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Das Flugticket

Seniors
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17.09.2002
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Das Flugticket

Die herbstliche Brise kühlte die Promenade. Müde Sonnenstrahlen stahlen sich durch die zerfledderte Wolkendecke und ließen vereinzelte Blätter leuchten.
Eine Frau schlug den Mantelkragen hoch und stemmte ihren hageren Körper gegen den Wind. Bis zu der Bank, die sich an die Rückwand des Kiosks lehnte und ein geschütztes Plätzchen zum Verschnaufen bot, war es nicht mehr weit. Die Frau lächelte, als ihre klammen Finger in der Manteltasche den Brief erfühlten.
Seinen Brief, den sie auf der Bank in aller Ruhe lesen würde – obwohl sie schon wusste, was er enthielt. Die Vorfreude auf die lang ersehnten Zeilen wärmte sie. Ein Rotschimmer färbte ihre Wangen. Mädchenhaft sah das aus, wenngleich niemand – weder die Frau, noch sonst ein Mensch - diese mädchenhafte Röte wahrnahm. Die Promenade strebte menschenleer ins fahle Herbstlicht. Die hagere Frau war nur eine einsame Bleistiftzeichnung vor dem grauen Meer.
Als sie die Bank erreichte, fühlte sie sich fiebrig erschöpft. Das war die Freude über seinen Brief. Sie setzte sich und zog das Kuvert aus der Manteltasche. Am liebsten hätte sie den Umschlag gierig aufgerissen, so sehr sehnte sie sich nach der vertrauten, lang entbehrten Handschrift, aber sie bezwang die Gier. Alles sollte ein Fest werden, vom Öffnen des Briefes bis zum Lesen der geliebten Unterschrift. Zunächst glitten ihre Augen über die Adresse:
Maria Kremer – Holthusenstraße 25. Das war ihre Adresse und zugleich der Beweis, dass der Brief an sie gerichtet war. Sie wendete den Umschlag und überflog zum hundersten Mal den Absender – Marco Kremer - und dann eine geheimnisvoll fremdartige Anschrift in New York.
Sie schloss die Augen. Sie würde New York sehen! Die Hochhäuser – Manhattan – das Empire State Building – Ground Zero – all die Orte, die sie nur aus Fernsehsendungen und den Nachrichten kannte. Alles, alles würde sie gemeinsam mit Marco erkunden!
Sie seufzte im Vorgefühl dieses Glückes.
Vorsichtig, um den Umschlag und die bunte Briefmarke nicht zu beschädigen, öffnete sie das Kuvert. Es enthielt – sie wusste es längst – Marcos Brief und das kostbare Flugticket. Zitternd fingerte sie ein dünnes, zweifach gefaltetes Blatt hervor. Da war die seit langem versprochene Einladung. Das Flugticket steckte noch im Kuvert.
In diesem Jahr würde sie über Weihnachten zu ihrem Sohn und dessen Frau in die Vereinigten Staaten reisen. Und sie würde endlich den Enkel kennen lernen, Simon ...
Bevor sie den Brief las, wollte sie noch einmal einen Blick auf den Jungen werfen. Aus ihrer schäbigen Handtasche zog sie das abgegriffene Foto, das Marco ihr bei seinem letzten Besuch geschenkt hatte. Es zeigte eine lächelnde, blonde Frau, die einen Säugling im Arm hielt. Viel war von dem kleinen Wesen nicht zu erkennen; ein Zipfel der Decke, in die es gewickelt war, verdeckte den größten Teil seines Gesichtes. Aber sie wusste, dass er Marco wie aus dem Gesicht geschnitten war. Als Mutter fühlte sie das. Simon hatte Marcos graue Augen und das kleine Grübchen am Kinn. Das Foto war vier Jahre alt. Im nächsten Frühjahr wurde Simon fünf. Wenn sie ihn Weihnachten kennen lernen würde, dann würde er schon ein richtiger kleiner Mann sein. Er würde sich sehr verändert haben, aber sie war sicher, dass sie den Enkel unter Tausenden herausfinden würde.

Die Hände mit Foto und Brief sanken in ihren Schoß.

