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Das Aneinandervorbei
Hinweis: Bitte nicht kommentieren, eine neue Fassung ist in Planung (auch wenn das noch Monate dauern kann).
Last night you said I was cold, untouchable
a lonely piece of action from another town.
I just want to be free, I’m happy to be lonely.
Can’t you stay away?
Just leave me alone with my thoughts.Marillion, Blind curve
Die Sonne, die tief und rot und kalt und klar am Himmel stand, ließ den Karlsplatz aussehen, als sei er mit einer dünnen Schicht Honig überzogen. Der Zauber dieses Anblicks zwang mich, bewegungslos schauend zu verharren, während hinter mir langsam die schwere Eingangstür des Verbindungshauses zuging. Ich sah und atmete und war sonst nichts als Sehen und Atmen. Als die Tür endlich mit einem mächtigen Krachen ins Schloß fiel, riß ich mich los und machte mich auf den Weg nach Hause, zur Wohngemeinschaft, zu Kathrin.
Mit federndem Schritt ging ich quer über den Platz. Mein Blick wanderte übermütig, gierig suchend umher, streifte Gesichter, die mich nicht zu sehen und die dem kalten Tag nichts Positives abzugewinnen schienen. Meine Gedanken wandten sich zurück zu dem gerade mit Frank geführten Gespräch. Zuerst waren da nur kleine Gesprächsfetzen, die aufflackerten, dann loderten Gesten und Argumentationsketten empor und entfachten ein Strohfeuer an Erinnerung und Wiedererleben. In meinem Kopf ein Feuerwerk, die Gesichter draußen auf der Straße wurden langweilig, und ich wußte: Sie waren es die ganze Zeit schon gewesen.
Die Souvenirbuden um die Heiliggeistkirche schlossen, bald würde es dunkel werden. Mein Kopf war erleuchtet, es wunderte mich, daß ich niemandem aufzufallen schien, daß kein Kind aufschrie: Mama, was ist das für ein Mann, sein Kopf ist so hell, er brennt ja. Frank hatte dieses Feuer in mir entzündet, hatte die brennbaren Stoffe darin entdeckt und aufgeschichtet. Und ich war froh darüber. Wir waren uns in einem Seminar begegnet, das die Staatstheorie von Kant behandelt hatte. Nach der zweiten Sitzung, ich war gerade beim Einpacken gewesen, war er auf mich zugekommen. Er hatte mir eine Frage zum gestellt, sich auf das Straf- und Begnadigungsrecht bezogen, ich hatte ihm mit Kant antworten können. Er hatte mich nicht gefragt, ob wir im Marstall einen Kaffee trinken gehen sollten, er hatte mich gleich zu sich eingeladen. Ich war nie zuvor in einem Verbindungshaus gewesen und fand alles etwas albern, die Gruppenbilder, die Fahnen, das antike Mobiliar im Eingangsbereich. Einen Moment lang hatte ich Angst gehabt, angeworben zu werden, aber Frank hatte den Eindruck vermittelt, als würde er gar nicht dazugehören.
Wir hatten in seinem Zimmer gesessen, klein aber schön, spärlich eingerichtet, die Wände nackt, und hatten diskutiert, kalten Tee getrunken, den er am Morgen gemacht hatte, Zigaretten geraucht. Ich meine selbstgedrehten, er gekaufte mit weißen Filtern. Wir hatten nur gesprochen, wir hatten nichts gebraucht, weder Musik, noch Alkohol, noch Nahrung.
Ich wußte nicht genau, weshalb ich ihm aufgefallen war. In der Veranstaltung, die knapp zwanzig Studenten belegt, und von denen gerade mal vier bis zum Ende durchgehalten hatten, war er derjenige gewesen, von dem die meisten Beiträge gekommen waren. Und seine Wortmeldungen waren durchdacht gewesen, er war jedesmal gut vorbereitet und hatte aus einem nicht versiegen wollenden Brunnen an Wissen schöpfen können. Vielleicht war er auf mich zugekommen, weil ich während seiner Darlegungen an den richtigen Stellen genickt oder gelächelt hatte, was mich von den übrigen Kommilitonen unterschieden haben mochte. Die anderen hatten meist ausgesehen, als verstünden sie nichts von dem was er von sich gab. Dabei waren seine Argumentationen so stichhaltig, war sein Engagement so faszinierend gewesen; seine Worte gewählt und nie ganz frei von einem humorvollen, leichten Zynismus.
