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Da kam etwas dazwischen

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11.05.2002
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Da kam etwas dazwischen

Ein Duft nach warmer Hefe und frischem Kaffee strömte durch die Tür der Bäckereifiliale. Gelbe, gasgefüllte Luftballons mit der Aufschrift „Sonnenbäcker“ schwebten an der Decke. Auf einem Schild stand: „Heute Eröffnungsangebot – Irish Coffee, Lumumba und Russische Schokolade – alles für nur 1 Euro die Tasse!“. Die Erwachsenen standen vor den kleinen Stehtischen, tranken ihre alkoholischen Heißgetränke und schauten durch die beschlagene Schaufensterscheibe in das trübe Novemberwetter hinaus. Ihre Kinder schlürften unterdessen den kostenlosen Kakao – ein Geschenk des Hauses.

Der Juniorfilialleiter konnte zufrieden sein. Die Wiedereröffnung verlief besser als erwartet. Ein zufriedenes Grinsen lag auf seinem feisten, durch die Hitze im Verkaufsraum, gerötetem Gesicht. Er blickte über die dichtgedrängte Menschenmenge vor der Ladentheke und beobachtete eine junge Mutter mit ihrem quengeligen Sohn. Gewohnheitsmäßig kaufte diese Frau nur einfache Wasserbrötchen. Kevin, ihr Junior, sah sie mit seinen schwarzen Kulleraugen an und deutete auf die Auslage mit den Muffins.
„Nein Kevin“, sagte die junge Frau und steckte ihre üppigen Locken mit einer Spange zurück. „Die gibt es heute nicht.“
Der Kleine zog eine Schnute und rief: „Warum denn nicht, heute kommt doch der Onkel Lui!“
„Nein der Onkel Lui kommt erst nächste Woche zu uns. Kevin, stell dich bitte bei der heißen Schokolade an.“
Der Filialleiter nickte wissend. Wenn nächste Woche der Liebhaber dieser Frau zu Besuch kommt, wird der Frühstückseinkauf opulenter ausfallen. Der Mann musste bei Laune gehalten werden, schließlich hatte er dem kleinen Kevin zum Geburtstag einen MP3-Player geschenkt.

Sein Blick glitt nun zum Fräulein Mayer, einer pensionierten Realschullehrerin, hinüber. Ein graublau gemustertes Halstuch bedeckte ihren faltigen Hals. Sie reckte den Kopf nervös über die Menschenmenge und blickte Richtung Tür. Hier war ihr Rehpinscher angeleint. Hektisch drehte sich der kleine Hund im Kreis und verhedderte sich dabei mit seinem Vorderlauf in der Leine.
„Das Fräulein Mayer wird heute nicht auf einen Irish Coffee im Laden bleiben. Die kleine Töle lässt das nicht zu", dachte der Inhaber der Bäckereifiliale bei sich. Die alte Lehrerin war in jeder Hinsicht eine schlechte Kundin. Sie kaufte nur in ganz kleinen Mengen ein - meistens blieb es bei einem einzelnen Brötchen.

Die Ladentür öffnete sich und eine große, schlanke Frau betrat die Bäckerei. Sie trug eine mattgraue Nerzjacke und dazu dunkle Jeans. Die Beine steckten in oberschenkellangen, schwarzen Stulpenstiefeln. Ihre blonden Haare hatte sie im Nacken hochgesteckt, so kamen die großen Ohrringe besser zur Geltung. Mit kühlem Gesichtsausdruck musterte sie die Vitrine mit den Torten. Der Filialleiter wurde aufmerksam. Interessiert schielte er über die Köpfe der anderen Kunden hinweg zu dieser blonden Erscheinung. Ja, das war die Frau des Sparkassendirektors. Diese Frau hätte er gerne als Stammkundin gewonnen. Sie war für ihn der Schlüssel zur Oberschicht der Stadt.