Sie musste an Marcos Besuch vor vier Jahren denken. An das Wiedersehen nach fünfzehn schmerzhaften Jahren, in denen sie nie mehr als eine Postkarte oder einen Telefonanruf erhalten hatte. Sie nahm dem Jungen seine schweigende Abwesenheit nicht übel. Sie verstand, dass er auf und davon gegangen war, nach allem, was in seiner Kindheit geschehen war.
Schmerzhaft klar stand der Abend vor ihrem inneren Auge, an dem der siebzehnjährige Sohn für immer die elterliche Wohnung verlassen hatte.

An diesem Abend war sie müde und ausgelaugt von ihrem Putzjob nach Hause gekommen und hatte nichtsahnend die Haustür aufgeschlossen. Nichtsahnend! Sie begriff bis heute nicht, wieso sie, die immer auf der Hut war, gerade an diesem Abend völlig unvorbereitet die Küche betrat. Es war alles wahnsinnig schnell gegangen. Sie hatte ihren Mann, dessen soßenbekleckertes Unterhemd seinen feisten Bierbauch nur notdürftig verhüllte, schwankend aufstehen sehen. Dann explodierte ein heißer Schmerz in ihrem linken Ohr und sie stürzte zu Boden, wobei sie mit dem Hinterkopf auf die Arbeitsplatte neben der Spüle knallte. Als sie wieder zu sich kam, schmerzte nicht nur ihr Kopf. In ihrem Bauch drehten sich glühende Messer. Das war ein vertrautes Gefühl. Er hatte sie wieder getreten. Das tat er oft, besonders wenn er völlig betrunken war. Zutreten war dann für ihn viel einfacher – er musste sich dafür nicht bücken, eine Bewegung, die häufig dazu führte, dass er das Gleichgewicht verlor.
Als sie die Augen öffnete und aus der gnädigen Dunkelheit in die gleißende Welt der Schmerzen tauchte, sah sie ihren Sohn. Er kniete neben ihr und aus seiner geschwollenen Nase tropfte Blut. Die väterliche Wut hatte ihn nicht ungeschoren gelassen. Der arme Junge. Mit einem schnellen Blick vergewisserte sie sich, dass ihr Peiniger verschwunden war. Marco hatte wohl ihren angstvoll suchenden Blick gesehen.
„Er ist in der Kneipe!“, stieß er zwischen den Zähnen hervor.
„Gott sei Dank!“, seufzte sie und strich dem Jungen über das Gesicht. „Warte, ich seh mir deine Nase gleich mal an.“ Mit diesen Worten wollte sie sich aufrichten, doch der Sohn ließ es nicht zu. Er packte mit beiden Fäusten brutal ihre Handgelenke und hielt sie fest.
„Du musst ihn verlassen! Heute! Auf der Stelle!“, hatte er verlangt. „Wir packen und hauen ab. Es reicht!“

Sie strich den kostbaren Briefbogen in ihrem Schoß glatt und legte Simons Foto in seine Mitte.

Sie hatte damals nicht auf Marco gehört. Sie hatte dem Sohn erklärt, dass sie mit dem Vater reden würde. Er würde sich bestimmt ändern. Sie hatte Marco gebeten, dem Vater noch eine letzte Chance zu geben. Sie hatte um einen Waffenstillstand gefleht. Marcos Gesicht war versteinert. Bitter hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass er gehen würde. Egal ob sie mitkäme oder nicht. Sie hatte es nicht glauben können. Marco würde gehen und sie ... Unfähig zu denken oder zu handeln, hatte sie mit schmerzendem Kopf am Küchentisch gesessen und wie gelähmt zugesehen, wie der Siebzehnjährige einen Rucksack mit dem Nötigsten voll stopfte.
Bevor der Sohn die Wohnung verlassen hatte, hatte sie nach der alten Zuckerdose auf dem Küchenbord gegriffen, in der sie immer ein paar Mark für Notfälle aufbewahrte. Sie hatte dem Jungen ihr Erspartes geben wollen, aber die Dose war leer gewesen.
„Der Scheißkerl schlägt dich halb tot, er klaut dir dein Geld und was machst du – du bleibst bei ihm!“
Noch Jahre später schrillten Marcos letzte Worte in ihren Ohren.

