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Clelia oder Die Liebe des John Warner G.

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08.07.2003
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Clelia oder Die Liebe des John Warner G.

Clelia war beim ersten Anzeichen auf den bevorstehenden Sonnenaufgang verschwunden. Nachdenklich starrte er abwechselnd an die Decke und zum Fenster, welches, von zarten weißen Vorhängen umrahmt, die frische Hochsommerluft hereinließ.
Der Wecker läutete ein zweites Mal, doch er beschloss, auf das Frühstück zu verzichten. Lieber wollte er versuchen, Clelia noch einmal zurückzuholen. Fünfzehn Minuten später jedoch sah er ein, dass dies unmöglich war, und stand seufzend auf. Wollte man sein Leben mit einem Haus vergleichen, so würde dieses nur zwei Räume haben. Der eine war weiß gestrichen, man könnte ihn unpersönlich oder, wenn man zu Optimismus neigte, auch neutral nennen. In ihm befanden sich viele Gegenstände. Die Einladung zu langweiligen Empfängen und Geschäftsessen, die sich in der Schublade eines stählernen Schreibtisches häuften. Tadellose Nadelstreifenanzüge und dunkle Krawatten, von denen man erwartete, dass er sie trug. Bücher, die man als Bürger mit überdurchschnittlichem Bildungsniveau gelesen haben musste, um als eben solcher anerkannt zu werden, obwohl die Seiten so nichtssagend waren wie auch alles andere in diesem Raum: Alte Klassenfotos, Geschenke und weitere Nichtigkeiten, an denen andere Menschen hingen. Auch der Safe stand in diesem Raum.
Um eines vorweg zu nehmen: John Warner G.,24, Yale-Absolvent und von Beruf Sohn reicher Eltern, verachtete das Geld nicht. Er war damit aufgewachsen, es war ihm in die Wiege gelegt worden, doch er liebte es nicht. Es war Teil seines Lebens, pure Notwendigkeit, nicht mehr und nicht weniger. Er wusste, Leute, die kein Geld hatten, mussten sich um Jobs bemühen, Jobs bedeuteten Investition, sowohl von Zeit als auch von Gedanken. Die Tatsache, dass er Geld hatte und immer haben würde, ermöglichte es ihm, sich in seinem 200-Quadratmeter-Appartement in der Upper Kensington Street zu verschanzen und alltägliche Dinge wie Freunde, Familie, Arbeit und alle anderen Nichtigkeiten auszusperren, Nichtigkeiten, die andere Menschen hochtrabend als den Sinn und Zweck ihres Lebens bezeichneten. Hier konnte er sich dem Einzigen widmen, dass seinem Dasein Sinn und Zweck gab, und dieses befand sich im zweiten Raum. Dieser Raum war kleiner als der andere. In ihm herrschte, gleich in einer Traumlandschaft, mit bläulichen Schleiern überhangenes Halbdunkel. Und mitten in Raum stand sie.
John hätte nicht genau sagen können, wann genau Clelia in sein Leben getreten war. Irgendwann war sie einfach vor seinem inneren Auge erschienen, ganz klar und deutlich. Er hatte alles ganz genau sehen können: ihre großen, flachsblonden Locken, die hellbraunen, ernsten Augen, das Muttermal unter ihrem rechten Auge. Da hatte sie ihren Namen bekommen. Clelia, wie das Mädchen aus Stendhals Kartause von Parma. Er hatte dieses Buch als Sechzehnjähriger gelesen, in den endlos langen Sommerferien am Strand, hatte sich darin vertieft, während seine Eltern sich unentwegt mit Mitgliedern der High Society und anderen wichtigen Persönlichkeiten trafen. Wenn er ehrlich war, konnte er sich an die Geschichte des Romans trotz des damaligen intensiven Studiums nicht erinnern. Das einzige, was in seinen Ohren wiederhallte, wenn er später an das Buch zurückdachte, war der zarte Klang dieses unvergesslichen Namens: Clelia. Die Zunge berührt zweimal die obere Zahnreihe und rollt auf den beiden sanften, hellen Vokalen aus. Clelia.
Und als er eines Tages dieses vollkommene Geschöpf vor sich stehen sah, war es nur zu logisch, dass es diesen Namen erhielt.
Er konnte sich also nur verschwommen daran erinnern, wann genau Clelia sein Leben in zwei Hälften, das Haus in zwei Zimmer unterteilt hatte. Doch er konnte sich genau an die Zeit vor ihr erinnern, an das große, helle, mit unnötigem Krimskrams vollgestopfte Zimmer, nicht zuletzt deswegen, dass er es auch jetzt noch oft genug betreten musste.
Es war das Leben der sorglosen jungen Oberschicht Englands am Ende des 20. Jahrhunderts. Gut aussehende, perfekt frisierte junge Männer und schlanke Mädchen in Versace-Klamotten, die ihre Nägel immer perfekt manikürt hatten. Geld genug hatten sie ja. Und Zeit sowieso, mal abgesehen von den täglichen Shopping-Eskapaden.
