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Das Dilemma mit Tante Emma
Das Dilemma mit Tante Emma
"Jetzt sieht Mama wieder aus, wie das Leiden Christi!"
"Hey, Schlauberger!", schnappt Claudia zurück. "Räum lieber deinen Plunder hier weg. Und in einer Stunde komme ich dein Zimmer kontrollieren."
Murmelnd verzieht sich Lukas aus ihrem Blickfeld.
"Dass du immer vor dieser alten Trulla....", glaubt sie zu hören. "Zu Kreuze kriechen musst!", kann sie deutlich verstehen, bevor die Tür zu seinem Zimmer unwillig zugeschlagen wird.
"Noch so ein Oster-Kalauer, und für dich ist ein Jahr lang Aschermittwoch!"
Claudia nimmt sich nicht die Zeit, herauszufinden, ob er sie gehört hat. Es ändert doch nichts, er ist sechszehn und wird es noch fast ein Jahr lang bleiben.
Mit resigniertem Seufzen schaufelt sie sämtliche Schuhe und Jacken in den Wandschrank im Flur. Nicht einmal zwei Stunden, bis Tante Emma auf dem Bahnsteig treten wird und eine fröhlich lächelnde Familie Richter erwartet.
Eine lächelnde Familie wird es dieses Jahr nicht geben. Bernd muss länger arbeiten. Katja ist gerade mal wieder im Kaufrausch verschollen und Lukas wird zum Zeitpunkt der Abfahrt überall sein, nur nicht im Auto und wenn doch, dann wird er nicht lächeln. Heute wird das sogar Claudia schwer fallen.
Während sie die letzten Teile in die Spülmaschine räumt, denkt sie noch einmal darüber nach, ob Lukas das mit Absicht gemacht hat.
"Ach übrigens, Mama, Tante Emma hat letzten Montag angerufen. Sie kommt jetzt doch schon am Gründonnerstag. Wollt ich nur schnell sagen."
Während sie sich durch den übervollen Bahnhof schlängelt, geht sie im Geiste noch einmal alles durch, was sie vergessen haben könnte, um einen Notfallplan auszuarbeiten. Nicht, dass es das Lächeln einfacher macht. In den zwei unendlich kurzen Minuten auf dem Bahnsteig fragt sie sich wie so oft, warum sie das tut. Jahr für Jahr.
Tante Emma ist Omas Cousine. Ist das "verwandt"? Vermutlich schon. Und sie ist doch schon über neunzig. Vier Tage im Jahr für die Familie zu opfern, das muss doch möglich sein. In diesem Jahr eben auch fünf. Auch das wird gut gehen.
Tante Emma ist eine einsame, alte Frau, die sonst niemanden hat. Und eines Tages wird eine höhere Instanz Claudia fragen, was sie Gutes getan hat im Leben. ‚Ostern mit Tante Emma’, will sie dann antworten. ‚Jedes Jahr.’
Zuhause angekommen fällt Claudia beinahe über gleich zwei verschiedene Paar Turnschuhe von Lukas. In nur einer Stunde? Das ist Absicht.
Tante Emmas Nase bewegt sich daraufhin auf "Rümpfstufe eins", wie Lukas das im letzten Jahr genannt hat. Claudia hat heute noch ein schlechtes Gewissen, weil sie es lustig findet.
Lukas gelingt es allerdings schon in Sekunden, mit seinem Auftritt alles in den Schatten zu stellen. Eine halbe Tonne von Claudias Make-up ist um seine Augen verteilt. Praktisch alles, was schwarz ist. Ein Silberanhänger an einer breiten Lederschnur, die verdächtig nach dem Riemen von Claudias Handtasche aussieht, glitzert provokant über einem zerfetzten T-Shirt. ‚Luzifer rules!’
Lukas hat die schwarze Phase eigentlich seit Weihnachten hinter sich gelassen. Mit ihrer Wiederbelebung stellt er aber eine neue Oster-Bestleistung auf. Der Hyperraumsprung von Rümpfstufe eins unmittelbar auf vier ist eine echte Sensation.
