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Da kam etwas dazwischen
Ein Duft nach warmer Hefe und frischem Kaffee strömte durch die Tür der Bäckereifiliale. Gelbe, gasgefüllte Luftballons mit der Aufschrift „Sonnenbäcker“ schwebten an der Decke. Auf einem Schild stand: „Heute Eröffnungsangebot – Irish Coffee, Lumumba und Russische Schokolade – alles für nur 1 Euro die Tasse!“. Die Erwachsenen standen vor den kleinen Stehtischen, tranken ihre alkoholischen Heißgetränke und schauten durch die beschlagene Schaufensterscheibe in das trübe Novemberwetter hinaus. Ihre Kinder schlürften unterdessen den kostenlosen Kakao – ein Geschenk des Hauses.
Der Juniorfilialleiter konnte zufrieden sein. Die Wiedereröffnung verlief besser als erwartet. Ein zufriedenes Grinsen lag auf seinem feisten, durch die Hitze im Verkaufsraum, gerötetem Gesicht. Er blickte über die dichtgedrängte Menschenmenge vor der Ladentheke und beobachtete eine junge Mutter mit ihrem quengeligen Sohn. Gewohnheitsmäßig kaufte diese Frau nur einfache Wasserbrötchen. Kevin, ihr Junior, sah sie mit seinen schwarzen Kulleraugen an und deutete auf die Auslage mit den Muffins.
„Nein Kevin“, sagte die junge Frau und steckte ihre üppigen Locken mit einer Spange zurück. „Die gibt es heute nicht.“
Der Kleine zog eine Schnute und rief: „Warum denn nicht, heute kommt doch der Onkel Lui!“
„Nein der Onkel Lui kommt erst nächste Woche zu uns. Kevin, stell dich bitte bei der heißen Schokolade an.“
Der Filialleiter nickte wissend. Wenn nächste Woche der Liebhaber dieser Frau zu Besuch kommt, wird der Frühstückseinkauf opulenter ausfallen. Der Mann musste bei Laune gehalten werden, schließlich hatte er dem kleinen Kevin zum Geburtstag einen MP3-Player geschenkt.
Sein Blick glitt nun zum Fräulein Mayer, einer pensionierten Realschullehrerin, hinüber. Ein graublau gemustertes Halstuch bedeckte ihren faltigen Hals. Sie reckte den Kopf nervös über die Menschenmenge und blickte Richtung Tür. Hier war ihr Rehpinscher angeleint. Hektisch drehte sich der kleine Hund im Kreis und verhedderte sich dabei mit seinem Vorderlauf in der Leine.
„Das Fräulein Mayer wird heute nicht auf einen Irish Coffee im Laden bleiben. Die kleine Töle lässt das nicht zu", dachte der Inhaber der Bäckereifiliale bei sich. Die alte Lehrerin war in jeder Hinsicht eine schlechte Kundin. Sie kaufte nur in ganz kleinen Mengen ein - meistens blieb es bei einem einzelnen Brötchen.
Die Ladentür öffnete sich und eine große, schlanke Frau betrat die Bäckerei. Sie trug eine mattgraue Nerzjacke und dazu dunkle Jeans. Die Beine steckten in oberschenkellangen, schwarzen Stulpenstiefeln. Ihre blonden Haare hatte sie im Nacken hochgesteckt, so kamen die großen Ohrringe besser zur Geltung. Mit kühlem Gesichtsausdruck musterte sie die Vitrine mit den Torten. Der Filialleiter wurde aufmerksam. Interessiert schielte er über die Köpfe der anderen Kunden hinweg zu dieser blonden Erscheinung. Ja, das war die Frau des Sparkassendirektors. Diese Frau hätte er gerne als Stammkundin gewonnen. Sie war für ihn der Schlüssel zur Oberschicht der Stadt.