Die Haustür war mit einem dumpfen Knall ins Schloss gefallen und das Leben stand still. Fünfzehn Jahre lang hatte sich nichts mehr verändert. Bewegungslos, beinahe statisch, hatte sie gewartet. Das stimmte nicht. Sie musste sich korrigieren. Etwas hatte sich geändert. Zehn Jahre nachdem sie den Sohn verloren hatte, starb der Mann. Leberversagen. Das bedeutete: keine Schläge mehr, keine Schmerzen. – Sie hatte es kaum registriert. Sie war zu abgestumpft.
Aber dann war Marco zu ihr zurückgekehrt! Er war auf einer Geschäftsreise gewesen und zufällig durch seine Geburtsstadt gefahren. Er hatte geklingelt und plötzlich vor ihr gestanden.

Dieser Nachmittag war der schönste Augenblick in ihrem Leben gewesen. Nie, nie, nie würde sie diesen Tag vergessen. Marco war wortkarg gewesen, aber sie hatte das verstanden – fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit, man entfernt sich von einander. Junge Menschen verändern sich ... Er sah gesund aus. Es ging ihm gut. Und er hatte sie nicht vergessen. Er war zu ihr gekommen, hatte an der Wohnungstür seiner Kindheit geläutet und sie, auf dem alten Sofa sitzend, forschend betrachtet. Was wollte sie mehr?

Auf ihre Fragen hatte er ihr von seiner Frau und von Simon erzählt, in wenigen dürren Worten. Er hatte sogar ein Foto der beiden aus der Brieftasche gezogen und es ihr geschenkt.
Viel Zeit war ihr damals nicht geblieben, den lang Verschollenen für sich wieder zu entdecken. Seine Pflichten riefen. Die Termine drängten und er hatte sein Rückflugticket schon in der Tasche. Er ging mit dem Versprechen, sie für einen längeren Aufenthalt zu sich und seiner Familie nach New York zu holen.

Vier Jahre hatte sie geduldig auf die Einlösung seines Versprechens gewartet. All die Postkarten, die sie in dieser Zeit erhielt, zum Geburtstag und zu Festtagen - Weihnachten, Muttertag und Ostern - hatten ihre Sehnsucht schmerzhaft gesteigert.

Und nun hielt sie das langersehnte Flugticket in der Hand. Sie konnte seine stabilen Konturen im Briefumschlag genau fühlen.

Sie las die wenigen Zeilen, die Marco ihr diesmal schrieb. Er gratulierte zu ihrem Geburtstag, den er leider verschwitzt hatte ... Sie lächelte. Was machte das. Er schrieb ja jetzt und schickte das Flugticket – was waren dagegen Geburtstagsglückwünsche, die pünktlich kamen?
Sie erstarrte. Da hatte sie wohl etwas nicht richtig verstanden. Sie las den letzten Satz noch einmal: „ ... dachten wir uns, dass diese Reise zu aufregend für dich werden würde. Schließlich ist dein Herz nicht mehr das gesündeste und so ein Transatlantik-Flug doch eine ziemliche Belastung. Deshalb halten wir es für das Beste, wenn du deine Reise verschiebst. Möglicherweise werden wir im Sommer nächsten Jahres nach Deutschland kommen. Dann könntest du Jenny und Simon ja immer noch kennen lernen.“

Das konnte nur ein Scherz sein! Sie hatte doch das Flugticket bereits ganz deutlich gefühlt! Es steckte in dem Umschlag, da war sie sich ganz sicher. Das war wieder typisch für Marco. Schon als kleiner Junge hatte er sie immer wieder angeführt und sie war jedes Mal darauf hereingefallen. Ein befreiendes, gemeinsames Gelächter hatte dann die Spannung gelöst.

Mit einem zuversichtlichen Lächeln zog sie das Flugticket aus dem Briefumschlag. Es waren zwei. Zwei? Aber ja, Marco hatte bereits an den Rückflug gedacht. Natürlich. Sie konnte wohl kaum bis an ihr Lebensende in Amerika bleiben. Gespannt, wann sie die große Reise antreten würde, las sie: „25 Euro, Gutschein, Fleurop ...“

die vorgegebenen Wörter waren: Bierbauch, zerfleddern, Promenade, statisch, Waffenstillstand

 

Liebe Barbara!

Wieder einmal eine sehr schöne Geschichte aus Deiner Feder, bei der es Dir ausgesprochen gut gelingt, mich mit der Protagonistin mitfühlen zu lassen. Um nicht zu viel zu verraten: Das Gefühl, das die Protagonistin am Schluß wohl hat, muß dem, das Du im Satz "Das war ein vertrautes Gefühl" meinst, sehr ähnlich sein...