Inzwischen war ich vor der Alten Universität angelangt und wartete auf den Bus, der mich zum Bismarckplatz bringen sollte. Das Gespräch hatte sich heute an der gerade bekannt gewordenen Spendenaffäre der CDU aufgehängt und von Korruption im Allgemeinen wie im Speziellen gehandelt. Ohne daß wir das Thema ausdrücklich vereinbart hätten, war uns der rote Faden trotz aller Exkurse nie verloren gegangen. Wir hatten uns gegenseitig bereichert und befruchtet, und den einzigen Punkt, in dem wir unterschiedlicher Ansicht gewesen wären, hatten wir heute nicht berührt: Unser Bild vom Menschen unterschied sich grundlegend.
Ein Bus der Linie 42 hielt. Während ich abwartete, bis die Fahrgäste ausgestiegen waren, fiel mir plötzlich auf, daß dies immer der einzige Punkt in unseren Erörterungen war, bei dem Frank vorwurfsvolle und zuweilen gar persönlich angreifende Argumentationsweisen gebrauchte. Wenn wir in unseren Gesprächen auf den Menschen und unsere Sicht von ihm kamen, wurde er ungeduldig, und es konnte passieren, daß er mich mitten im Satz unterbrach. Auch verschloß er sich in diesem Punkt gegen alles, was ich vorzubringen hatte.
Nur wenige waren mit mir eingestiegen, so daß ich einen Platz für mich alleine fand. Ich hätte im Bus die Aufsätze lesen können, die ich mir im Seminar kopiert hatte, doch überließ ich mich meinen Gedanken. Frank war ein außergewöhnlicher Mensch. Er hätte stundenlang sprechen können, wenn es ihm darum gegangen wäre. Nicht selten gewann ich den Eindruck, daß er sich auch selbst gerne sprechen hörte. Doch war er mir gegenüber ein geduldiger Zuhörer. Er schien ehrlich an meiner Sicht und Meinung interessiert, schwieg auch dann, wenn die Pausen, derer ich bedurfte, länger wurden, überdachte meine Aussagen, ließ sie auf sich wirken und ging darauf ein. In seinem Umgang mit mir lag ein Wohlwollen und eine Ruhe, eine Umgebung, die ich zur Entfaltung meiner selbst nötig hatte. Ungern sprach ich aufs Geradewohl, bevorzugte Äußerungen, die keine Korrektur verlangten, erschien deshalb oft schweigsam und schüchtern. Eigenschaften meines Charakters, die ich noch nicht lange erkannt hatte.
Im Seminar fiel ich selten auf; meist war es erst eine Hausarbeit gewesen, die einen Dozenten auf mich aufmerksam gemacht hatte. Durch eine solche war ich auch an die Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft gekommen. Ich hatte das erste Angebot angenommen, Frank hatte bisher alle abgelehnt. Er wartete auf die Aufmerksamkeit einer ganz bestimmten Lehrkraft, ich war sicher, daß er damit rechnen konnte. Er hatte bei der Professorin, die er sich ausgesucht hatte, bereits mehrere Vorlesungen besucht und nun auch ein Seminar bei ihr belegt, das er mit besonderem Eifer vorbereitete. Ich hatte schon mehrfach versucht, ihm klarzumachen, daß in seinem Fall wohl gewöhnliche Anstrengung ausreichen würde. Er hatte immer nur geschwiegen, nicht gelächelt, mich einen Moment lang ernst angesehen und dann, mit einem abschließenden, keine Fortsetzung zulassenden Räuspern das Thema gewechselt.