Er setzte sein freundlichstes Lächeln auf und wollte gerade den Mund zu einem charmanten Gruß öffnen - da kam etwas dazwischen. Die Tür öffnete sich erneut und im Türrahmen erschien ein junges Mädchen. Man sah es auf den ersten Blick: Dies war eine obdachlose Jugendliche. Sie hatte ein hübsches Gesicht, soweit man das unter dem ganzen Dreck erkennen konnte. Eine frische Schürfwunde zog sich hellrot vom Kinn bis zur Wange. Die blonden Haare standen vor Schmutz und hingen ihr in verfilzten Strähnen in die Stirn. Bekleidet war diese bedauernswerte Gestalt mit einer alten Wolldecke und löcherigen Jeans. An ihren Füßen befand sich ein Paar halbzerfallener Turnschuhe, aus denen die Fußzehen schauten.
Die Kunden in der Bäckerei gingen auf Abstand und erwarteten, dass ein Geruch nach ungewaschenem Körper von dieser Gestalt ausging. Verwundert stellten sie dann fest, dass dies nicht der Fall war. Erleichtert spürte das junge Mädchen die Wärme in der Bäckerei. Sie hatte sich seit den frühen Morgenstunden ununterbrochen im Freien aufgehalten.
"Kevin, jetzt ist aber genug. Du bekommst keinen Negerkuss!"
Wütend zerrte die Mutter ihren Sohn von der Kuchentheke weg. Das junge Mädchen musste bei dem Namen "Kevin" lächeln. Sie erinnerte sich an den putzigen Kinofilm "Kevin, alleine zu Hause" und zwinkerte dem kleinen Kerl zu. Ihr Lächeln wurde nicht erwidert. Mit einer starren Miene, voller Eiseskälte, zog die junge Frau ihr neugierig guckendes Kind aus dem Laden.
Verlockend sahen die belegten Brötchen aus. Das Mädchen kramte aus ihrem fleckigen Lederrucksack ein kleines, perlenbesetztes Portemonnaie heraus.
"Ich hätte gerne eine Wurstsemmel", sagte sie zu der jungen Frau im gelb-schwarzen Kittel. Die Verkäuferin schenkte ihr keine Beachtung. Starr blickte sie an ihr vorbei.
"Ich hätte gern ein Wurstbrötchen", wiederholte sie in der Annahme, dass die Verkäuferin sie nicht verstanden hatte.
"Diese Vierkornbrötchen müssen Sie unbedingt einmal probieren. Die kann ich Ihnen nur empfehlen", wandte sich enthusiastisch die Verkäuferin an die nächste Kundin.
"Dann eben nicht", dachte die junge Frau in den abgerissenen Klamotten und stellte sich an der Theke mit den Heißgetränken an.
"Ich hätte gerne ein Irish Coffee", wollte sie gerade zu der Verkäuferin sagen, da kam der Filialleiter dazwischen: "He junge Frau, das geht hier nicht! Einfach so hereinplatzen und um Essen betteln!" schnauzte er.
Das Mädchen versuchte etwas zu erklären. Dazu kam es nicht mehr, denn nun begann die Kundschaft des Bäckerladens aufgeregt zu debattieren.
"Diese Type ist doch nur wegen den billigen, alkoholischen Getränken hergekommen!"
"Das ist wieder einmal typisch, an der Nadel hängen und rechtschaffene Leute anbetteln!"
"Nein, nicht anbetteln, beklauen! Diese Junkies rauben armen, alten Leuten die Handtaschen mit dem letzten Notgroschen. Kein Gewissen haben die, nein kein Gewissen haben die!"
Mit einem harten Griff am Oberarm führte der Filialleiter das Mädchen, das sich kaum wehrte, aus dem Laden. Die Direktorengattin hatte inzwischen wieder die Bäckerei verlassen, ohne etwas gekauft zu haben.
Durchgefroren und zornig erreichte das Mädchen ihre Gefährten am Stadtrand - die Filmcrew zu dem Fernsehfilm "Lillie, die junge Stadtstreicherin".
"Na, hast du deine Drehpause gut genutzt?", fragte sie der Tontechniker.
"Du guckst so aggressiv aus der Wäsche" sagte der Regisseur zu der jungen Charakterdarstellerin. "Ist etwas passiert?"
Die Schauspielerin schaute dem Filmleiter mit einem strengen Blick direkt in die Augen: "Ich finde, wir sollen das gesamte Drehbuch umschreiben. Diese Geschichte ist oberflächlich und entspricht nicht der Wirklichkeit!"