"Was, bitte, stellt das dar?"
"Grufti!", presst Lukas zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus und Claudia fragt sich, ob er zornig wirken will, oder das Lachen unterdrückt.
"Junger Herr! Zügele deine Zunge! Auch du wirst mal alt sein und den nötigen Respekt einfordern." Die Empörung steht Tante Emma im Gesicht wie eingemeißelt.
Lukas will zu einer Erklärung ansetzen, aber sein Gestammel bleibt irgendwo zwischen echter Empörung, Verwirrung und einem Lachanfall in der Luft hängen, sodass er schließlich fluchtartig den Raum verlässt.
"Ich will mich ja nicht einmischen", Claudia seufzt so unhörbar wie möglich.
"Aber."
Sie hält die Luft an.
"Du musst doch auch finden, dass..."
Was immer sich anschließt, sitzt normalerweise tief. Kindererziehung vorne an. Gefolgt von mangelnden Kochkünsten, verschwenderischer Haushaltsführung, oder abfälliger Beurteilung der wenigen Freunde und Nachbarn, die Tante Emma im Laufe der Jahre zu Gesicht bekommen hatte.
Routine, nach fast 20 Jahren Emma – Ostern. aber jedes Mal regt es auch Widerspruch in Claudia. Den sie anschließend stumm herunterschluckt.
"Es ist schon halb sieben."
"Ja, Tante Emma, ich weiß."
"Und wo ist dein Mann?"
"Bernd kommt sicher gleich."
"Er ist spät." Claudia kann beinahe hören, wie Tante Emma weitere Sekunden zählt.
"Kommt er öfter so spät?"
"Ja, Immer mal wieder."
"Na, du musst ja wissen, womit du dich zufrieden gibst."
Die ‚du musst es ja wissen’ – Sätze rangieren nur ganz kurz hinter ‚Ich will mich ja nicht einmischen’.
"Er ist nun mal selbständig. Da ist das eben so", rechtfertigt sich Claudia.
"Ja, vielleicht etwas zu selbständig..." Claudia schenkt Kaffee nach.
"Und? Seit wann habt ihr Probleme?"
Noch mehr Kaffee kann sie nicht einschenken. Und auch keine Zuckerwürfel mehr hineinwerfen.
Bernd greift nach der tickenden Bombe, kurz bevor sie detoniert. Mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange kneift er gekonnt den roten Draht durch und verhindert so Schlimmeres.
"Tante Emma! Wie schön, dich schon einen Tag früher bei uns zu begrüßen."
Er ist Friseur, und deshalb in punkto Smalltalk geübt. Beim Lügen wird er nicht mal rot.
"Du siehst wundervoll aus! Wie immer!" Nicht ein bisschen. Und noch nie. Claudia bewundert das jedes Jahr aufs Neue an ihm.
"Bernd, hilfst du mir mal in die Küche?" Halblaute Sätze über verweichlichte Männer und falsches Rollenbild folgen ihnen und bestärken Claudia in ihrer Schilderung der letzten Stunden.
Bernd küsst sie auf die tränennasse Wangen. "Warum tun wir das jedes Jahr wieder?"
"Weil sie eine arme alte Frau ist, und sonst niemanden auf der Welt hat. Und weil Ostern ihr so wichtig ist."
Bernd nickt verständnisvoll, wenn auch, ohne rot zu werden. "Na gut, auf ein Neues!"
"Mama, lass dich nicht so hängen!" Lukas breitet theatralisch die Arme aus, als hinge er am Kreuz. Seine schwarzen Lider flattern effektvoll. Halb lachend, halb die Tränen zurückdrängend, nimmt sie den Topf mit Grünkohl vom Herd und trägt ihn ins Esszimmer hinüber.
"Wo ist deine Schwester?" Tante Emma klingt, als wolle sie Lukas verantwortlich machen. Für was auch immer.
"Hab ich Löcher in den Händen?" Gerade, als Claudia ihn zurechtweisen will, bemerkt sie Bernds Gekicher. Auch gut.
"Also", geht Tante Emma darüber hinweg, "Wo ist sie?"
