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Das Erwachen
Die Kälte der Liege war schon seit einigen Stunden in seine Glieder gekrochen, zumindest konnte er sich vor Steifheit nicht richtig bewegen. Arme und Beine schmerzten ihn und allein die Augenlider zu öffnen kostete ihn zuerst große Anstrengung.
Die Luft spannte sich um seine nackte Haut. Oder war er es, der sich spannte? Thomas richtete seinen unbekleideten Oberkörper auf. Als seine Hände die Metallliege berührten zuckte ein Schock durch seine Arme. Hastig rollte er sich ab und kniete nun auf dem grauen Steinboden, inmitten der beengten Zelle. "Wo zum Teufel bin ich?“, keuchte er.
Thomas trug noch immer die Boxershorts, die er am Vorabend angezogen hatte, das einzige, womit er zu Bett gegangen war. Aber dies war nicht sein Bett, dies war nicht sein Zimmer, nicht seine vier Wände, in denen er schlief, die hälfte des Tages verbrachte und sein Zuhause nannte. Thomas war weit davon entfernt.
Der Boden bestand aus aufgereihten Steinklötzen, grob gehauen und nach oben hin stark gewölbt, ganz sicher nicht angenehm darauf zu laufen. Die Wände wuchsen aus dem Boden in die Höhe, wo sie sich zu einer Spitze hin trafen. Von der Seite, aus der die Kälte hereinströmte, trennten eiserne Gitterstäbe eine Steinhalle ab, die im trüb-grünen Licht kaum auszumachen war. Thomas näherte sich den Gittern seines Gefängnisses, wo er sofort aufschreckte und zurückstieß: Dahinter stand ein Mann. Ein sehr großer Mann, er war so groß wie er noch keinen Mann zuvor gesehen hatte. Auch sah er nicht aus wie ein Mann, sondern eher wie ein Affe, mit gequollenen Backen, aufgesetzten Augen und hervorspringenden, runden Lippen, die ihn im Sekundentakt pulsierend anstarrten. Der Mann schien unbekleidet, genau konnte er es nicht sagen, denn eine Reihe von Schuppen zog sich über den ganzen Leib.
„He!, sie da!“, rief Thomas dem Mann hinüber. Es schien so, als sei dieser in seiner aufgebauten Haltung hochgeschreckt. Dann begannen die dicken Lippen sich zu öffnen: „Auf die Liege!“, stieß heraus. Unwillkürlich wollte sich Thomas fügen, sich umdrehen und dem Gestell nähern, da unterbrach ihn der Schuppenmann: „Halt, warte.“, sagte er ruhig, fast so als bereue seinen Befehlston von eben. „Zeige dein Gesicht“.
Mein Gesicht zeigen?, fragte er sich. Thomas hielt sich an den Gitterstäben fest und drückte seinen Kopf daran. Die schwache Lichtquelle, die sich in der Halle befand und in der Luft zuckend umherwaberte beschien seine kahlen Wangen.
„Du bist reichlich seltsam, Fremder.“ Du siehst auch nicht gerade hübsch aus, dachte er.
Thomas verschränkte die Arme. „Kannst du mir sagen wo ich bin?“
„Was ist denn das für eine Frage?“, antwortete der Schuppenmann aufgeregt. „Du weißt nicht wo du bist?“ Seine Schuppen flatterten. „Warte, ich hole den Ratsvorsteher, er wird sich vielleicht mit dir befassen.“ „Mir ist kalt“, rief Thomas hinterher, aber der Mann war schon in weiter Ferne.
Es musste bereits mittag sein, denn Thomas fühlte sich hungrig. Die Zelle war nicht wärmer geworden, aber er hatte sich bereits an die Kälte gewöhnt. Thomas sah hinaus. War es wirklich eine Halle, wie er zuvor gedacht hatte? Lange stand er auf dem kalten Steinboden und blickte in die scheinbare Leere hinaus. Da sah er etwas im staubigen Dunkel herankommen: Eine Figur bildete sich aus dem Staub und näherte sich seiner Zelle. Auf einmal stand ein Mädchen vor ihm am Gitter. Ihre schwarzen Augen blickten ihn auffordernd an. Die dunkle Mähne, die ihr ins schüchterne Gesicht gefallen war, strich sie mit der einen Hand zurück, dann biss sie sich sanft auf die Lippen. "Hallo, Fremder", flüsterte sie.
"Hallo", antwortete Thomas, der noch immer unbekleidet in dem engen Raum stand. Während sie ihn musterte strich sie mit ihren Fingern über das Gittertor.
