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Das Flugticket
Die herbstliche Brise kühlte die Promenade. Müde Sonnenstrahlen stahlen sich durch die zerfledderte Wolkendecke und ließen vereinzelte Blätter leuchten.
Eine Frau schlug den Mantelkragen hoch und stemmte ihren hageren Körper gegen den Wind. Bis zu der Bank, die sich an die Rückwand des Kiosks lehnte und ein geschütztes Plätzchen zum Verschnaufen bot, war es nicht mehr weit. Die Frau lächelte, als ihre klammen Finger in der Manteltasche den Brief erfühlten.
Seinen Brief, den sie auf der Bank in aller Ruhe lesen würde – obwohl sie schon wusste, was er enthielt. Die Vorfreude auf die lang ersehnten Zeilen wärmte sie. Ein Rotschimmer färbte ihre Wangen. Mädchenhaft sah das aus, wenngleich niemand – weder die Frau, noch sonst ein Mensch - diese mädchenhafte Röte wahrnahm. Die Promenade strebte menschenleer ins fahle Herbstlicht. Die hagere Frau war nur eine einsame Bleistiftzeichnung vor dem grauen Meer.
Als sie die Bank erreichte, fühlte sie sich fiebrig erschöpft. Das war die Freude über seinen Brief. Sie setzte sich und zog das Kuvert aus der Manteltasche. Am liebsten hätte sie den Umschlag gierig aufgerissen, so sehr sehnte sie sich nach der vertrauten, lang entbehrten Handschrift, aber sie bezwang die Gier. Alles sollte ein Fest werden, vom Öffnen des Briefes bis zum Lesen der geliebten Unterschrift. Zunächst glitten ihre Augen über die Adresse:
Maria Kremer – Holthusenstraße 25. Das war ihre Adresse und zugleich der Beweis, dass der Brief an sie gerichtet war. Sie wendete den Umschlag und überflog zum hundersten Mal den Absender – Marco Kremer - und dann eine geheimnisvoll fremdartige Anschrift in New York.
Sie schloss die Augen. Sie würde New York sehen! Die Hochhäuser – Manhattan – das Empire State Building – Ground Zero – all die Orte, die sie nur aus Fernsehsendungen und den Nachrichten kannte. Alles, alles würde sie gemeinsam mit Marco erkunden!
Sie seufzte im Vorgefühl dieses Glückes.
Vorsichtig, um den Umschlag und die bunte Briefmarke nicht zu beschädigen, öffnete sie das Kuvert. Es enthielt – sie wusste es längst – Marcos Brief und das kostbare Flugticket. Zitternd fingerte sie ein dünnes, zweifach gefaltetes Blatt hervor. Da war die seit langem versprochene Einladung. Das Flugticket steckte noch im Kuvert.
In diesem Jahr würde sie über Weihnachten zu ihrem Sohn und dessen Frau in die Vereinigten Staaten reisen. Und sie würde endlich den Enkel kennen lernen, Simon ...
Bevor sie den Brief las, wollte sie noch einmal einen Blick auf den Jungen werfen. Aus ihrer schäbigen Handtasche zog sie das abgegriffene Foto, das Marco ihr bei seinem letzten Besuch geschenkt hatte. Es zeigte eine lächelnde, blonde Frau, die einen Säugling im Arm hielt. Viel war von dem kleinen Wesen nicht zu erkennen; ein Zipfel der Decke, in die es gewickelt war, verdeckte den größten Teil seines Gesichtes. Aber sie wusste, dass er Marco wie aus dem Gesicht geschnitten war. Als Mutter fühlte sie das. Simon hatte Marcos graue Augen und das kleine Grübchen am Kinn. Das Foto war vier Jahre alt. Im nächsten Frühjahr wurde Simon fünf. Wenn sie ihn Weihnachten kennen lernen würde, dann würde er schon ein richtiger kleiner Mann sein. Er würde sich sehr verändert haben, aber sie war sicher, dass sie den Enkel unter Tausenden herausfinden würde.
Die Hände mit Foto und Brief sanken in ihren Schoß.