Er setzte sein freundlichstes Lächeln auf und wollte gerade den Mund zu einem charmanten Gruß öffnen - da kam etwas dazwischen. Die Tür öffnete sich erneut und im Türrahmen erschien ein junges Mädchen. Man sah es auf den ersten Blick: Dies war eine obdachlose Jugendliche. Sie hatte ein hübsches Gesicht, soweit man das unter dem ganzen Dreck erkennen konnte. Eine frische Schürfwunde zog sich hellrot vom Kinn bis zur Wange. Die blonden Haare standen vor Schmutz und hingen ihr in verfilzten Strähnen in die Stirn. Bekleidet war diese bedauernswerte Gestalt mit einer alten Wolldecke und löcherigen Jeans. An ihren Füßen befand sich ein Paar halbzerfallener Turnschuhe, aus denen die Fußzehen schauten.
Die Kunden in der Bäckerei gingen auf Abstand und erwarteten, dass ein Geruch nach ungewaschenem Körper von dieser Gestalt ausging. Verwundert stellten sie dann fest, dass dies nicht der Fall war. Erleichtert spürte das junge Mädchen die Wärme in der Bäckerei. Sie hatte sich seit den frühen Morgenstunden ununterbrochen im Freien aufgehalten.

"Kevin, jetzt ist aber genug. Du bekommst keinen Negerkuss!"
Wütend zerrte die Mutter ihren Sohn von der Kuchentheke weg. Das junge Mädchen musste bei dem Namen "Kevin" lächeln. Sie erinnerte sich an den putzigen Kinofilm "Kevin, alleine zu Hause" und zwinkerte dem kleinen Kerl zu. Ihr Lächeln wurde nicht erwidert. Mit einer starren Miene, voller Eiseskälte, zog die junge Frau ihr neugierig guckendes Kind aus dem Laden.
Verlockend sahen die belegten Brötchen aus. Das Mädchen kramte aus ihrem fleckigen Lederrucksack ein kleines, perlenbesetztes Portemonnaie heraus.
"Ich hätte gerne eine Wurstsemmel", sagte sie zu der jungen Frau im gelb-schwarzen Kittel. Die Verkäuferin schenkte ihr keine Beachtung. Starr blickte sie an ihr vorbei.
"Ich hätte gern ein Wurstbrötchen", wiederholte sie in der Annahme, dass die Verkäuferin sie nicht verstanden hatte.
"Diese Vierkornbrötchen müssen Sie unbedingt einmal probieren. Die kann ich Ihnen nur empfehlen", wandte sich enthusiastisch die Verkäuferin an die nächste Kundin.
"Dann eben nicht", dachte die junge Frau in den abgerissenen Klamotten und stellte sich an der Theke mit den Heißgetränken an.
"Ich hätte gerne ein Irish Coffee", wollte sie gerade zu der Verkäuferin sagen, da kam der Filialleiter dazwischen: "He junge Frau, das geht hier nicht! Einfach so hereinplatzen und um Essen betteln!" schnauzte er.
Das Mädchen versuchte etwas zu erklären. Dazu kam es nicht mehr, denn nun begann die Kundschaft des Bäckerladens aufgeregt zu debattieren.
"Diese Type ist doch nur wegen den billigen, alkoholischen Getränken hergekommen!"
"Das ist wieder einmal typisch, an der Nadel hängen und rechtschaffene Leute anbetteln!"
"Nein, nicht anbetteln, beklauen! Diese Junkies rauben armen, alten Leuten die Handtaschen mit dem letzten Notgroschen. Kein Gewissen haben die, nein kein Gewissen haben die!"
Mit einem harten Griff am Oberarm führte der Filialleiter das Mädchen, das sich kaum wehrte, aus dem Laden. Die Direktorengattin hatte inzwischen wieder die Bäckerei verlassen, ohne etwas gekauft zu haben.

Durchgefroren und zornig erreichte das Mädchen ihre Gefährten am Stadtrand - die Filmcrew zu dem Fernsehfilm "Lillie, die junge Stadtstreicherin".
"Na, hast du deine Drehpause gut genutzt?", fragte sie der Tontechniker.
"Du guckst so aggressiv aus der Wäsche" sagte der Regisseur zu der jungen Charakterdarstellerin. "Ist etwas passiert?"
Die Schauspielerin schaute dem Filmleiter mit einem strengen Blick direkt in die Augen: "Ich finde, wir sollen das gesamte Drehbuch umschreiben. Diese Geschichte ist oberflächlich und entspricht nicht der Wirklichkeit!"

 

Hello Leia4e,

eine hübsche kleine Geschichte, wenngleich man früh ahnt, dass da noch etwas kommt mit dem schmutzigen Mädel... Und ich kaufe beim Bäcker immer nur gedankenlos Brot. ;-)
Etwas gewagt scheinen mir Deine Perspektivwechsel, mal aus Sicht des Filialleiters, mal aus Sicht des Mädchens - kann man aber machen.

