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Das Blätterkind
Das Blätterkind
für Isabelle
Weisst du noch?
Wir suchten den Frühling.
Die Spuren des vergangenen Winters haben sich zurückgezogen, langsam suchen sich die neuerwachenden Lebewesen ihren Weg hinauf – wollen den Himmel mit ihren zarten Armen berühren. Enttäuscht werden sie sich abwenden, wenn sie merken, dass der Himmel zu weit entfernt ist und sie ihn nicht erreichen können. Werden sich wieder dem Boden zuwenden, wollen ganz tief darin versinken – bis sie nicht mehr weitergehen können. Erst dann werden sie lernen zu leben. Werden den Himmel von weither bewundern, der Erde gedenken und sich daran festhalten.
Ich wandere durch den Wald, die Bäume beobachten mich neugierig, weichen aber misstrauisch zurück. Ich tue ihnen nichts. Die Sonne scheint mir meinen Weg durch das lichte Dach aus den frühlingsgrünen Blättern – sie sind noch fast durchscheinend, ich fürchte, sie könnten bei einem Lufthauch zerbrechen. Ich bete für sie, sie sollen wachsen, sollen lernen, sich zu behaupten. Die Sonne verspricht mir, auf sie Acht zu geben. Beruhigt setze ich meinen Weg fort. Plötzlich bemerke ich einen Schatten in den Blättern, schaue genauer hin.
Dort, zwischen Abermillionen von kleinen Blättchen liegt etwas. Es schimmert – von Sonnenstrahlen getrieben – geheimnisvoll, fast wie Gold, nur viel wertvoller. Noch während ich es betrachte, beginnt es zögerliche Bewegungen auszuführen. Zuerst noch praktisch unsichtbar, dann sicherer. Ich wage nicht zu atmen, habe Angst, es zu erschrecken, doch es sieht mich nicht. Die Sonne durchflutet es, ohne gebrochen zu werden. Es ist ein Kind, gleicht den Blättern, die es umgeben: Seine Haut, so fragil – es wird zerbrechen, wenn es die Blätter berührt! Ich will schreien, es warnen, doch dann sieht es mich. Es lächelt und nimmt eines der Blätter, lässt es fliegen. In einer nicht vorhandenen Windböe wirbelt es sachte herab, in meine offene Hand. Es zerbricht nicht. Ich fahre sanft den feinen Linien auf dem Blatt nach, als eine leise Stimme neben mir sagt: „Hüte dies eine Blatt gut, bewahre es. Es wird wachsen und dich begleiten.“ Ich blicke auf, neben mir das Kind. Es lächelt noch immer und weist auf das Blättchen. Ich umschliesse es mit meiner Hand und flüstere heiser: „Danke.“ Das Kind sagt nichts. Es ist jetzt nicht mehr durchscheinend. Ein Kleid aus Frühlingsblättern umgibt es, während seine Augen leuchten wie die Sonne, die noch nicht stark genug ist, zu wärmen. Ich reiche dem Blätterkind meine Hand und es zeigt mir die Mysterien des Waldes.
Als wir ihn fanden, begann der Sommer.
