Dämmerung
Schwaches Licht. Nicht mehr Nacht und noch nicht Tag.
Der Duft nach Mandel und Vanille, dein Duft, vermischt mit dem Geruch unserer Vereinigung. Keine Schreie, kein lautes Stöhnen. Lediglich verhaltenes Keuchen wird von den Wänden zurückgeworfen. Es geht nicht um Lust, es geht um den Akt selbst, aber ganz ohne Lust geht es nicht.
Das Telefon klingelt. „Lass“, sagst du, „Lass es klingeln.“ Du drängst dich mir entgegen. Es klingelt sechs Mal, bevor der Anrufbeantworter anspringt. Ich versuche, mich nicht ablenken zu lassen. Um die Erektion zu halten konzentriere ich mich auf den gut honorierten Auftrag für das Magazin. – Es funktioniert.
Behutsam schiebst du mich herunter. Schweißnass gleite ich aus dir heraus. Du lächelst, ziehst die Beine an die Brust und beginnst zu wippen, um die lebensfähigen Spermien schneller an ihren Bestimmungsort zu bringen. „Der Zeitpunkt ist optimal“, sagst du. „Diesmal klappt es. Das spüre ich.“
„Ganz bestimmt“, sage ich.“ Der Radiowecker springt an. Vom Bundeskanzler und dem Hochwasser ist die Rede, vom Iran und Israel und Selbstmordattentätern. Es klingt fast freundlich und halb so schlimm, und dann rieselt Supermarktmusik ins Zimmer.
Wenige Stunden später sind wir auf dem Weg zum Flughafen. Du sitzt auf dem Beifahrersitz, Karin hinten. Die Luft ist diesig und feucht. „Das kommt vom Hochwasser“, sagst du und ziehst dir im Spiegel der Sonnenblende die Lippen nach. Eure Blicke treffen sich, du lächelst ihr zu. Mein Blick sucht für einen Moment deinen Schoß. Da mühen sich die letzten verbleibenden Samenfäden ab. Sie werden langsamer, wie geschwächte Marathonläufer. Kurz vor dem Ziel geht ihnen die Kraft aus, vielleicht noch ein Zucken, dann ertrinken sie in den Fluten.
Karin ist nicht so zart gebaut wie du. Die Haut ist großporig, die Stimme rau, das Haar kurzgeschnitten. Sie tritt statt meiner die lang geplante Reise an. Sie wird mit dir barfuss im feinen Sand spazieren gehen. Der Artikel ist wichtiger, hast du gesagt. Den Urlaub könne man nachholen, und ich solle kein Dummkopf sein, hast du gesagt. Und ich habe mit dem Kopf genickt.
Das Hochwasser werde eine Mückenplage nach sich ziehen, sagt Karin. Nach der Reise will sie ein Moskitonetz kaufen. Mücken stürzen sich mit Vorliebe auf sie. Das liegt an dem zuckersüßen Blut. Du lachst eine Idee zu laut. Irgendetwas stimmt nicht mit Karin, denke ich, irgendetwas stört mich, aber ich weiß nicht was. Erst, als wir uns vor dem Duty-free-Bereich verabschieden, bemerke ich es. Es ist ihr Geruch, der mir leichte Übelkeit verursacht. Ich sehe euch nach. An der Sicherheitsschleuse drehst du dich noch einmal um. Dann erfasst dich eine Welle von unverständlichem, kaltem Stimmengewirr und trägt dich fort.
***
„Tschüss für immer!“
Bubi kniff die Augen zusammen und blinzelte gegen die untergehende Sonne. Er spuckte mir die Worte vor die Füße, die sich in meinen Kopf frästen und ihn auszuhöhlen schienen. Ich schrie innerlich. Was war jetzt mit unseren Plänen? Wir wollten doch Fußballstars werden. Zusammen. Im selben Verein. Bubi war mein bester Freund.
Ich wollte davon rennen. Weit weg. Die Straße hinunter, an den aufgeschütteten Ziegelsteinen entlang hinunter ins Dorf. Doch ich blieb stehen wo ich stand. Meine Beine versagten mir den Dienst, taub waren sie, wie abgestorbene Baumstümpfe.
„Tschüss für immer!“
Wir hatten gestritten, weil mein neuer Fußball in Lehmeiers Garten gelandet war und wir uns nicht einigen konnten, wer über die Hecke hechten sollte. Einen anderen Weg in den Garten gab es nicht. Es war auch kein Problem über so eine Hecke zu hechten. Wir hatten das schon tausendmal getan. Aber über Lehmeiers Hecke hatte sich noch keiner getraut.