Am Bismarckplatz stieg ich aus und beschloß, die letzten Stationen, für die ich die Straßenbahn hätte nehmen müssen, zu Fuß zu gehen. Ich überquerte die Straße und bog vor dem Carré in die Querstraße ein, die mich, an der Stadtbücherei vorbei, in die Alte Eppelheimer Straße bringen würde, wo sich unsere WG befand.
Frank war der Überzeugung, daß Begriffe wie „gut“ und „Moral“ lediglich Konstrukte waren, und den Egoismus des Menschen nur verdeckten. Er behauptete, sie seien einzig deshalb kultiviert und anerzogen, weil sie sich als gesellschaftserhaltend erwiesen hatten. Diesen Standpunkt teilte ich nicht. Manchmal fragte ich mich, ob meine Sicht mehr Wunsch war, doch immer blieb ich bei der Ansicht, daß der Mensch zu selbstlosen Handlungen fähig war.
Man könnte zu glauben versucht sein, daß sich zwei denkende Menschen mit diesem Unterschied in der Auffassung zufrieden geben könnten. Doch war dem nicht so. Frank schien wie besessen von der Idee, mich von der Richtigkeit seiner Behauptung zu überzeugen. Waren wir erst bei diesem Thema angelangt, so fand er keine Ruhe mehr und kehrte unweigerlich immer wieder dahin zurück. Vielleicht sprach aus seiner Aggression nur die Angst, daß sein eigener Standpunkt falsch sein könnte. Ich wußte es nicht, aber hielt diesen Gedanken für nicht ganz abwegig. Es fiel mir schwer, ihn einzuschätzen. Ich wußte ohnehin nur wenig von ihm, was mir dabei hätte helfen können. Über persönliche Dinge sprachen wir nie, was ich schade fand, denn mich interessierte, aus welchem Umfeld er stammte, wie die Beziehung zu seinen Eltern war, oder ob er eine Freundin hatte. Er mied diese Themen, die ich nur sehr implizit von Zeit zu Zeit ansprach und verriet auch unbedacht nichts darüber. So war ich gezwungen, eigene Vermutungen anzustellen: Ich war überzeugt, daß der Kontakt mit seinen Eltern allenfalls lose zu nennen war, daß diese aus einem sehr niedrig angesiedelten sozialen Milieu stammten und daß es da keine Freundin gab und vielleicht auch noch nie gegeben hatte. Gerade über den letzten Punkt war ich mir völlig sicher, auch wenn ich meine Sicherheit in keinerlei Weise begründen konnte. Ich fragte mich, was der Grund dafür sein mochte, dachte manchmal: Vielleicht ist er noch nie einem Menschen begegnet, der ihm ebenbürtig erschienen ist.
Der Anblick des Schachfelds im Park, das tagsüber meist drei oder mehr Spieler umstanden, hinterließ einen eigentümlichen Eindruck bei mir; es wirkte seltsam entrückt, nicht von dieser Welt, von einer Konsequenz und Ordnung, die der Realität fremd zu sein schien. Ein König, der nicht verräumt worden war, stand daneben, als hielte er Wache. Ich blieb stehen, um meinen Eindruck zu analysieren, doch fand ich in meinen unzusammenhängenden Gedanken nichts, was mir darüber hätte Aufschluß geben können. Ich wollte weitergehen, doch dann ging ich auf die Figur zu und besah sie aus der Nähe. Sie war aus Plastik, weiß und schmutzig und fühlte sich kalt und unwirklich an. Ich kippte die Figur, die schwerer war, als ich erwartet hatte, dann warf ich sie um und betrachtete sie noch einen Moment, wie sie dalag auf dem zertretenen Rasen.