Oft besuche ich das Blätterkind, durchstreife gemeinsam mit ihm die Wälder, die sich füllen, Tiere aller Art begegnen uns. Ich frage das Blätterkind, woher es komme. Es lächelt nur. „Von dort“, sagt es und zeigt in eine unbestimmte Richtung. Wir gehen schweigend weiter, ich dringe nicht weiter in es ein, seine Anwesenheit genügt. Die Blätter sind gewachsen und rascheln sanft bei jedem Windstoss. Sie winken dem Blätterkind zu, grüssen es wie einen Verwandten. Es winkt zurück, sein Kleid schaukelt dabei hin und her wie ein Glöckchen, das silberhell klingelt, wenn man es berührte. Es meint: „Sie rufen mich, sie wollen, dass ich zu ihnen zurückkomme. Irgendwann werde ich gehen.“
Wieder sind wir gemeinsam unterwegs und durchqueren ein Stück seines Waldes. Ich beobachte es, sein Gesicht – es scheint zu lächeln, still für sich – und möchte es am liebsten in die Arme nehmen, beschützen. Doch in diesem Augenblick wendet es mir sein Gesicht zu und scheint zu widersprechen – jene Nähe wäre zu intensiv, als dass das einst so zarte Blätterwesen es ausgehalten hätte. So streiche ich über seine Wangen und wir gehen weiter. Bald kommen wir in einen Teil es Waldes, in dem ich noch nie gewesen bin. Es ist dunkler als in den anderen Teilen. Selbst das Schimmern des Blätterkindes ist hier gedämpft. Es scheint sich zu fürchten und fasst meine Hand fester. Ich versuche, es zu beruhigen, doch es will nicht auf mich hören. „Hier wohnen keine guten Blätter, alles ist tot.“ Und da bemerke auch ich es: Die Blätter schweigen hier, obwohl es keineswegs anders aussieht als in den anderen Teilen. Ich gehe zu einem der Bäume hin, sein Stamm ist übersät mit Flechten und Moosen. Ich werde bei dem Anblick des stummen Baumes traurig, nun muss das Blätterkind mich trösten, doch das gelingt ihm nicht. Plötzlich ist auch das Blätterkind bekümmert und klagt über die Ungerechtigkeit der Welt. Wir lehnen uns beide an den durch die vielen Moose weichen Stamm, so als können wir ihn zurück ins Leben holen. Wir wissen beide, dass das nicht möglich ist, so sehr wir es auch wünschen.
Später, es müssen Stunden vergangen sein, gehen wir weiter. Wir sprechen nicht – es würde alles zerstören. Wir suchen unseren Weg zurück, doch den gibt es nicht. So folgen wir einem anderen Pfad und erst jetzt bemerke ich die Schönheit des sprechenden Waldes. Ich höre den Blättern zu, wie sie miteinander plaudern, sich ihre Geheimnisse anvertrauen. Das Blätterkind lauscht aufmerksam – es versteht die Sprache der Bäume und kann sich auch mit ihnen unterhalten, denn es antwortet mit einem feinen Säuseln auf das der Blätter. Es reicht mir wieder seine Hand und wir laufen diesmal fröhlicher weiter, hier ist die Baumwelt wieder in Ordnung. Umgeben von Grün vergessen wir das Dunkel und leben den Moment. Sonnenstrahlen streicheln uns und die Bäume um uns erzählen ihre Geschichten.
Bis wieder die Sonne durch die Wolkendecke bricht,
warten wir hier.
Für mich ist es wundervoll, durch hohe Schichten aus Herbstblättern zu laufen. Auch das Blätterkind findet Gefallen daran. Stundenlang rennen wir nur durch das Laub und lachen, freuen uns. Dieser Herbst ist angenehm warm und die Sonne scheint viel, an den Bäumen hängen volle, schwere Früchte, die herrlich süss schmecken. Das Blätterkind schliesst die Augen und geniesst das Fruchtfleisch, dessen Geschmack ich neu wahrnehme und geniesse. Die Blätter rauschen mehr als üblich, ich schaue genauer hin: Die Farben seines Kleides haben sich der Umgebung angepasst, sie sind gleich verfärbt wie die der Bäume. Wenn das Kind im Blätterteppich liegt, kann ich es kaum noch sehen. Es entschwindet. Immer, wenn es so liegt, vermeine ich ein melancholisches Glänzen in seinen Augen zu bemerken, das mir zu sagen scheint, dass der Sonnenschein der vergangenen Monate nicht ewig währen wird. Ich suche dann das Blatt in meiner Tasche, das gewachsen ist, so wie der Sommer kam wurde es kräftiger, seine Adern ziehen sich stark durch die weiche Oberfläche und geben ihm Halt. Und dann muss ich lächeln, der Frühling kehrt erneut zurück und der noch schwache, aber schon würzige Geruch der erwachenden Erde durchdringt die Luft. Lasse ich das Blatt wieder los, finde ich mich in der Realität wieder und neben mir auf dem noch sommerwarmen Boden liegt das Kind und sein Lächeln rinnt meinen Hals hinunter, einem Tropfen köstlichstem Honig gleich.