Benno Lehmeier war fast drei Jahre älter und einen Kopf größer als wir. Sein Vater war Polizist. Er trug eine Uniform. Und wenn er nach Hause kam, lief Benno ihm entgegen. Vater und Sohn im Gleichschritt. Obwohl Benno eine kurze Lederhose trug, sah er aus, als steckte er ebenfalls in einer Uniform. Er nahm Haltung an, den Stolz ins Rückgrad eingenäht. Sein Vater konnte jeden festnehmen – auch uns. Als Benno eines Tages von der Dienstwaffe seines Vaters erzählte, tat er sehr geheimnisvoll. Er berichtete von dem Versprechen seines Vaters, dass er damit bald einen Schuss abgeben dürfe. Ich weiß nicht warum, aber ich war sicher, dass ich das Ziel dieses Schusses sein würde.
Bubi bestand darauf, dass ich den Ball holte, weil es mein Ball war. Ich bestand darauf, dass er ihn holte, weil er ihn in Lehmeiers Garten gekickt hatte. Wir kamen nicht weiter.
„Tschüss für immer!“
Wir waren sieben als eine Männerfreundschaft zerbrach. Bubi drehte sich um und ging. Als die Tränen kamen, hechtete ich in Erwartung eines Schusses über Lehmeiers Hecke und landete auf feindlichem Gebiet.
***
Hitze. Schweigen. Zwischen uns die Koffer. Es sind nur wenig Menschen auf dem Bahnsteig. Eine alte Frau mit einem alten Hund und zwei Bahnbeamte. In der Ferne, da wo sich die parallel verlaufenden Schienen treffen, flimmert die Hitze. Sie verwischt den Horizont und lässt starre Gebäude und Strommasten lebendig werden. Karin hatte recht. Das Hochwasser und die hohen Temperaturen waren optimale Bedingungen für die Mücken. Aber die kommen erst in der Dämmerung aus ihrem Versteck. Dann ist ihre Stunde, und die Menschen fliehen in die Häuser. Insektenschutz ist ausverkauft.
Eine Durchsage. Dein Zug verspätet sich. Zusätzliche, gemeinsam zu verbringende Zeit, die unsere Zukunft frisst, unser Leben verkürzt und die Qual verlängert.
„Gut“, sagst du, „dass wir keine Kinder haben.“ Ich nicke und denke, warum ist das gut? Was soll gut daran sein? Ich verfluche meine elenden Spermien. Hätten wir Kinder wärst du nicht mit Karin in den Urlaub geflogen. Hätte ich nicht den Auftrag des Magazins angenommen wäre ich mit dir verreist. Alles wäre anders gekommen. Du hättest mir nicht die Welt verdreht. Kindische Gedanken, die du zu erraten scheinst.
„Wäre ich nicht mit Karin auf die Insel geflogen, hätte das nichts geändert – nur verschoben“, sagst du, „Vielleicht ist es ja nur vorübergehend. Ich muss es herausfinden.“
„Ich weiß“, sage ich und will davonrennen ohne mich von dir entfernen zu müssen.
***
Vorsichtig. Ganz vorsichtig.
Ich versuchte auf den aufgeschütteten Ziegelsteinen das Gleichgeweicht zu halten. Sollte ich es von hier bis zur Laterne schaffen, würde ich Seiltänzer werden. Dem nächsten Zirkus würde ich mich anschließen, und schon wäre ich weg. Weit weg in fernen Städten und Ländern. Da wo das Leben fröhlich ist und bunt. Ich schloss die Augen und roch bereits das Sägemehl in der Manege unter mir. Eine Verbeugung. Applaus. Trommelwirbel. Stille.
„Weg da!“ Ich drehte mich um. Da stand er. Wenige Meter entfernt, einen Ziegelstein in der Hand. Tagelang hatte ich Bubi nicht gesehen. Jetzt machte er Annäherungsversuche auf seine Art.
„Weg da! Ich will die Laterne treffen!“
Ich drehte ihm den Rücken zu. Männerfreundschaften sind nicht klein zu kriegen.
„Weg da, oder es geht dir wie Lehmeiers Lisa.“
An seinem zehnten Geburtstag feuerte Benno Lehmeier den ersten und letzten Schuss aus der Dienstpistole seines Vaters ab. Wider Erwarten war nicht ich sein Ziel. Er visierte etwas an, das sich auf dem Acker hinter den Häusern bewegte, drückte ab und traf. Sein Vater klopfte ihm auf die Schulter. Stolz näherte sich Benno seiner Beute. Ein spitzer, schriller Schrei zerriss die Luft und schien eine Ewigkeit zu dauern. Er hatte seine geliebte Katze Lisa getroffen. Sie war nicht sofort tot. Der Hinterleib war zerfetzt. Bennos Vater gab ihr den Gnadenschuss. Lisa wurde im Garten hinter der Hecke begraben, da, wo wenige Tage zuvor mein Fußball gelegen hatte. Vorbei war es mit der Überheblichkeit. Seit jenem Tag ging Benno leicht gebeugt. Er eilte seinem Vater nicht mehr entgegen wenn er nach Hause kam. Es war, als hätte jemand den Stolz aus seinem Rückgrat herausgetrennt und weggeworfen.