Weder im Aufbau noch stilistisch hab ich was zu meckern, nur drei Kleinigkeiten:

"nur eine einsame Bleistiftzeichnung vor dem grauem Meer."
- vor dem grauen Meer

"einen etwa halbjährigen Säugling"
- würde es beim Säugling belassen, ohne weitere Altersangabe (Säugling ist "Alter" genug), da sich sonst die Frage stellt: Ist ein Baby mit einem halben Jahr noch ein Säugling? Oder vielleicht statt "Säugling" "Baby"? ;)

"Die Postkarten, die sie in dieser Zeit erhielt – zum Geburtstag und zu Festtagen (Weihnachten, Muttertag, Ostern), hatten ihre Sehnsucht schmerzhaft gesteigert."
- würde die Festtage nicht in Klammer schreiben, sondern einfach aufzählen, es soll ja eigentlich gesagt werden, daß es viele waren, oder?, dann wirkt eine in den Satz eingebaute statt in Klammer geschriebene Aufzählung mehr, eventuell sogar noch ein "All" an den Anfang?: All die Postkarten, ...

Hat mir jedenfalls gut gefallen. :)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hi al-dente,

eine Geschichte, die einen, traurig, wütend und ratlos macht.

Was hat man dieser Frau angetan.
Aber was hat sie sich antun lassen?
Ich weiß nicht, ob es an der Erziehung liegt, an den Genen oder an dem mutigen Herz, das man von irgendwoher mitbekommen hat, oder auch nicht.

Wie ist es zu erklären, dass manche Frauen immer nur leiden, unterwürfig dienen, mit Füssen getreten werden, körperlich wie auch seelich?
Das macht mich traurig. :(
Wo kommen diese seelichen "Mißgeburten" her, die sich wie Tiere benehmen?
Das macht mich wütend. :gunfire:
Warum wehren sich diese Frauen nicht? Lassen sich nicht helfen?
Das macht mich ratlos. :confused:

Hat der Sohn deiner Prot, ihr nicht verziehen, dass sie ihn mit 17 alleine gelassen hat? Hat er, als kämpfendes Herz, die Achtung vor seiner Mutter verloren?
Irgendwie könnte ich es verstehen. Denn jeder ist seines Glückes Schmied.
Trotzdem ist sein Verhalten nicht in Ordnung.
Aber kann ich wirklich Mitleid mit deiner Prot haben?
Sie hätte sich befreien können.
Warum hat sie es nicht getan?
Es tut mir leid, aber so etwas begreife ich nicht.
Aber vielleicht muß es solche Frauen geben, damit Tyrannen existieren können.
Du siehst, deine KG wirft Emotionen in mir auf.

ganz lieben Gruß, coleratio

 

Hallo Ihr drei,

vielen Dank für Eure ausführlichen Kommentare. Ganz besonders geht mein Dank an Dich Marius - Du hast Dir ja wirklich eine Menge Arbeit gemacht.

Leider habe ich im Augenblick sehr wenig Zeit ...

Ich verspreche, dass ich mich ab Montag mit den nötigen Änderungen befassen werde!

Ich bin froh, dass Euch die Geschichte gefallen hat, zumindest im Ansatz ...

Liebe Grüße
al-dente

 

Hi Jynx,

es tut mir Leid, dass ich erst jetzt auf Deinen Kommentar antworte. Ich hatte und habe so viel um die Ohren, dass ich kaum hier auf KG.DE bin. Ich freue mich, dass Dir die Geschichte, wenn auch nicht ohne Einschränkungen, gefallen hat. Du hast recht: Der Prügelalki ist ein Klischee. Ich werde darüber noch nachdenken ... Was mich besonders gefreut hat, ist, dass Du das Ende genauso verstanden hast, wie es von mir gemeint war :).

Bei Deinen drei "Vorkommentatoren" entschuldige ich mich, dass ich noch nicht die Zeit fand, auf ihre Vorschläge und Anmerkungen einzugehen, aber ich vermute, dass es mir auch in der nächsten Zeit nicht möglich sein wird.

Liebe Grüße an Euch Vier
al-dente

 

Hallo Al-Dente,

deine Geschichte hat mich sehr traurig gemacht.