Unsere Wanderungen werden ausgedehnter, oft erreichen wir den Waldrand erst, wenn der Mond schon längst am Himmel steht und die funkelnden Sterne bewacht, und dann verabschieden wir uns. Frühmorgens suche ich den Wald wieder auf, warte still, bis mein Blätterkind mich aus meinen Gedanken schreckt. Es erzählt mir von alten Geschichten, von Legenden der Blätterkinder. Aufmerksam höre ich zu, viele der Legenden kennen auch wir Menschen. Die Mythen sind zahlreich wie die Blätter an den Bäumen - sie handeln von den Lebewesen der Wälder, die im Verborgenen leben.
Wir sehen die Tiere ihre Vorräte sammeln: Eifrige Eichhörnchen, die Nüsse in Verstecke legen, Bären, die sich einen dichten Pelz zulegen, um im Winter nicht zu frieren. Ich frage das Kind nicht, wie es den Winter verbringen wird, habe Angst vor der Antwort. Doch es wird immer stiller, heimlich zupft das Kind die welken Blätter aus seinem Kleid heraus, dort kommt wieder die durchscheinende Haut zum Vorschein, wie zu Beginn, als die Frühlingsblätter sich erst noch ihren Platz erkämpfen mussten.
Einmal sagt das Blätterkind leise, so dass ich ganz nahe rücken muss, um es zu verstehen: „Sie fallen, siehst du? Auch ich bin ein Blatt.“ Ich kann nichts darauf erwidern, umarme es nur und danach bleiben wir bis zum nächsten Morgen zusammen, erst dann trennen wir uns.
Am Abend gehe ich wieder hin, doch das Blätterkind taucht nicht am Waldrand auf. Traurig suche ich meinen Weg nach Hause, am Morgen, als es aber dämmert, stehe ich wieder am Waldrand. Wartend auf Einlass, doch ich warte vergebens. Die Äste der Bäume werden kahler und kahler, bis schliesslich alles leer ist, nur der Boden ist bedeckt mit Blättern. Dann fällt der erste Schnee.
Niemand mehr.
Ich wandre alleine durch das Winterland.
Träumend.
Spuren führen in die Tiefe der Wälder. Ich folge ihnen und folge meinen eigenen Fährten zurück an den Waldrand. Die Äste sind schwer mit Schnee beladen und hängen beinahe bis zum Boden. Die Lebewesen schlafen, tief unter dem Schnee ruhen die Samenrispen, die sich im Frühling neu entfalten werden. Die Wintersonne wärmt mich kaum noch, doch selbst wenn sie wie ein Ofen glühen würde, die Kälte bliebe zurück. Ich friere und ziehe meinen Mantel enger um mich. Meine Hand wandert in meine Tasche und umschliesst das eine Blatt, das noch immer grün ist. Für einen kurzen Moment breitet sich wohlige Wärme in mir aus, doch dann wird es wieder kalt. Ob mein Blätterkind tief unter der Schneedecke auf den Frühling wartet?
Winterspuren verblassen.
Der Schnee ist geschmolzen, unzählige Rinnsale suchen sich ihren Weg über die Moose, über den unebenen Boden. Ich habe erstmals wieder den Wald betreten, fasse das kleine Blättchen, nun wieder zu einer Knospe gerollt, das mir den Halt geben soll, den auch die Bäume brauchen, um ihr riesiges Blätterdach zu errichten. Ich blicke mich um und weiss, das Blätterkind wird nicht wiederkommen. Und doch hoffe ich es. Der Tag vergeht, ich verlasse den Wald wieder. Ich gehe noch oft hinein, nie bekomme ich Gesellschaft.
Eines Tages mitten im Frühling gehe ich wieder in den Wald. Die Blätter sind schon gewachsen und nicht mehr zerbrechlich wie zu Beginn. Und doch erscheinen sie mir so, im Herbst werden sie zu allerfeinstem Glas, bei einem Windhauch zerbrechend. Plötzlich raschelt es neben mir und jemand sagt: „Danke, dass du das Blatt so gut gehütet hast.“