Ich nahm meinen Weg wieder auf, mir wurde langsam kalt und ich beschleunigte meine Schritte. Benji würde nicht da sein, da er montags mit seiner Band probte und selten vor elf Uhr zurückkehrte, und Layla war Freitag nachmittag für eine Woche zu einer Freundin nach Frankfurt gefahren. Ich würde also mit Kathrin alleine sein, in ihrem Zimmer, in ihrem großzügigen Bett, morgen konnten wir beide ausschlafen. Es war Zeit, die Duftkerzen zu entzünden, die sie vor einigen Tagen besorgt hatte, und ich malte mir aus, wie wir im Bett liegen und Kaffee trinken würden, vielleicht ließ sie mich in ihrem Zimmer eine Zigarette rauchen, womöglich rauchten wir auch gemeinsam etwas.
Inzwischen war ich vor unserer Wohnung angelangt, kramte das Schlüsselbund heraus und öffnete die Haustür. Im Treppenhaus schien es noch kälter zu sein als draußen. Ich ließ die Zeitung liegen, die Benji heute morgen vergessen haben mußte und rannte fröstelnd die Treppen zum zweiten Obergeschoß hinauf. Durch die Milchglasscheibe der Eingangstür konnte man erkennen, daß in der ganzen Wohnung die Lichter brannten. Wenn Kathrin abends alleine war, kam das oft vor; sie pflegte überall umherzugehen, dort etwas in die Hand zu nehmen, es anderswo gegen den nächsten interessanten Gegenstand einzutauschen, sie ging in alle Zimmer, oftmals als wandle sie im Schlaf. War irgendetwas abhanden gekommen, konnte es nahezu überall sein, Kathrin konnte sich nur selten erinnern, wohin sie die Sachen tat. Wir hatten uns daran gewöhnt, nur Benji ärgerte sich immer wieder. Mit einer gewissen Gereiztheit in der Stimme kam er immer dann zu Kathrin, wenn er irgendetwas in seinem Zimmer oder der Küche nicht finden konnte.
Ich schloß auf, stellte die Tasche auf den Boden und warf die Jacke in mein Zimmer. In der Wohnung war es warm, ich rieb meine Beine und ging in die Küche, wo Kathrin saß, den Kopf über ein Buch gebeugt.
Die nackte Glühbirne an der Decke tauchte den Raum in ein hartes Weiß. In diesem unfreundlichen Licht sah Kathrin älter aus, was die Zärtlichkeit, die ich empfand, nicht beeinträchtigte, sondern eher noch verstärkte. Ich stellte mir vor, wie wir in der Küche sitzen würden, beide vierzig Jahre älter, beide lesend, nur ab und an aufblickend, den anderen verträumt anlächelnd. Automatisch suchte ich auf ihrem Kopf nach grauen Haaren, das Bild war mit solcher Macht erschienen, daß es mir so vorkam, als sei diese Zeit bereits vergangen: wir beide ein greises Paar, in einer Küche, die es ein halbes Menschenleben lang benutzt hatte. Meine Suche blieb erfolglos, wehmütig kehrte ich in das Jetzt zurück.
Zwar erzählte sie mir immer wieder, daß sie schon mehrere Haare hatte ausreißen müssen, doch leider war es mir nie gelungen, welche zu entdecken. Irgendwann einmal würde Ausreißen nicht mehr funktionieren, und ich hoffte, sie würde sie dann nicht färben. Still zu Boden blickend lächelte ich, ich war vom Gegenteil überzeugt.
Die Wärme des Raums, die langsam in meine kalten Glieder kroch, mischte sich in meine sanfte Empfindung. Ich beugte mich von der Seite über sie und hauchte einen Kuß auf ihre rötlichdunklen Haare, sie lächelte, ohne den Kopf zu heben. Ihre Augen glitten langsam über die Zeilen und sie bewegte beim Lesen ihre Lippen.
„Hallo Du“, flüsterte ich.
„Hallo Jimi.“
Sie knickte die Seite ein, schlug das Buch zu, reckte sich und drehte ihren Kopf mit geschlossenen Augen im Kreis. Ich sah und atmete, betrachtete ihren Hals, ihr Schlüsselbein, in Gedanken bereits mit meinen Lippen auf den Ihren. Der Kühlschrank brummte, das Radio auf dem Küchenschrank spielte ganz leise einen gleichbleibenden, einfallslos-idiotischen, nebensächlichen Rhythmus. Kathrin verharrte mit ihrem Blick auf der Tischplatte, dann legte sie das Buch darauf ab.