Die Enttäuschung der Mutter, dass sie ihren Sohn nun doch nicht mehr besuchen kann. Gleichzeitig wird man auch wütend auf sie, weil sie nur tatenlos herumsitzt und alles mit sich geschehen lässt.
Denoch konnte ich die Prot. sehr gut verstehen.

Einen Kritikpunkt jedoch habe ich: Der Mittelteil, als die Prot. an die Geschehnisse des besagten Abends denkt, kommt mir ein wenig zu distanziert vor. Ich habe die Kommentare der anderen gelesen und stelle fest, dass ich mit meiner Meinung offensichtlich alleine dastehe. Ich wusste zunächst nicht, ob ich es denoch schreiben soll, aber ich denke auch solche Meinungen sind für einen Autor wichtig.
Ich konnte gefühlsmäßig nicht auf die Szene einsteigen, weil sie mir ein bißchen zu runtererzählt war. Ich denke mit mehr wörtlichen Reden könntest du hier mehr Emotionalität erzeugen.

Ansonsten eine sehr schöne Geschichte. Ich glaube ich sollte des Öfteren etwas aus der "Wörterbörse" lesen.

LG
Bella

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Bella,

auch Dir vielen Dank fürs Lesen und die kritischen Worte. Ich werde ganz sicher auch über den Mittelteil nachdenken, wenn ich irgendwann mal wieder Zeit dafür finde. Versprochen! Es kann aber ein Weilchen dauern ...

@ Häferl, Marius Manis, coleratio und Jynx
bin leider immer noch so eingespannt, dass mir keine Zeit bleibt, wieder an der Geschichte zu arbeiten ...

Lieben Gruß
al-dente

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo!

Die Geschichte lebt von drei Personen: Vater, Mutter und Sohn. Ich möchte mal aus meiner Sicht zu den einzelnen Personen Stellung beziehen:

Der Vater
Er ist eine sehr eindimensionale Figur, und das passt auch so in dieser Geschichte. Um ihn geht es hier schließlich nicht. Natürlich kann man sich fragen: Warum säuft er? Warum schlägt er Frau und Kind? Bereut er es, dass er sie schlägt? Aber wie gesagt: Um ihn geht es hier nicht, also brauchen solche Fragen in der Geschichte auch nicht behandelt zu werden.
Coleratio fragt sich, wo solche seelischen Missgeburten herkommen, aber ich denke mir, dass es durchaus sein kann, dass er gar keine Missgeburt ist. Man kennt ihn einfach zu wenig, aber man muss ihn für diese Geschichte auch gar nicht besser kennen.

Die Mutter
Irgendjemand hat sich gefragt, warum diese Frau diesen Mann nicht einfach verlässt. Stattdessen frage ich mich, warum sie sich überhaupt auf diesen Mann eingelassen hat. Warum hat sie ihn geheiratet (ich gehe mal davon aus, dass sie verheiratet sind)? Sie muss ihn ja wohl zumindest damals geliebt haben. Also kann er zumindest nicht von Geburt an eine Bestie gewesen sein.
Ich kann ihre Entscheidung, sich nicht von ihm zu trennen, gut nachvollziehen, jedenfalls besser als die Entscheidung des Sohnes, die Eltern zu verlassen.
Dazu muss ich sagen, dass ich selbst einen Vater hatte, der mich geschlagen hat. Er war kein Säufer, sondern war und ist ein überall angesehener Mann, mit einem großen Freundeskreis, der aus lauter zivilisierten und ebenso angesehenen Leuten besteht. Und aus irgend einem unerfindlichen Grund hat er weder meine Mutter noch meine Schwester, sondern nur mich (und später gelegentlich meinen Neffen) geschlagen. Ich hatte damals einfach nicht dem Mut, von zuhause wegzugehen. Ich war immerhin schon 27 Jahre alt, als ich es endlich schaffte und von zuhause auszog.
Ich kann also sehr gut verstehen, dass man es nicht schafft wegzugehen, einfach aus der irrealen Angst heraus, eingeholt und dann noch stärker verprügelt zu werden. Die Mutter will diesem Menschen ganz einfach keinen Grund für weitere Schläge geben, und ihn verlassen zu wollen wäre wohl ein sehr triftiger Grund für sehr kräftige Schläge. Daher wird sie möglicherweise nicht einmal den Mut gehabt haben, über Flucht ernsthaft nachzudenken.
Sehr gut kann ich auch den Schmerz nachvollziehen, denn die Mutter erlebt hat, als sie das vermeintliche Flugticket als einen billigen Gutschein erkannt hat. Das muss eine ganz ganz bittere und sehr schmerzhafte Enttäuschung für sie gewesen sein, weil ihr spätesatens jetzt klar geworden sein muss, dass ihr der eigene Sohn keine Liebe entgegenbringt, sondern sie weiterhin allein lässt, so wie er sie damals, vor fünfzehn Jahren mit diesem Monster von Mann allein gelassen hat.