„Zum letzten Mal! Weg da!“
Ich rührte mich nicht. Ich spürte nur einen heftigen Schlag, als der Stein eine klaffende Wunde in die Kniekehle meines rechten Beines riss. Blut sickerte in meinen Schuh. Der Schmerz kam erst später. Zwölf Stiche waren nötig, um die Wunde zu schließen. Die Blutspur, auf dem Gehweg überstand sogar einige Regentage. In der Dämmerung sah sie aus wie eine Schrift, die nur ich lesen konnte. Es waren drei Worte.
***
„Scheiß Mücken“, sagt Benno und schließt die Terrassentür.
Übelkeit. Etwas verursacht mir Übelkeit.
Auf dem Weg hierher habe ich ein Eichhörnchen überfahren. Ein schwarzes. In einiger Entfernung, am Straßenrand, entdeckte ich ein zweites. Ein rotes. Es schien mich vorwurfsvoll und mit größter Skepsis zu beäugen, als erwarte es, dass ich endlich verschwand. Das tat ich. Im Rückspiegel sah ich, wie sich das rote Eichhörnchen neben den schwarzen Kadaver setzte. Wahrscheinlich handelte es sich um ein Paar. Das lebendige Tier würde nicht von der Seite des toten weichen, auch dann nicht, wenn der nächste Wagen um die Kurve bog. Es war verloren. Was mir Übelkeit bereitet ist dieser leichte Anflug von Schadenfreude, der mich bei dem Gedanken überkam.
Benno schiebt mir den Artikel rüber.
„Gut, wirklich gut.“ sagt er. „Kannst du so abgeben.“
Seit Jahren lasse ich von Benno meine Arbeiten Korrektur lesen. Auf sein Urteil ist Verlass. Er ist Deutsch- und Geschichtslehrer. Wir verstehen uns gut. Er hat geheiratet. Das zweite Kind ist unterwegs. Benno und ich sind die einzigen, die in dieser Gegend geblieben sind. Bubi ist längst weg. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Ich erzähle Benno nichts von der nicht angetretenen Reise und auch nicht, dass du jetzt eine Frau liebst. Ich zwinge mich zu einem Lächeln. „Wann kommt das Baby?“, frage ich.
„In drei Wochen“, sagt er, und die Vorfreude schwingt in seiner Stimme mit. „Wir werden ihn Martin nennen.“
Ich sage Benno nicht, dass ich den Namen nicht ausstehen kann. Ich hatte mal einen Onkel der so hieß. Ein dicker Mann, an dem zeitlebens ein übler Geruch hing von dem mir schlecht wurde.
Wusstest du, dass ich ursprünglich Martin heißen sollte?“, will Benno wissen. Ich verneine.
Bennos Gesicht wird ernst. „O’Nesco Anfortas / Schnee im Schädel da ist Schnee ...“ Er rezitiert ein Gedicht und blickt dabei ins Leere. Als er endet ist es still – minutenlang.
„Am 2.6.1967, am Tag meiner Geburt, fand in Berlin eine Demonstration gegen den Schah statt“, sagt Benno. „Es kam zu blutigen Auseinandersetzungen. Polizisten schlugen mit Knüppeln auf die Demonstranten ein. Ein 26jähriger Student floh vor den Schlägen. Ein tödlicher Schuss traf ihn von hinten in den Kopf. Abgefeuert von einem Polizisten namens Kurras.
„Du meinst Benno Ohnesorg“, sage ich.
„Wusstest du, dass er Gedichte schrieb?“
Ich schüttle den Kopf.
„Seit jenem Tag schämte sich mein Vater angeblich so sehr seines Berufes, dass er darauf bestand, mich nicht wie vorgesehen Martin, sondern Benno zu nennen. Nur, wenn das stimmt, dann frage ich mich, warum ist er dann Polizist geblieben und wie konnte er nur zulassen, dass ich meine eigene Katze erschieße – warum?“ Bennos Augen werden feucht.
Ich wende mich ab und sehe hinaus in die Dämmerung. Einmal Erster sein, denke ich, wie ein Samenfaden, dem es von Millionen als einzigem gelingt, die Zielgerade zu überqueren, hinter sich die Tür zu verschließen und zu sagen: „Tschüss für immer!“