Sie musste an Marcos Besuch vor vier Jahren denken. An das Wiedersehen nach fünfzehn schmerzhaften Jahren, in denen sie nie mehr als eine Postkarte oder einen Telefonanruf erhalten hatte. Sie nahm dem Jungen seine schweigende Abwesenheit nicht übel. Sie verstand, dass er auf und davon gegangen war, nach allem, was in seiner Kindheit geschehen war.
Schmerzhaft klar stand der Abend vor ihrem inneren Auge, an dem der siebzehnjährige Sohn für immer die elterliche Wohnung verlassen hatte.
An diesem Abend war sie müde und ausgelaugt von ihrem Putzjob nach Hause gekommen und hatte nichtsahnend die Haustür aufgeschlossen. Nichtsahnend! Sie begriff bis heute nicht, wieso sie, die immer auf der Hut war, gerade an diesem Abend völlig unvorbereitet die Küche betrat. Es war alles wahnsinnig schnell gegangen. Sie hatte ihren Mann, dessen soßenbekleckertes Unterhemd seinen feisten Bierbauch nur notdürftig verhüllte, schwankend aufstehen sehen. Dann explodierte ein heißer Schmerz in ihrem linken Ohr und sie stürzte zu Boden, wobei sie mit dem Hinterkopf auf die Arbeitsplatte neben der Spüle knallte. Als sie wieder zu sich kam, schmerzte nicht nur ihr Kopf. In ihrem Bauch drehten sich glühende Messer. Das war ein vertrautes Gefühl. Er hatte sie wieder getreten. Das tat er oft, besonders wenn er völlig betrunken war. Zutreten war dann für ihn viel einfacher – er musste sich dafür nicht bücken, eine Bewegung, die häufig dazu führte, dass er das Gleichgewicht verlor.
Als sie die Augen öffnete und aus der gnädigen Dunkelheit in die gleißende Welt der Schmerzen tauchte, sah sie ihren Sohn. Er kniete neben ihr und aus seiner geschwollenen Nase tropfte Blut. Die väterliche Wut hatte ihn nicht ungeschoren gelassen. Der arme Junge. Mit einem schnellen Blick vergewisserte sie sich, dass ihr Peiniger verschwunden war. Marco hatte wohl ihren angstvoll suchenden Blick gesehen.
„Er ist in der Kneipe!“, stieß er zwischen den Zähnen hervor.
„Gott sei Dank!“, seufzte sie und strich dem Jungen über das Gesicht. „Warte, ich seh mir deine Nase gleich mal an.“ Mit diesen Worten wollte sie sich aufrichten, doch der Sohn ließ es nicht zu. Er packte mit beiden Fäusten brutal ihre Handgelenke und hielt sie fest.
„Du musst ihn verlassen! Heute! Auf der Stelle!“, hatte er verlangt. „Wir packen und hauen ab. Es reicht!“
Sie strich den kostbaren Briefbogen in ihrem Schoß glatt und legte Simons Foto in seine Mitte.
Sie hatte damals nicht auf Marco gehört. Sie hatte dem Sohn erklärt, dass sie mit dem Vater reden würde. Er würde sich bestimmt ändern. Sie hatte Marco gebeten, dem Vater noch eine letzte Chance zu geben. Sie hatte um einen Waffenstillstand gefleht. Marcos Gesicht war versteinert. Bitter hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass er gehen würde. Egal ob sie mitkäme oder nicht. Sie hatte es nicht glauben können. Marco würde gehen und sie ... Unfähig zu denken oder zu handeln, hatte sie mit schmerzendem Kopf am Küchentisch gesessen und wie gelähmt zugesehen, wie der Siebzehnjährige einen Rucksack mit dem Nötigsten voll stopfte.
Bevor der Sohn die Wohnung verlassen hatte, hatte sie nach der alten Zuckerdose auf dem Küchenbord gegriffen, in der sie immer ein paar Mark für Notfälle aufbewahrte. Sie hatte dem Jungen ihr Erspartes geben wollen, aber die Dose war leer gewesen.
„Der Scheißkerl schlägt dich halb tot, er klaut dir dein Geld und was machst du – du bleibst bei ihm!“
Noch Jahre später schrillten Marcos letzte Worte in ihren Ohren.