Nicht, dass diese Mädchen nicht hübsch gewesen wären. Manche von ihnen vereinten sogar Schönheit mit geistreicher Intelligenz. Und wenn man ganz genau hinsah, entdeckte man unter all diesen mit Vorzügen gesegneten Damen auch noch welche, die mit beachtlichen zwischenmenschlichen Gaben, Taktgefühl und Gespür für Höflichkeit ausgestatten waren.
Doch all diese schönen Geschöpfe hatten eines gemeinsam: Sie waren real. Sie waren greifbar und-wie jedes menschliche Wesen-mit kleineren oder größeren Makeln versehen. Sie hatten nichts Faszinierendes, nichts Außergewöhnliches.
Einmal hätte John Warner G. beinahe ein irdisches Wesen dazu bemächtigt, ein bedeutenderer Teil seines Lebens zu sein. Sie hieß Jenny McAllister und kam, wie alle Mädchen in seinem Bekanntenkreis, aus der gutverdienenden Oberschicht. Ihr Vater war Hotelunternehmer. Jenny selbst war ein hübsches Mädchen von ruhiger, freundlicher Natur, eher klein, mit schwarzen Haaren und dunklen Augen. Ihr Gesicht und ihre gesamte Ausstrahlung hatten etwas Elfenhaftes. John hatte sie an einem Samstag getroffen, der jedem anderen glich. Pubs, gutgekleidete Menschen, Rauch von teuren Zigarillos und leeres Gewäsch. Sachen, die John nicht interessierten. Und dann hatte man ihm Jenny vorgestellt.
Sie war die Studienkollegin eines Freundes. Ihre Art und ihr Auftreten unterschieden sie von den anderen jungen Frauen im Raum. John war fasziniert. Zumindest fürs Erste.
Denn er fing an, Jenny einzuladen. Mal ins Café, dann ins Kino. Doch die Faszination, die von ihr ausging, verblasste mit jedem Mal wie die Silberschicht eines billigen Rings, die nach und nach aubgerieben wird, bis ein wertloses Metall zum Vorschein kommt.
Er besuchte Jenny in ihrer Wohnung in der Upper Elm Street. Und dann die große Ernüchterung. Jennys Augen verloren ihren mysteriösen Glanz. In der Küche lagen Fertiggerichte herum, und im Wohnzimmer stapelten sich Frauenmagazine. Kurzum: Auch Jenny war ein Wesen aus Fleisch und Blut, mit Abnehmratgebern, etwas angestaubten Regalen und Nummern vom Pizzaservice und von der Kosmetikerin an den Kühlschrank geheftet.
Sie war normal. Sie war gewöhnlich.
John hörte auf, sie einzuladen. Er suchte immer noch nach etwas anderem. Nach etwas, das sein Leben verändern und es außergewöhnlich machen würde. Und so schuf er sich wie der antike Bildhauer Pygmalion sein Traumwesen, unangreifbar, unverwundbar, alterslos und unsterblich. Nur, dass sich in seinem Fall keine gnädige Liebesgöttin erbarmen werden würde.
Oft wurde ihm bewusst, dass seine Liebe zu Clelia immer nur in seinen Gedanken existieren würde. Nie würde er sie in ein nobles Restaurant ausführen, nie würde er sie seinen Freunden vorstellen, ihr einen wertvollen Trauring an den Finger stecken oder ihre gemeinsamen Babys im Arm halten.
Doch es war ihm recht so. Nichts Gewöhnliches, Alltägliches würde sein Gift über sie beide sprühen.
Clelia war anders. Eine Perle unter bemalten Glaskugeln. Nur manchmal wurde er nachdenklich. Wenn er alleine in seiner Wohnung saß, dachte er oft darüber nach, wie es wäre, wenn Clelia real wäre. Wenn sie jetzt bei ihm wäre. Natürlich war sie ja bei ihm. Aber gleichzeitig auch ewig weit weg.
Er wusste, in seiner Welt würde er nie eine Frau finden, die Clelia auch nur annähernd glich. Manchmal ging er mit einer hübschen, jungen Frau aus, einerseits, um keine merkwürdig fragenden Blicke auf sich zu ziehen, die ein junger Mann, der am liebsten alleine in seiner Nobelwohnung saß und keinen Menschen einließ, sonst abbekommen hätte; andererseits auch, um seine Eltern zufriedenzustellen.
Er blieb eine Anstandsfrist mit ihr zusammen und trennte sich dann unter meist nichtigen Vorwänden, was fast immer eine Riesenszene von Seiten der jungen Frauen zur Folge hatte-denn die waren es beiweitem nicht gewohnt, sich wegen einer Lappalie einfach abschieben zu lassen.
Nach solchen eher kurzen Ausflügen in die wirkliche Welt flüchtete John so schnell wie möglich in sein Paradies, seine Insel Utopia zurück. Nach den anstrengenden Streifzügen durch die Londoner In-Clubs mit einer ebenso anstrengenden wie anspruchsvollen jungen Damen war die Rückkehr zu Clelia wie der Rückzug in ein dunkles, kühles Zimmer, nachdem einem draußen die Hitze die Haut versengt hatte.