Ich empfand eine wohlige Spannung, es bedurfte nun nur noch einiger Worte. Kathrin schwieg. Ich fragte, und in meine Stimme mischte sich zärtliche Vorfreude:
„Bist Du fleißig?“
„Ich weiß nicht, ob es von Fleiß zeugt, ein Buch zu lesen, das einen wirklich interessiert. Hast Du Hunger?“
Ich lächelte, betastete theatralisch meinen Magen, was unnötig war, da sie nicht zu mir herblickte, und antwortete erwartungsfroh fragend:
„Nein?“
Kathrin nahm ihr Buch wieder in die Hand, blätterte einige Seiten zurück und setzte ihr Lesen fort. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, eine kostbare Vase fallen gelassen zu haben, und einen Augenblick lang stand ich unschlüssig da. Ich hätte gerne etwas gesagt, doch fühlte ich mich leer. Ganz weit entfernt fühlte ich eine Schuld, doch es war mir unmöglich zu sagen, woher diese rühren mochte.
„Magst Du einen Tee?“ begann ich vorsichtig.
„Gerne.“
Das Wort war tonlos aus Kathrins Mund gefallen, der sich alsbald wieder in die Bewegungen ihrer Augen ergab; ich wollte mehr Worte aus diesem Mund vernehmen, eine Melodie, irgendetwas, an dem ich ihre Stimme hätte erkennen können:
„Schwarztee oder Kräutertee?“
Ich wußte nicht, weshalb ich die Frage gestellt hatte. Kräutertee konnte ich nicht ausstehen, Kathrin wußte das:
„Egal.“
Egal. Ich haßte dieses Wort, fand kein häßlicheres Wort in meiner Sprache, wandte mich zur Spüle, damit Kathrin mein Gesicht nicht sehen konnte. Mich abzuwenden zwar völlig unnötig, da sie mich gar nicht ansah. Ich füllte den Wasserkocher zur Hälfte und holte aus dem Küchenschrank den Kräutertee heraus. Ich griff nach einer Kanne, hängte die Beutel hinein und sah dem Kocher aufmerksam zu, wie er seine Arbeit verrichtete. Als ich das kochende Wasser in die Kanne schütten wollte, blickte Kathrin auf und mich an:
„Du mußt kurz warten, bis das Wasser nicht mehr brodelt.“
Ich hielt das Gerät in der Hand, schaute sie an, sie hatte wieder zu lesen begonnen. Ich wäre am liebsten in mein Zimmer gegangen. Mein Herz schlug, ich empfand so etwas wie Wut auf sie und schämte mich dafür. In meinem Kopf rasten die Gedanken durcheinander; die Situation überforderte mich. Hatte sie das sagen müssen? Von allen Dingen, die sie hätte sagen können, war das das Unnützeste und Unwichtigste. Sie saß nur da und blickte in ihr dämliches Buch, was für einen Schwachsinn las sie denn da, der wichtiger sein konnte? Aber sie las, ich hätte mich darüber freuen sollen, vernachlässigte sie ihr Studium doch viel zu oft. Aber warum beachtete sie mich nicht? Warum konnten wir nicht auf dem Bett liegen? Ich wollte sie schlagen und davongehen, und gleichzeitig wollte ich sie in den Arm nehmen und von ihr geküßt werden.
Inzwischen hatte das Wasser aufgehört zu brodeln und ich goß den Tee auf. Meine Hand zitterte dabei. Ich hätte jetzt gerne geweint, vielleicht wäre sie gekommen und hätte mich in den Arm genommen? Aber ich weinte nicht, konnte nicht, und sie kam nicht. Was konnte ich tun, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken? Oder war ich vollkommen egoistisch? Hätte ich es nicht respektieren sollen, was sie tat? Tat sie mir etwas Böses? Mußte das etwas bedeuten? Meine Enttäuschung war doch unbegründet, beruhte doch nur darauf, daß sie mir nicht meine Wünsche von den Lippen abgelesen hatte. Was wollte ich, und was wollte sie denn gerade? Lesen? Und dann?