Die Haustür war mit einem dumpfen Knall ins Schloss gefallen und das Leben stand still. Fünfzehn Jahre lang hatte sich nichts mehr verändert. Bewegungslos, beinahe statisch, hatte sie gewartet. Das stimmte nicht. Sie musste sich korrigieren. Etwas hatte sich geändert. Zehn Jahre nachdem sie den Sohn verloren hatte, starb der Mann. Leberversagen. Das bedeutete: keine Schläge mehr, keine Schmerzen. – Sie hatte es kaum registriert. Sie war zu abgestumpft.
Aber dann war Marco zu ihr zurückgekehrt! Er war auf einer Geschäftsreise gewesen und zufällig durch seine Geburtsstadt gefahren. Er hatte geklingelt und plötzlich vor ihr gestanden.
Dieser Nachmittag war der schönste Augenblick in ihrem Leben gewesen. Nie, nie, nie würde sie diesen Tag vergessen. Marco war wortkarg gewesen, aber sie hatte das verstanden – fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit, man entfernt sich von einander. Junge Menschen verändern sich ... Er sah gesund aus. Es ging ihm gut. Und er hatte sie nicht vergessen. Er war zu ihr gekommen, hatte an der Wohnungstür seiner Kindheit geläutet und sie, auf dem alten Sofa sitzend, forschend betrachtet. Was wollte sie mehr?
Auf ihre Fragen hatte er ihr von seiner Frau und von Simon erzählt, in wenigen dürren Worten. Er hatte sogar ein Foto der beiden aus der Brieftasche gezogen und es ihr geschenkt.
Viel Zeit war ihr damals nicht geblieben, den lang Verschollenen für sich wieder zu entdecken. Seine Pflichten riefen. Die Termine drängten und er hatte sein Rückflugticket schon in der Tasche. Er ging mit dem Versprechen, sie für einen längeren Aufenthalt zu sich und seiner Familie nach New York zu holen.
Vier Jahre hatte sie geduldig auf die Einlösung seines Versprechens gewartet. All die Postkarten, die sie in dieser Zeit erhielt, zum Geburtstag und zu Festtagen - Weihnachten, Muttertag und Ostern - hatten ihre Sehnsucht schmerzhaft gesteigert.
Und nun hielt sie das langersehnte Flugticket in der Hand. Sie konnte seine stabilen Konturen im Briefumschlag genau fühlen.
Sie las die wenigen Zeilen, die Marco ihr diesmal schrieb. Er gratulierte zu ihrem Geburtstag, den er leider verschwitzt hatte ... Sie lächelte. Was machte das. Er schrieb ja jetzt und schickte das Flugticket – was waren dagegen Geburtstagsglückwünsche, die pünktlich kamen?
Sie erstarrte. Da hatte sie wohl etwas nicht richtig verstanden. Sie las den letzten Satz noch einmal: „ ... dachten wir uns, dass diese Reise zu aufregend für dich werden würde. Schließlich ist dein Herz nicht mehr das gesündeste und so ein Transatlantik-Flug doch eine ziemliche Belastung. Deshalb halten wir es für das Beste, wenn du deine Reise verschiebst. Möglicherweise werden wir im Sommer nächsten Jahres nach Deutschland kommen. Dann könntest du Jenny und Simon ja immer noch kennen lernen.“
Das konnte nur ein Scherz sein! Sie hatte doch das Flugticket bereits ganz deutlich gefühlt! Es steckte in dem Umschlag, da war sie sich ganz sicher. Das war wieder typisch für Marco. Schon als kleiner Junge hatte er sie immer wieder angeführt und sie war jedes Mal darauf hereingefallen. Ein befreiendes, gemeinsames Gelächter hatte dann die Spannung gelöst.
Mit einem zuversichtlichen Lächeln zog sie das Flugticket aus dem Briefumschlag. Es waren zwei. Zwei? Aber ja, Marco hatte bereits an den Rückflug gedacht. Natürlich. Sie konnte wohl kaum bis an ihr Lebensende in Amerika bleiben. Gespannt, wann sie die große Reise antreten würde, las sie: „25 Euro, Gutschein, Fleurop ...“
die vorgegebenen Wörter waren: Bierbauch, zerfleddern, Promenade, statisch, Waffenstillstand