Eine seiner jüngsten Ausflüge in die reale Welt hieß Jessica. Mit knapp drei Wochen Beziehung hielt sie den Rekord. Sie hatte eine leichte Ähnllichkeit mit Jenny, war jedoch größer und extrovertierter. Sie hatte wohl unter allen irdischen Mädchen den größten Eindruck auf John hinterlassen. Schließlich hatte es nicht viele gegeben, die nach dem unvermeidbaren Aus eine teure Porzellanvase gegen die Wand geschleudert und sämtliche Nachbarn mittels Geschrei aus ihren Wohnungen gelockt hatten.
Jessica war das Leben selbst, und niemand konnte verstehen, warum sie mit dem immer etwas weltfremd wirkendem John überhaupt erst warm geworden war.
Sie war eine ungewöhnliche Schönheit, eher vergleichbar mit einem wüst tobenden Meer als mit einer hübschen Porzellanpuppe. Für eine Frau war sie sehr groß, beinahe so groß wie John, ihre Gesichtszüge waren markant und in ihren schwarzen Augen erkannte man ihren unersättlichen Lebenshunger.
Ihre Eltern waren sicherlich nicht weniger gut betucht als die Johns, und Jessica nahm diese Gabe dankbar an. Mit zwanzig hatte sie bereits mehr von der Welt gesehen als manche Menschen es in achtzig Jahren schaffen würden. Sie war gebildet, aufbrausend und etwas sarkastisch.
Aber auch sie war eben nur ein Mensch. Einer, der schlecht aufgelegt war, wenn man ihn um vier Uhr morgens anrief. Einer, der wie alle anderen nach acht Stunden tanzen nicht mehr wie frisch aus dem Ei gepellt aussah.
Und genau deshalb würde sie es nie mit ihrer unsichtbaren, nicht existenten Rivalin aufnehmen können.
Es war Sonntag, John lag im Bett und schrieb Tagebuch. Schreiben war das, was man als einzige irdische Tätigkeit betrachten konnte, die ihm wahrhaftig Vergnügen bereitete.
Nur diese dicken, in teurem Leder gebundenen Bücher wussten sein größtes Geheimnis. Jedes Detail, jede neue Entdeckung an Clelia wurde in ihnen akribisch festgehalten. Er verbrachte oft Stunden damit, sie zu beschreiben.
Mit unwichtigen Dingen wie dem wirklichen Leben hielt er sich gar nicht erst auf. Nur manchmal fand sich eine kurze Notiz über einen Geburtstag oder ein wichtiges Gesellschaftliches Ereignis am Ende eines Eintrags, mit deutlichem Abstand zu allem, was mit Clelia zu tun hatte. Es war beinahe so, als wolle John seine Geliebte nicht mit alltäglichen Dingen beschmutzen, die so fehlerhaft, so unvollkommen waren.
Manchmal versuchte er sogar, Clelia zu zeichnen. Er war eigentlich kein überdurchschnittlich begabter Maler, aber bei den Gedanken an sie flog der Bleistift nur so über das Papier. Und obwohl die Clelia auf dem Blatt Papier nie ganz genau hinkam, so wusste er doch, sie war es, ihr Abbild blickte ihm entgegen, wenn er das Tagebuch aufschlug. Und sein Herz schwoll vor Liebe.
Nun mochte aber auch die größte Liebe nicht das Gefühl zu stillen, dass ihn in diesem Augenblick befiel: Hunger.
Er hatte heute Mittag nichts gegessen. Allerdings war es erst Nachmittag, und die Restaurants würden noch geschlossen sein. Da beschloss John, sich etwas von dem teuren Sushiladen zu holen, der auch um diese Zeit geöffnet hatte. Das war ihm ohnehin lieber, als in einem Nobelrestaurant zu sitzen, den feinen Herrn zu spielen und gezwungenermaßen mit den zahlreichen Bekannten seiner Eltern zu reden.
Und so stand er auf und verließ seine Wohnung. Es war sehr schön draußen, beinahe so warm wie im Sommer, doch man merkte an der ruhigen, abgekühlten Luft, dass es schon sehr bald Herbst werden würde.
Langsam schlenderte er die Avenue entlang, während er sich Clelia vorstellte. Sie ging neben ihm her, in einem himmelblauen Sonnenkleid, ihre blassblonden Haare locker zusammengebunden.
Er wusste nicht genau, warum er sich Clelia immer in blauer Kleidung vorstellte. Vermutlich, weil blau so klar und friedlich wirkte. Die Farbe der Romantiker auf der Suche nach der blauen Blume.
Es war so schön hier draußen. Wenn nur nicht die lärmenden Menschen den Frieden stören würden. Und da war auch schon das Gebäude, zu dem er wollte.
Er ging hinein und begrüßte den kleinen, fröhlichen Japaner mit einer traditionellen Verbeugung. Er beobachtete ihn, als dieser seine Bestellung notierte. Und er hatte Mitleid mit diesem Mann. „Er glaubt, er ist fröhlich“, dachte er. „Und doch wird er niemals das haben können, was ich habe“. Denn der japanische Mann sah die Lichtgestalt im blauen Kleid nicht. Niemand ausser John würde sie jemals sehen.
In diesem Augenblick wähnte er sich als der glücklichste Mensch auf Erden.