Der Sohn
Wenn der Vate wirklich so ein Scheusal war, verstehe ich zwar sehr gut, dass der Sohn den Wunsch hatte, von daheim abzuhauen. Aber jemand, der schon als Kind ständig geschlagen wird, hat für gewöhnlich nicht den Mut, das wirklich durchzuziehen, schon gar nicht alleine. Um von daheim auszuziehen braucht man vor allem genügend Selbstvertrauen, und das wird sein Vater aber vermutlich sehr wirksam aus ihm herausgeprügelt haben. - Ich projiziere da natürlich wieder meine eigene Vergangenheit hinein. Jedenfalls ist für mich der Auszug des siebzehnjährigen Sohnes, der diesen Schritt ganz allein unternimmt, der unglaubwürdigste Teil der ganzen Geschichte.
Sehr viel besser nachvollziehen kann ich hingegen seine, auf die Flucht folgende, jahrelange Abwendung von Vater UND Mutter, selbst nach dem Tod des Vaters.
Ein Kind darf sich von seinen Eltern erwarten, beschützt zu werden. Wenn ein Elternteil dieses Urvertrauen eines jeden Kindes verletzt, und selbst zu einer Bedrohung für das Kind wird, dann wird sich das Kind vom anderen Elternteil umso eindringlicheren Schutz erhoffen. Da in dieser Geschichte die Mutter es aber weder geschafft hat, den Vater dauerhaft davon abzuhalten das Kind zu schlagen, noch Vater und Kind auf Dauer voneinander zu trennen, sondern da sie es, aus welchen Gründen auch immer, zugelassen hat, dass das Kind vom Vater jahrelang geschlagen wird, wird auch der Sohn schon im frühen Kindesalter seine emotionalen Bindungen an seine Mutter auf ein Minimum reduziert haben. Er hat sich vermutlich ganz einfach vom Rest der bösen Welt abgekapselt, und zu niemandem tiefe Gefühle aufgebaut, denn auch für Kinder gilt, dass körperliche Schläge niemals so weh tun können, wie von jemanden den man liebt in Stich gelassen zu werden.
Als er dann endlich den befreienden Schritt getan hat, und das Elternhaus weit hinter sich gelassen hat, bestand bei ihm auch kein Bedarf mehr, an Vater und Mutter erinnert zu werden. Jeder Kontakt mit der Mutter würde sofort die Wunden, die der Vater geschlagen hat, wieder aufreißen lassen. Außerderdem kann er es seiner Mutter möglicherweise auch nicht verzeihen, dass sie ihn als Kind nicht genügend beschützt hat.
Daher kann ich auch sehr gut nachvollziehen (aber nicht unbedingt gutheißen), dass der Sohn seiner Mutter eben kein Flugticket, sondern nur einen Blumengutschein geschickt hat.


Insgesamt finde ich die Geschichte sehr gut geschrieben, und sie hat mich sehr zum Nachdenken angeregt. Und das, obwohl ich eigentlich solche "Milieu-Studien" überhaupt nicht mag. Ich lese nämlich nicht gern davon, dass es anderen Menschen schlecht geht.