"Wer bist du", fragte er. "Meine Name ist Stella.", antwortete sie während sie mit der Hand am Gitter auf und ab fuhr "Du bist heute morgen angekommen?"
"So wird es wohl sein", erwiderte Thomas.
"Du hast keine Ahnung wo du bist, habe ich Recht?", fragte sie nun und umfasste die Gitterstäbe mit beiden Händen.
Misstrauisch blickte Thomas in ihre Augen. "Was machst du hier?"
"Ich interessiere mich für Leute wie dich. Wo genau kommst du her?"
"Das ist nicht wichtig. Ich will nur schnell wieder dorthin zurück."
Er verschränkte die Arme vor der Brust. "Ist dir Kalt?", fragte sie entzückt, "neuen Besuchern ist immer kalt hier. Warte, ich hole eine Schnecke, dann wird dir bald wärmer werden."
Stella verschwand in der Finsternis, um kurz darauf mit einem panzerförmigen Etwas zurückzukehren, an dessen unterseite sich ein grünlicher Schimmer ausbreitete. Der zackige Panzer selbst war überzogen mit kleinen Algen und Moosen. Im Licht, das die Schnecke ausstrahlte, konnte er nun Stella deutlicher Erkennen: Sie trug einen Anzug mit tiefem Dekolte, der sich eng an ihren Körper schmiegte. Sie war durchaus hübsch, obwohl ihre Haut einen leicht grünlichen Schein von sich gab. Thomas fasste ihre Hände und zog sie an sich. "Du kannst mir hier heraushelfen."
"Lass sie gehen!", gellte eine Stimme aus der Dunkelheit.
Von einer Seite näherte sich der Schuppenmann, doch er war es nicht, der gesprochen hatte. Die Stimme war viel tiefer und einprägsamer. Dann sah er eine grünsilberne zweispitzige Lanze aufblitzen. Der alte Mann der nur zwei Schritte entfernt war, war etwas kleiner als Thomas und blickte ihn aus beherrschenden Augen an. Die Mundwinkel unter dem wallenden schwarzen Bart schienen nach unten gebogen; als Thomas Stellas Arme losließ, lockerten sie sich.
"Das wollte ich dir nur raten."
"Sie sind der Ratsvorsteher?", fragte Thomas mit ernstem Ausdruck.
"Der bin ich, mein Junge."
"Ich bin nicht ihr Junge."
"Nun, das ist mir vollkommen egal, mein Junge. Du bist verfangen in unserem Netze, du gehörst dieser Stadt."
"Wo zur Hölle bin ich?"
Da begann der Mann schallend zu lachen. Der Schuppenmann und Stella stimmten ebenso mit ein. Das gefiel Thomas gar nicht. Er klammerte sich an das Gitter: "Lassen sie mich auf der Stelle hinaus!", befahl er, doch der alte Mann streckte seine Lanze zu ihm aus.
"Seht nur, seht nur", begann der Alte und blickte zuerst Stella, dann den Wächter an. "Ein Mensch in seiner Zelle, der uns Befehle geben will. Sei gewarnt, junger Mann. Hier hat es noch niemand herausgeschafft. Noch niemals.", sprach er, als hätte er diese Worte schon öfter gebraucht.
"Selbst meine Tochter, die eine Schwäche für die Menschen hat, wird dich nicht hier herausholen können."
Müde blickte Stella zu Boden und trat zwei Schritte zurück.
Die Lanze blinkte aufgeregt in den Händen des Mannes. "Zwar weiß ich nicht, wie du hierherkamst, weder wo dein Heim ist, noch wo du hingehörst, aber das tut hier nichts zur Sache. Glaubtest du wohl, sie würde dich aus dieser Zelle befreien? Wie dumm musst du sein." Es war keine echte Frage gewesen, eher ein Ausruf. Der Alte nahm die Lanze zurück und stieß sie in den Boden. Die Erde verwirbelte staubig um den Schaft herum.
"Wer hat über das zu Entscheiden? Wer entscheidet, wer geht und wer bleibt? Wem bin ich ausgeliefert? Welche Stadt ist das? Ich verstehe das nicht, bitte befreien sie mich aus diesem Gefängnis!"
"Vater, es tut mir leid.", sagte Stella und blickte zu dem Alten auf.
"Deine Schwester wäre enttäuscht von dir. Aber nun gut. Lass uns das Abendessen bereiten." Mit diesen Worten verschwanden die beiden, doch der Schuppenmann blieb.
"Halt! Hilfe!", rief Thomas, doch niemand wollte ihm zuhören. Er sank traurig auf die Knie, legte die Hände auf die Oberschenkel und kauerte in einer Ecke seines Gefängnisses. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es kein Steinboden war.