Ich nahm zwei Tassen vom Küchenbord, füllte sie mit Tee. Als ich Kathrin eine der Tasse hinstellen wollte, fiel mir auf, daß der Tee noch eine Weile ziehen mußte. Also schüttete ich den Inhalt in die Kanne zurück und hörte Kathrin hinter mir seufzen. Scheu blickte ich zu ihr hinüber. Sie schüttelte den Kopf, dann schien sie sich wieder auf ihr Buch zu konzentrieren.
In diesem Moment spürte ich einen Stich in meiner Brust, plötzlich hatte ich Angst. Angst, eine Arterie könnte geplatzt sein, Angst, ich könnte innerlich verbluten, Angst, in meinem Körper verteilten sich gerade die letzten Tropfen meines Lebens - ich war bei vollem Bewußtsein vollkommen panisch und völlig wahnsinnig.
Ich dachte kurz darüber nach, ob sie vielleicht gar nicht wegen mir geseufzt hatte, doch das Andere war stärker. Das Andere hatte längst Besitz von mir ergriffen und ich mußte seinen Befehlen jetzt folgen. Jetzt. Ein kleiner Rest von aufmüpfigen Gedanken erwog noch kurz, ob ich vor ihr auf die Knie fallen, meinen Kopf in ihren Schoß legen sollte. Ich machte einen Schritt auf sie zu, wissend, daß dies der letzte Ausweg sein würde und daß es gut wäre, ihn zu nutzen. Würde sie mich auslachen? Ich ging sehr langsam, Kathrin bemerkte das, schaute mich an, verwundert.
’Entschuldige, daß ich dich noch gar nicht richtig begrüßt habe. Wie war dein Tag? Warst du im Seminar? Hast du Frank besucht?’
Ich lächelte, gab ihr einen Kuß, brachte den Tee und begann zu erzählen.
’Was ist mit dir, geht es dir nicht gut?’
Ich setzte mich auf einen Stuhl, sie beugte sich über mich und drückte meinen Kopf an ihre Brust.
’So, jetzt ist es genug. Ist der Tee schon fertig? Komm, setz dich, ich sorge für den Rest.’
Ich setzte mich auf einen Stuhl, sie brachte mir Tee, gab mir einen Kuß und ließ sich auf meinem Schoß nieder.
Lachend fragte sie:
„Was ist mit dir?“
„Nichts. Es war nur alles sehr anstrengend heute.“
Kathrin stand auf, schnappte den Tee, stellte mir eine Tasse hin, blickte auf ihr Buch:
„Ziemlich interessant.“
Ich schwieg, sie schlug das Inhaltsverzeichnis auf und überflog die Kapitelüberschriften. Meine Stimme monoton, mein Entschluß gefestigt:
„Ich bin müde, ich glaube, ich lege mich eine Weile hin.“
„Ist gut. Ich gehe auch bald ins Bett.“
Ich stand auf, ohne den widerlichen Tee anzurühren, und ging aufrecht und zielstrebig und unbeirrbar und tot in mein Zimmer, verschloß die Tür, zündete eine Kerze an, hatte keine Eile. Ich löschte das Deckenlicht. Meine Augen gewöhnten sich automatisch an das Halbdunkel, ich mußte nur stehen und atmen. Dann kramte ich aus dem Schubfach im Schreibtisch den Tabak, den kleinen Plastikbeutel hervor. Ich klebte drei Papers zusammen, riß von einem Buch aus der Uni-Bibliothek ein Stück des Einbands ab, bröselte viel ab, zuviel für eine Person. Ich hatte Zeit. Ich ließ mir Zeit, schließlich betrachtete ich mein Werk: Es war gut. Alles war gut. Ich hatte alles unter Kontrolle