Liebe Grüße
Hubert

 

Hallo Hubert,

es freut mich, dass meine Geschichte Dich so berührt hat, dass Du Dich so ausführlich mit ihr befasst hast. Vielen Dank für Deine ausführliche Kritik. :)

Herzlichen Gruß
al-dente

 

Hallo Barbara,

welch böses Ende. Die Enttäuschung ist spürbar und irgendwie begleitet die ganze Geschichte eine Atmosphäre der Hoffnung, die nur enttäuscht werden konnte. Obwohl ich es geahnt habe, trug ich beim Lesen die Hoffnung in mir, sie könnte fliegen. Aber die Grenze zwischen Mutter und Sohn wird zu hoch sein. Ein Besuch am Nachmittag löst nciht die Wut des Sohnes, der vor den Schlägen des Vaters durch sie nur notdürftig geschützt wurde. Ihr Bleiben wird er als Verrat empfunden haben. Sie hat sich dem Vater gegenüber nie als mündig gezeigt, hat sich alles gefallen lassen, wundert es da, wenn der Sohn jetzt ohne sie zu fragen für sie entscheidet?
Deine Geschichte hat mir gefallen und nachdem mir zu den iedentischen Wörtern ja "Zuversicht" eingefallen ist, finde ich es immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich die Geschichten zu solchen Vorgaben sein können.

Ein paar Details noch:

oder einen Telephonanruf erhalten hatte.
in neuer Rechtschreibung, sieht das ph recht komisch aus.
Schmerzhaft klar stand der Abend vor ihren inneren Augen,
vor ihrem
Egal ob sie mitkam oder nicht.
Meines Erachtens "mitkäme"
Er hatte sich zu Tode gesoffen.
Ich finde der Hinweis auf das Leberversagen reicht vollkommen aus.

Lieben Gruß, sim

 

Hi sim,

danke für Deine Kritik. Deine Anmerkungen werde ich, wenn ich endlich mal Zeit habe, die Geschichte zu überarbeiten, auf jeden Fall berücksichtigen - kann aber noch dauern.

Schön, dass Dir der Text gefallen hat!

Das Reizvolle an der Wörterbörse sind gerade die total unterschiedlichen Geschichten, die zu denselben Wörtern entstehen - deshalb macht sie mir auch so viel Spaß ...

Liebe Grüße
ál-dente

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Ihr lieben Kritiker, nun bin ich endlich dazu gekommen mich mit all Euren Anmerkungen zu befassen:

@Häferl
Du hast natürlich recht mit Deinen Korrekturvorschlägen und sie werden auch sogleich eingearbeitet. :)

@sim
Auch Deine Korrekturen werden berücksichtigt! :) Danke!
Bis auf "vor ihren inneren Augen", da schreibe ich dann doch lieber "vor ihrem inneren Auge" als "vor ihrem inneren Augen" :D.

@Manis
Zunächst zu Deinem Titelvorschlag: "Hoffnung" möchte ich als Titel nicht wählen, weil damit für meinen Geschmack schon zuviel verraten wird. "Das Flugticket" klingt einfach neutraler, da denkt niemand sofort an enttäuschte Hoffnung ...

Was Deine ausführlichen und zahlreichen Vorschläge angeht, so habe ich einen, allerdings sehr kleinen, Teil übernommen. Viele Deiner Vorschläge schienen mir einfach nicht zu meinem Stil zu passen. Oft hast Du etwas anders formuliert, was ich vorher nicht schlechter fand. Eines von Deinen vorgeschlagenen Ausrufezeichen habe ich übernommen, die anderen nicht. Zuviele Ausrufezeichen liebe ich nicht. Ich hoffe, Du hast Verständnis für meine Entscheidung.

@Jynx
Auch über das "Alki-Klischee" habe ich nachgedacht. Wie gesagt, ich gebe Dir da durchaus recht, möchte aber jetzt keinen so großen Aufwand mit dieser Geschichte treiben und das ändern. Okay?

@Bella
Den Mittelteil möchte ich ganz bewusst so lassen. Das, was Du "so runtererzählt" nennst, zeigt für mein Gefühl deutlich, wie sehr die Protagonistin schon abgestumpft ist, und wie wenig sie sich selbst wirklich wichtig nimmt ...

Euch allen liebe Grüße
von
al-dente

 

al-dente schrieb:
@Hubert
... runtererzählt ...
Diese Kritik kam nicht von mir, sondern von Bella. Ich fand deine Geschichte sehr gut geschrieben, denn sie hat mich zum Nachdenken angeregt.


Liebe Grüße
Hubert

 

@Hubert
Sorry, Hubert - das muss an meinem von der Erkältung zugedröhnten Kopf gelegen haben! Ich hab's schon editiert. :)

al-dente

 

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