„John!“ Fürs Erste war die Aufforderung noch freundlich. Aber als die Rufe der jungen Frau offensichtlich ungehört blieben, wurde die Stimme immer forscher.
„Ich weiß, dass du da drin bist. Du tust ja doch nie was anderes als daheimzusitzen und zu träumen. Jetzt mach schon endlich die Tür auf!“
Ein Nachbar ging vorbei, und die junge Frau hörte mit dem Rufen auf. Es war nicht nötig, zusätzlichen Klatsch anzuheizen.
Doch als der Mann in den Aufzug gestiegen war, fing die Frau wieder an, energisch Einlaß zu fordern.
Natürlich war Jessica nicht mit einem Karton gekommen. Sie hatte für alle Sachen in ihrer kleinen schwarzen Handtasche Platz gefunden.
Johns Geschenke waren nicht groß, dafür aber umso wertvoller gewesen. Sie umfassten ein Brilliantcollier, einen Diamantring und eine mit Saphiren, Jessicas Lieblingssteinen, besetzte Brosche.
Sie hatte lange überlegt, ob sie die Sachen zurückgeben sollte. Getragen hatte sie sie seit der Trennung sowieso nicht mehr. Aber schließlich war sie zu dem Entschluss gekommen, dass jemand, der sie so behandelt hatte, nicht einmal mehr eine Erinnerung wert war.
Es war alles ein rein symbolischer Akt, denn bei seinem Reichtum würden John die drei Geschenke garantiert nicht abgehen. Und doch bestand Jessica darauf.
Noch einmal rief sie seinen Namen, und als niemand antwortete,war sie geneigt, heimzugehen und ein andermal wiederzukommen. Sie würde ihm die Sachen persönlich zurückgeben, wenn auch nur, um zu beweisen, dass sie mehr Anstand hatte als der junge Mann, der sie vor kurzem abserviert hatte, und das noch dazu per Telefon.
Mehr resigniert als agressiv schlug sie mit der Faust gegen die Tür. Im nächsten Moment kämpfte sie um ihr Gleichgewicht. Die Türe war aufgegangen.
Jessica stolperte ins Halbdunkel des Foyers. „John?“ Niemand antwortete.
So jemand wie John würde doch seine Wohnungstür nicht offen stehenlassen. Nicht, wenn man gleich im Foyer Wandteppiche im Wert von mehreren zehntausend Pfund hängen hatte.
„Was soll’s, dann warte ich eben hier“, dachte sie und durchquerte die Wohnung, bis sie ins Esszimmer kam und sich auf einen der Barhocker setzte.
Es war ein Raum wie aus einer Innenarchitekturzeitschrift. Die kostbar bezogenen Stühle spiegelten sich im hellen Marmor. Sie fragte sich, warum John wohl immer eine blitzblank geputzte Wohnung hatte.
Doch plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit von etwas ganz anderem beansprucht.
Die Schlafzimmertür stand offen. Jessicas Pupillen weiteten sich.
War John etwa doch hier? Hatte er Frauenbesuch? So kurz, nachdem er sie abgeschoben hatte?
In Jessica flammte verletzter Stolz auf. „Wehe!“, dachte sie. „Dann aber gnade ihm Gott!“
Entschlossen stand sie auf.