Eine kleine Mängelrüge habe ich doch:
'...bedeckte ihren faltigen Hals. Sie reckte ihren Kopf nervös über die Menschenmenge. Ihr Blick ging Richtung Tür. Hier war ihr Rehpinscher...' Ich finde 4x 'ihr' doch etwas reichlich ;-)

Wenn ich das richtig erinnere, ist das Wort 'Negerkuss' ein Begriff aus dem Sprachschatz ewiggestriger Rassisten, sogar die Industrie spricht von 'Schokoküssen'. ;-) Oder heissen die jetzt Kulturküsse?
Wie auch immer - Ich esse ebenfalls lieber Negerküsse ;-)

Viele Grüsse vom gox

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Gox,

Danke, der Satz mit dem Fräulein Mayer und ihrem Rehpinscher den habe ich korrigiert - das mit dem vier mal "ihr" ist mir selbst nicht aufgefallen.
Der Negerkuss bzw. Schokokuss heist bei uns im südlichen Hessen (am Fuße des Odenwaldes) Mohrenkopf - besser oder schlechter als Negerkuss ;) ???

Gruss
Leia4e

 

Hallo Leia

Mit Deiner kleinen Geschichte hast du mich zum Nachdenken gebracht. Wie oberflächlich und vorschnell manche Menschen versucht sind zu verurteilen. Sehr gelungene Geschichte mit gutem Hintergedanken. :) Deine Art zu schreiben lässt sich sehr flüssig lesen. Die Perspektivenwechsel sind zwar ungewöhnlich, aber interessant.
Hat mir gut gefallen. :D
Liebe Grüß, die Kürbiselfe

 

Ein Mensch wird aufgrund seines Äußeren verurteilt. Das ist eine Geschichte. Daß es sich dabei um ein Mißverständnis handelt, ist für sie nicht nötig.

Die junge Schauspielerin wird als das gesehen, was sie im Film darstellen soll. Der Film bedient also lediglich die Klischees. Ihr Kommentar, das Drehbuch solle geändert werden, weil es nicht der Realität entspräche, ist ein echtes Aufbegehren gegen eine romantisierende ("Lillie, die junge Stadtstreicherin") Sicht. Und vermutlich auch gegen das Bedienen von Klischees.

Der Text liest sich flüssig, zeugt von sprachlich-stilistischer Sicherheit. Was mich jedoch gestört hat, ist die Darstellung der Menschen in der Bäckerei, die ein Abbild der bürgerlichen Gesellschaft bilden könnten. Sie bleibt zu flach. Beim Lesen hatte ich den Eindruck und auch die Hoffnung, der Filialleiter könnte sich am Ende für die junge Frau einsetzen. Das wird im Text m.E. vorbereitet:

  • obdachlose Jugendliche
  • Sie hatte ein hübsches Gesicht
  • Eine frische Schürfwunde
  • bedauernswerte Gestalt
Zumindest könnte er, wenn er sich Sorgen um den Gang seines Geschäfts macht, in einen Konflikt geraten. Hier liegt meiner Ansicht nach noch ein nicht ausgeschöpftes Potential.

Zwei Kleinigkeiten sind mir noch aufgefallen:

  • "er-schien"
  • "Die Kunden in der Bäckerei wischen zurück" - Hessisch?

 

Hallo Leia,
mir hat deine Geschichte gefallen, besonders weil du den Filialleiter so realistisch darstellst. Meine Schwester ist Bäckerreifachverkäuferin wie es sso schön heißt und leitet eine Filiale und sie ist genauso, sie weiß über alle ihre Kunden Bescheid, wirkt natürlich immer freundlich doch ihr Intersse gilt auch nur dem "Einkauf", ihrer Kunden, schlechter Kunde wenn er nur ein Brötchen kauft (weil er nur eins braucht) guter Kunde wenn er extravagante Torten bestellt.
Hab sie gerne gelesen.

Lieben Gruß
Angela

 

Es freut mich, dass euch meine Geschichte gefallen hat.
@ cbrucher: Ich habe die Rechtschreibfehler verbessert.
Ausführlicher konnte ich leider nicht auf die Persönlichkeiten eingehen, weil dies eine Geschichte für einen Kurzgeschichtenwettbewerb war und die Länge der Geschichte war leider vorgegeben (1000 Wörter). Weil ich gerne ausführlich und detailiert schreibe, habe ich damit ganz schöne Mühe gehabt!
Liebe Grüße
an Alle
Leia4e

 

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