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http://4.bp.blogspot.com/-RsQbxfCVE...t-Millais-Portrait-of-a-Girl-Sophie-Gray-.JPG
Inspiriert durch die Betrachtung diesen Gemäldes.
Das Bildnis der Sophie Gray
„Still stehen,“ hat er gesagt, „und halte dein Gesicht ruhig!“
Seit einer Ewigkeit, so kommt es mir vor, stehe ich nun schon reglos da und starre ihm in sein Gesicht. Ein Gesicht, dass so lebhaft zu sein scheint, voller Bewegung, immer rastlos, konzentriert. Er sieht mich an, dann sieht er auf seine Leinwand, auf welcher er mein Bild einzufangen gedenkt.
„Wenn du dich bewegst, wird dein Antlitz unscharf,“ sagte er, „ich will dich abbilden, so wie du nun vor mir stehst.“
Ich stehe also ganz ruhig vor ihm, ausdruckslos, in einer Grimasse gefangen, die ihm doch zu gefallen scheint. Keine Regung in meinen Zügen, wie tot stehe ich vor ihm. Er will es so. Will mich so einfangen, wie ich erscheine, nicht wie ich bin. Denn sind nicht die Ausdrucksweisen, die Bewegungen auf unserer Oberfläche, die Spiegelungen unseres Innenlebens?
„Einfach stehen, keine Störung deines Bildes, wenn ich bitten darf.“ Dies sagte er und meinte es wohl ernst.
Ich würde so gerne aus der Starre ausbrechen, würde ihm meine vielen Seiten zeigen, meine Stimmungen, wie sie eben kommen und gehen. Will ihm ein Spektrum meines Seins zeigen, fließende Bewegungen ausleben, wie sie aus mir herauswollen.
Pater Raphael sagte einmal, die Zeichen unseres Wesens werden gelenkt von Gott, unserem Vater. Unsere Anmut haben wir von ihm. Und ist es nicht das, was wir von uns abgebildet wissen wollen? Das Göttliche, nicht das weltlich Irdische; bloßer Körper, ohne Geist. Doch er sagte: „Nein, reglos möchte ich dich haben, ohne das kleinste Zucken. Deine Gestalt will ich einfangen, bleib still.“
Mein Unterkleid lässt meine Haut kribbeln, ich möchte es richten. Meine Nase beginnt unruhig zu werden, will geliebkost werden. Mein Körper sehnt sich nach Beachtung. Nicht die seine, sondern jene echte, die man wirklich spürt.
In dem Zimmer ist es warm, draußen zwitschern die Drosseln und die Lerchen. Er hat die Vorhänge zugezogen und die Lampen aufgestellt. Stilles Licht möchte er, kein wanderndes. Das verbrennende Öl beginnt meine Augen zu Tränen zu rühren. Wie gerne würde ich ihnen erlauben, sich einfach gehen zu lassen.
„Noch ein bisschen, liebe Sophie,“ sagte er, „bald ist es geschafft.“
Meine langen Haare beginnen schwer an mir zu ziehen, als ob sie mich in den Boden drücken möchten. Wie ein Mantel aus schwerem Pelz liegen sie auf meiner Schulter. Nur kurz mit der Hand hindurchfahren, ihnen die Last nehmen stillzuliegen. Bloß einmal den Kopf schwingen lassen, durch den Raum mit dem Blick schweifen und Staubkörner betrachten. Fragen stellen, Antworten finden.
Meine Eltern werden stolz auf mich sein, wenn er zufrieden ist. Sie werden das Bild an meiner Statt beschauen und sich ihrer schönen Tochter erfreuen. Mich werden sie dabei vergessen. Ich werde langsam vergehen; mein Wesen wird verschwinden unter Farbe. An der Wand werde ich hängen, im Salon, oder im Musikzimmer. Sie werden sie Gästen vorführen und sich gefallen, als Eltern dieses Mädchens. Ich werde fortan nur noch stören, werde nicht mehr so sein, wie sie mich kennen. Werde älter werden und anders als ich es nicht war.
„Welch wunderbare Farbe deine Augen haben,“ sagt er, „strahlend, wie von der Wintersonne beschienenes Eis sind sie!“
Was für ein Strahlen wird es sein, welches er einfängt? Es wird kein Lachen, keine ungebändigte Freude sein. Kein keckes Funkeln, kein erwartungsvolles Glitzern. Bloß stumpfes Starren, leblos und kalt, wie Eis unter dem Schnee.
„So, fertig. Den Rest schaffe ich alleine. Du darfst gehen.“ Er macht eine Handbewegung.
„Haben Sie vielen Dank, Mr. Millais.“ Dies gesagt, erwache ich aus meiner Starre und gehe langsam und etwas wackligen Schrittes aus dem Raum. Vorbei an meinen Geschwistern und Vorfahren, die um mich herum hängen und starren. Wer sie wohl alle wirklich waren?