Zufrieden vor sich hin summend trug John das appetitlich duftende Paket nach Hause. Neben Sushi in etlichen Geschmacksrichtungen hatte er sich auch noch andere japanische Spezialitäten einpacken lassen.
Er betrat das Haus und ging Richtung Aufzug. Clelia war neben ihm.
Und in diesem Augenblick sah er sie klar und deutlich, ohne Nebelschwaden und kein bisschen verschwommen. Der Anblick gab ihm einen Stich ins Herz. Er liebte sie so sehr. Und es schmerzte ihn, dass er sie niemals wirklich sehen würde. Doch ihm war auch klar, dass sein Leben seinen Sinn verlieren würde, würde sie für immer gehen.
Plötzlich gefror er. Seine Haustür stand offen. Diebe!, war der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss.
Er ließ das Paket mit dem Essen fallen und stürmte panisch in seine Wohnung.
Und dann hörte er das Lachen. Es war überall, hallte in den hohen Räumen seines Appartments wider.
Er rannte ins Schlafzimmer. Da saß Jessica auf dem Bett, in schwarzem Zweiteiler und Stilettos, geschüttelt von einem hysterischen Lachanfall.
Durch die zusammengekniffenen Augen erkannte sie ihn.
Eine Ewigkeit lang blieben sie in diesem Zustand, sie lachend, er erstarrt in Fassungslosigkeit.
Dann sagte sie:“Du Idiot.“ Sie lachte wieder. „Du dämlicher, bekloppter Vollidiot.“
Da löste sich seine Starre, er stürzte auf sie zu und packte sie an den Schultern. „Was machst du hier?“, fragte er tonlos. Sie setzte zum Antworten an, doch die Worte wurden durch ihr heftiges Lachen erstickt. Nun war zu dem Hysterischen auch ein eindeutig hämischer Unterton hinzugekommen.
John schüttelte sie heftiger. Und da erblickte er plötzlich das Tagebuch in ihrer rechten Hand.
„Wie bist du hier reingekommen?“ Seine Fassungslosigkeit verwandelte sich in Wut, als er die Aufzeichnungen über Clelia zwischen den manikürten Fingern Jessicas sah.
„Leg das weg!“, befahl er in einem Ton, der jeden anderen dazu gebracht hätte, widerspruchslos zu gehorchen. Nicht jedoch Jessica. Sie war nun sicher, den Stein entdeckt zu haben, der sie zum Stolpern gebracht hatte.
„Wie geht es deiner Clelia, Johnny?“, witzelte sie drohend, ohne jedoch mit dem überlegenen Grinsen aufzuhören. „Es scheint ja, als hättet ihr eine tolle Beziehung. So richtig...zum Greifen nahe.“
Sie blitze ihn höhnisch an.
„Raus mit dir!“, rief er polternd. „Und komm nie wieder!“ Seine Selbstbeherrschung war dahin.
Ihre auch. Sie öffnete ihre Tasche und warf ihm die drei Schmuckstücke vor die Füße.
„Die kannst du gerne zurückhaben!“, brüllte sie. „Du Mistkerl!“ Und dann schien sie sich wieder völlig im Griff zu haben. „Vielleicht willst du sie ja deiner Clelia schenken! Oh, ich bin sicher, sie hätte sehr große Freude damit. Sicher hat sie auch viel Möglichkeiten, sie zu tragen.“
„Wenn du nicht sofort verschwindest...“,setzte John an.
„Nichts lieber als das, du Psychopath!“, schnappte Jessica zurück. „Ich bin sicher, deine Eltern werden ganz neugierig auf deine neue Liebe sein.“ Sie kam näher. In ihren Augen sah man nichts als Verachtung.
„Deswegen hast du mich sitzen lassen? Wegen eines Hirngespinsts?“
John sagte kein Wort.
„Clelia!“, lachte Jessica höhnisch. „Nun sag schon, John! Hat sie eine schöne Stimme? Kann sie gut küssen?“ Sie maß ihn abschätzend, um dann unschuldig die Brauen hochzuziehen. „Wie, das weißt du gar nicht?“
In diesem Moment schaltete irgendetwas in John endgültig ab. Er packte Jessica am Hals und riss sie nach vorne.
Ihre schwarzen Augen weiteten sich vor Überraschung.
„Ich liebe sie“, konstatierte John, jede Silbe einzeln betonend. „Ich liebe sie.“
Jessica schnappte nach Luft. „Lass mich sofort los, du Wahnsinniger! Du bist ja komplett durchgeknallt!“
Johns Hände schlossen sich fester um ihren Hals.
„Ich liebe sie! Sieh es ein!“, rief er aus, während er sie immer weiter schüttelte.
„Was? Was liebst du?“. Trotz ihrer bedenklichen Lage war Jessica so überlegen wie eh und je. „Ein Hirngespinst, eine Phantasie liebst du! Sie existiert nicht, John! Sie existiert nicht!“
John schnaufte. Er spürte nichts mehr als rasende Wut. Jessica japste. Ihr Gesicht war rot angelaufen.
Es war aus mit ihrer Überlegenheit. „Bitte“, flehte sie leise.
Doch John sah und hörte nichts mehr. Er wusste nur noch, Jessica hatte sich dazwischengedrängt. Als sie über Clelia gespottet hatte, war es, als hätte sie einen heiligen Tempel geschändet.
Er schrie und verfluchte sie mit allen erdenklichen Schimpfworten.
Plötzlich hielt er inne. Jessica atmete nicht mehr.

