen am Tor stehen.
„Was ist passiert?“, die Stimme des Bauern klang ruhig. Er sah einen nach dem anderen an.
Vor Angst zitternd und stotternd wie Bruno, sagte ich zu ihm: „Der Paul iist runtergefallen und daas Heu auf ihn drauf.“
„Wo war das?“ Er fragte wie unser Lehrer, wenn er eine Matheaufgabe stellte.
Ich deutete dahin, wo ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte.
„Komm.“ Der Bauer nickte Karl zu.
„Ihr bleibt stehen!“, rief er, als wir ihm folgen wollten.
Bewegungslos sahen wir zu, wie die Männer nach und nach die Heuballen auf die Seite schafften. Neben mir betete Martin: „Bitte, bitte, lieber Gott, mach, dass er gesund ist …“
Bruno heulte und zog den Rotz hoch.
Ich sah mich nach Ludi um, er war nicht mehr da, auch Lene stand nicht mehr am Tor. Einen Moment lang dachte ich darüber nach, auch einfach zu verschwinden.
„Da, da ist er.“ Karl blickte in die ausgehobene Heugrube und strahlte.
Wir rannten los.
Ein lautes „Halt“ brachte uns zum Stehen. „Ihr könnt jetzt nicht über das Heu steigen, sonst rutscht vielleicht noch was nach.“
Keiner von uns traute sich zu fragen, was mit Paul war, ob der noch lebte …
Die beiden hoben noch vier Heuballen aus der Grube, bevor der Bauer Paul aus dem Loch zog. Vorsichtig legte er ihn ins Heu. Der begann zu zappeln und griff sich in den Mund. Er zog Heu heraus. Dann spuckte er. „Pfui Deibel, mein ganzer Mund ist voll Dreck. Ich bin fast erstickt.“
„Tut dir was weh?“ Der Bauer streckte Paul die Hand hin und half ihm beim Aufstehen.
„Nö.“ Paul schüttelte den Kopf. Er wurde knallrot im Gesicht und ließ die Hand des Bauern los.
„Dann hattest du mehr Glück als Verstand, Junge.“ Der Bauer schüttelte ungläubig den Kopf und schob Paul vor sich her.
Obwohl wir sehr erleichtert waren, standen wir mit hängenden Köpfen da, keiner von uns wagte es, den Bauern anzuschauen.
„Du bist doch ein Bub vom Gruber Hans!“ Er blickte Martin an.
Der nickte.
Es war wirklich nicht schwer, die Kinder unseres Nachbarn Hans zu erkennen, den außer ihnen hatte kein Kind im Dorf so blonde Haare.
„Und du gehörst dem Franz“, stellte er fest und tippte Bruno auf die Brust
„Jaaa.“ Sein Stottern war kaum zu hören.
Dann schaute er mich an. „Und du bist eine von Sigis Mädchen!“
Ich brachte ein krächzendes „Ja“ heraus.
Zu Paul sagte er nichts. Doch ich war mir sicher, dass er ihn auch kannte.
„Kannst heimgehen Karl, ich komme auch gleich“, wies er den Dorfdepp an.
„Ich weiß gar nicht, was ich mit euch machen soll. Ihr könnt doch lesen und wisst genau, dass ihr hier nicht spielen dürft. Mein Gott, Kinder, des ist viel zu gefährlich. Wenn ich des eure Väter erzähl, die schlagen euch grün und blau.“
Ich nickte und dachte an Papa. An Mama. An ihr Weinen und an meine kleinen Schwestern, die jedes Mal mitheulten. Martin würde es noch schlimmer erwischen, sein Vater zog jedes Mal den Gürtel aus.
„Himmelherrgott, ich werde es euren Eltern nicht sagen, wenn ihr mir versprecht, nie wieder in die Scheune zu gehen.“
Bei Himmelherrgott waren wir alle zusammengefahren. Es dauerte, bis wir unser Glück fassen konnten. Eifrig nickten wir.
„Versprochen“, sagte ich, als der Bauer mich ansah.
„Ja versprochen.“ Die Stimmen der Jungs klangen genauso weinerlich wie meine.
„Raus mit euch!“ Das brauchte er nicht zweimal zu sagen.
„Mama, kennst du den Bauern, dem die alte Scheune gehört?“
„Dem Kleebauer, warum?“
„Der ist doch schuld, dass sein Stier tot ist und sein Pferd im Dorfweiher liegt!“
Mama, die sich gerade gebückt hatte, um Wäsche aus der Waschmaschine zu holen, stand auf und sah mich an.
„Wer erzählt dir nur so einen Unfug. Das mit dem Stier war ein Unfall. Da konnte keiner was dafür.“
„Aber der Bauer, der hat ihn doch immer geschlagen. Darum hat sich …“
„Nein, nein!“, unterbrach mich Mama. „Das stimmt nicht, Chrissy. Ich kenne die Geschichten aus dem Dorf auch. Aber du kannst mir schon glauben, der Michael Kleebauer, das ist ein ganz Lieber.“
„Und das Pferd? Das jetzt im Dorfweiher liegt?“
„Da liegt kein Gaul. Der Michel ist mit seinem Pferd gestürzt, dabei hat es sich den Knöchel gebrochen. Das arme Tier hat sich noch bis zum Dorfweiher geschleppt. Dort ist es umgefallen und der Michel musste es erschießen.“
„Damit es nicht mehr leiden musste?“, fragte ich nach.
„Genau. Den Karl kennst du doch auch?“
„Den Dorfdepp?“
„Das will ich nie wieder hören, er ist der Knecht vom Kleebauer.“
„Aber alle sagen doch so zu ihm.“
„Das ist ein armer Kerl, der nicht ganz richtig im Kopf ist. Überall, bei jedem Bauern, hat er nach Arbeit gefragt. Keiner hat ihn haben wollen. Der Michel, der hat ihn eingestellt.“
Und der Karl hatte geholfen, den Paul aus dem Heu zu holen, dachte ich und schämte mich.
„Aber sag mal, weißt du, warum die alte Lene heute beim Beten in der Grotte war?“ Wollte Mama wissen und holte die restliche Wäsche aus der Maschine.
Verzweifelt überlegte ich. Was wusste Mama? Mein schlechtes Gewissen und die Angst waren wieder da. Aber sie konnte doch nichts wissen, beruhigte ich mich, sonst hätte sie schon längst was gesagt. Ich schluckte trocken, bevor ich antwortete: „Nö. Warum?“
„Sie hat mir erzählt, dass sie für den armen Jungen gebetet hat. Bevor ich sie fragen konnte, für welchen Jungen? Ist sie einfach davongelaufen.“
Mir fiel ein, dass unsere Klasse letzten Monat bei der kleinen Felsengrotte war, die oberhalb des Armenhauses stand. Wir mussten vor die Marienstatue knien und ein Gegrüßet seist du Maria beten. „Ihr könnt die Muttergottes immer um Hilfe bitten“, hatte uns der Herr Pfarrer erklärt.
Mama ging nach draußen, um die Wäsche an die Leine zu hängen. Ich lief ins Kinderzimmer, holte unter dem Bett das Klopapier hervor und stellte es zurück.