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cyberkiss
Cyberkiss
Er saß am PC. Das Chaos, das ihn umgab, störte ihn nicht: die leeren Tassen mit den Resten aus undefinierbarer Flüssigkeit, zum Teil schon mit Schimmelpilzen garniert, auch nicht der überquellende Aschenbecher. Seine Geruchsnerven waren wohl schon abgestorben, denn der Gestank in seinem Zimmer schien ihn nicht zu erreichen. Fasziniert, hypnotisiert starrte er auf den Bildschirm. Mit seinem Stuhl eins geworden konnte er einen stattlichen Sitzbauch vorweisen.
Seine kurzen dicken Finger tippten in einer Geschwindigkeit, die man ihnen nicht zutraute, auf die Tastatur ein. Er war wie in Trance.
"Da bist du ja, du ...!" murmelte er vor sich hin und seine Lippen wölbten sich vor, zuckten schmatzend und verzogen sich zu einem Kussmund.
"Na, da werd ich dir mal einheizen."
Die, die ihn in diesen Gefühlsrausch versetzte, war "sommer-rose".
Sie hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Ihr Profilbild erinnerte ihn irgendwie an Helga, seine Ex. Helga hatte ihn verlassen. Ohne Vorwarnung. Sozusagen aus heiterem Himmel. Danach folgten für ihn nur Schlechtwetterperioden mit Frost und Eisglätte.
Um dem Alleinsein zu entfliehen, suchte er nun nach einer neuen Partnerin per Internet.
Einige Male hatte er den Mut zu einem Date aufgebracht, aber Helga, sein Trauma, ließ keine wahre Nähe zu einer Frau mehr zu.
Da entdeckte er "sommer-rose". Zunächst kontrollierte er nur akribisch genau ihre Aktionen auf der "suche-dich" Site. Mit wem sie Kontakt hatte, welche Sticker sie setzte und bekam usw. Um ihren Messenger-code zu knacken, war er zu einem PC-Freak geworden.
Ach, was war das für ein Hochgefühl, als er zum ersten Mal - heimlich - ihre Mails lesen konnte! Was für eine extrem prickelnde Erregung!
So seltsam nah fühlte er sich ihr dabei, aber zugleich schlich sich ein Gefühlmix aus unbändiger Wut und Hass, ja fast Eifersucht in sein fiebriges Gemüt. Mit der Zeit nahm dieses Gefühl immer mehr Raum in ihm ein.
So kam es, dass er sich etwas Besonderes für "sommer-rose" überlegte.
Etwas, das ihrer Beziehung würdig war, ihr quasi den krönenden Rahmen gab.
Er war ein begeisterter Kleist-Leser. Als Abiturient wollte er sogar seinetwegen Germanistik studieren. Als fast genial empfand er Kleists Idee seine Liebe zu seiner Geliebten mit dem gemeinsamen Freitod zu krönen.
Mit jedem ihres Online-Seins hatte "sommer-rose" von nun an ein "heimliches virtuelles Date" mit ihm. Bei diesen Berührungen war er immer von leidenschaftlichen Emotionen aufgewühlt.
Derart aufgewühlt, dass er schwitzend und keuchend auf den Bildschirm starrend ihr seine Art der Zuneigung bewies mit einem leidenschaftlichen Cyberkiss und ihr dabei behutsam eine Dosis seines "Liebestrankes" einflößte - sonderbar zärtlich, fast liebevoll lächelnd: PC-Viren.
Virenplagen und ähnliches sollten ihren PC zum Kollaps treiben. Je langsamer, schleichender, quälender dieser Zusammenbruch sich vollzog, desto größer würden seine Gefühle für „sommer-rose“ sein.
(c) g-ps-d 2004