John sah im Zimmer um. Sein Puls raste, an seiner Stirn standen Schweißtropfen. Jessicas Körper war zurück aufs Bett gesunken. Ihre Augen standen offen.
Und John blickte in die schwarzen Augen, sah, wie sie ihn stumm anklagten.
Ein unermessliches Grauen befiel ihn. Er rannte aus dem Appartment.

Er warf dem Taxifahrer fünfzig Dollar hin und ließ den Mann fassungslos zurück, ohne auf seine rund zwanzig Pfund Wechselgeld zu warten.
Er rannte über die schmale Landstraße, ohne zu sehen, ob ein Auto kam oder nicht.
Nur immer weiter den Hügel hinauf. Da lag Blackmore. Der schwarze Wald schien einen zu verschlucken, sobald man näher kam.
Es war ein ziemlich steiler Hühel, doch John merkte es nicht. Erst ganz oben, als er schon zu den Blackmore Fields gelangt war, ließ er sich auf die Wiese fallen.
Sein Atem wollte und wollte sich einfach nicht beruhigen. Er sah sich um. Nach Clelia. Sie war die einzige, die ihm jetzt noch helfen konnte. Würde sie Verständnis haben?
Oder würde sie ihn anklagend ansehen, mit dem selben furchtbaren Blick wie der aus Jessicas toten Augen?
Es stellte sich heraus, dass es schlimmer war als letzteres. Denn Clelia war nicht da.
John stand auf. Sein Herzschlag erhöhte sich noch mehr.
Warum war sie nicht bei ihm? Das war doch nicht möglich!
Und er fing an zu schreien. Voller Verzweiflung schrie er nach ihr.
„Cleeeeeeeeeeliiaaaaaaa!“ Ein paar Schwalben stoben aufgeschreckt aus den Baumwipfeln.
John schrie, immer weiter. Doch Clelia war gegangen.