"Das weiß der liebe Gott..." Diesmal faltet Lukas züchtig die Hände und sieht zu Boden. Bernd feixt. Und Claudia sieht sich wiedereinmal auf verlorenem Posten.
Das Essen ist schon beinahe kalt, als Katja hereinfegt. Sie muss einkaufen gewesen sein, denn als sie den Mantel in die Ecke wirft, kommt ein Rock zum Vorschein, der bestenfalls als Gürtel verkauft werden darf und ein T-Shirt, dass der Beschreibung spottet.
"Tach zusammen!", verkündet sie und lässt sich auf ihren Platz fallen.
"Junge Dame! Was ist denn das für ein Benehmen?" Der tadelnde Blick lässt Katja kalt.
"Hab Hunger!", sie streckt Claudia den Teller entgegen.
"Was für einen Rock trägst du überhaupt? Du bist äußerst liederlich, das muss ich schon sagen."
"Iiiih! Grünpampe!" Sie mag offensichtlich keinen Grünkohl.
"Wo warst du, junge Dame?", setzt Tante Emma das Verhör fort. Claudia wirft Bernd einen besorgten Blick zu. Nicht schon Streit beim ersten Essen.
"Im Internet – Café."
"Wo auch immer. Englisch kann ich nun mal nicht. In der Öffentlichkeit schickt sich ein solcher Rock nicht."
"Auch gut", mit der stoischen Ruhe von Teenagern auf Scheiß – egal – Kurs schaufelt Katja sich Grünkohl in den Mund.
"Und, was machst du in diesem Café?"
"Ich geh online. Fast jeden Tag", nuschelt Katja hinter einem weiteren Löffel Grünkohl. "Was’n sonst!"
"Du tust was?"
"Ich geh online, aber das verstehst du nicht."
"Da hast du Recht, junge Dame! Und du", wendet sie sich an Claudia, "lässt das so einfach zu, ja?"
Claudia zuckt die Schultern, ohne die Aufregung zu verstehen. "Zuhause geht’s halt nicht. Außerdem ist da noch der finanzielle Aspekt."
"Da ist doch nichts dabei", kommt ihr Bernd zur Hilfe. "Sie lernt dabei einen Haufen neuer Leute kennen und hat ihren Spaß. Wär doch schlimmer, wenn sie auf der Straße rumhinge."
"Von dir habe ich auch nichts anderes erwartet! Friseur!"
Ein weiterer Hyperraumsprung hatte sie unvermittelt auf Ebene zwölf katapultiert. Bisher ungekannte Gefilde.
"Mit Menschen wie euch muss ich verwandt sein! Nein, wirklich! Jahrelang opfere ich mein Osterfest, um euch ein bisschen unter die Arme zu greifen. Und ihr schickt eure Tochter... Ich mag es gar nicht aussprechen..." Ruckartig erhebt sie sich.
"Aber jetzt ist es vorbei. Auf meine Unterstützung müsst ihr von nun an verzichten. Darf ich mal telefonieren? Dann kann Margot mich abholen!"
"Wer ist Margot?" Bernd behält seine Logik, wenn auch mit angespanntem Tonfall.
"Meine Tochter!"
"Ihre Tochter?", hallt das Echo der Familie ihr nach, als sie zum Telefon schreitet. "Sie hat eine Tochter?"
"Margot, ich sag’s grade heraus: Hol mich sofort hier ab! Unbedingt. Du machst dir ja keine Vorstellung! Total verkommen. – Ja, wenn ich’s dir doch sage! – Dieser Bernd ist ein Weichling und hat eine Affäre. Vermutlich vom anderen Ufer. Sag ich ja seit Jahren. – Dass Claudia mit den Kindern nicht zurecht kommt, ist jetzt völlig klar. – Der Junge ist ein blasphemischer Satanist und das Mädchen treibt sich halb nackt in einem dieser Cafés rum. Da geht sie on–line. – Ja, so sagen die jungen Dinger heute. Und die Eltern unterstützen das auch noch! – Nein, wenn ich’s dir doch sage! On–line! Auf – den – Strich! Wirklich!"