 

Hallo Capella

eine sehr traurige Geschichte hast Du da geschaffen.
Die Beschreibung der beiden Räume, die Traumwelt, auf die sich John eingelassen hat und die ihn so sehr beherrscht, dass er die Realität nicht mehr in ihrer Shönheit wahrnimmt hast Du mit vielen wunderschönen Vergleichen und Worten wunderbar beschreiben. :)
Einen Traum zu haben und sich in diesen Traum zu flüchten, wenn die Realität im Moment nichts bereit hält, dass einen wirklich glücklich macht, empfinde ich nicht als falsch oder schädlich, eher als hilfreich.
Nicht mehr herauszufinden, oder gar beide Welten miteinander Verschmelzen zu lassen ist allerdings sehr gefährlich. Für einen selbst und auch für seine Mitmenschen, wie Du deutlich und sehr gut beschrieben hast. Die Dialoge zum Schluß haben mir sehr gefallen. Deine Geschichte war flüssig zu lesen, was ich außerordentlich begrüße. :D
Jessica hat einen schwerwiegenden Fehler gemacht, als sie Johns Seele so sehr verletzt hat, dass dieser eine solch schreckliche Tat begehen konnte. Viel zu spät entdeckte sie, dass sie nicht so überlegen war, wie sie glaubte, was vielleicht an ihrer Erziehung und ihrem sorglosem Leben liegen mag. Vielleicht wäre sie mit der Kenntnis über Clelias Existenz, mit viel Einfühlungsvermögen und Verständnis dazu in der Lage gewesen, John in die Realität zurückzuholen.
So ist sie aber auch in gewisser Weise zu einem unrealen Dasein als Bild in den Köpfen ihrer Freunde und Eltern verdammt.
Warum Clelia verschwand? Ich glaube John selbst ist daran Schuld. Clelia hätte er jederzeit finden können in der realen Welt, wenn er sich nur genug Mühe gegeben hätte. Jeder hat doch eine Clelia in seinem Kopf. Der eine findet sie und wird glücklich. Der andere ist nicht zu Kompromissen bereit und wird ein Leben lang versuchen ihr hinterher zu laufen. Auch in Jessica war ein Teil von Clelia, den John nicht in der Lage war, zu entdecken. Mit ihrer Tötung hat er eben auch Clelia getötet.

Deine Geschichte hat mich sehr eingenommen und hat mir sehr gefallen. :thumbsup:

Liebe Grüße, die Kürbiselfe

 

Hi! Dankeschön :D
Deine Analyse meiner Geschichte war perfekt-genauso wie du es beschrieben hast, wollte ich es rüberbringen :)

 

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