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Das Gedächtnis der Welt

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02.06.2001
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Das Gedächtnis der Welt

"Was schreibst du denn da?", will Sam irgendwas partout wissen.
Er beugt seine hässliche Fratze vor und versucht, über meine Schulter zu stieren. Erstens zeugt dies von schlechten Manieren, zweitens hat es Sam nicht im Geringsten zu kümmern, was ich schreibe, drittens kann ich den Kerl nicht ausstehen.
Typen wie diesen Sam kenne ich zuhauf: Nach außen hin heucheln sie Solidarität mit ihren Arbeitskollegen vor. Aber gib ihnen die Chance, dir in den Rücken zu fallen, und sie tun es bedenkenlos.
Demonstrativ schalte ich den Monitor ab. Dem mechanischen Klicken des Druckknopfs folgt ein elektronisches, kurzes Zischen. Ich wende trotzdem den Blick nicht von dem Gerät ab.
"Entschuldige, ich wusste nicht, dass du so empfindsam bist", sagt Sam beleidigt und zieht sich an seinen eigenen Arbeitstisch zurück, um dort weidlich zu schmollen. Ich lasse kein Zeichen der Reue erkennen, wie ich es früher wahrscheinlich getan hätte. Stattdessen hauche ich dem Monitor neues Leben ein und lösche das, was ich in einem merkwürdigen Dämmerzustand schrieb, sorgfältig von der Festplatte.
Sie hat nie existiert, diese Klage einer gequälten, erkaltenden Seele. Manchmal erlaube ich mir den Spaß, zu den alten Gewohnheiten zurückzukehren. Mittlerweile jedoch habe ich alle Lust verloren, meine Arbeit zu verrichten.
Seit jeher ziehe ich monotone, scheinbar sinnlose Arbeitsvorgänge denen vor, mit welchen Produkte des kreativen Geistes verbunden sind. Vor vielen Jahren arbeitete ich auf einer Farm. Tagein, tagaus verrichtete ich stets dieselbe Arbeit: Die Ställe ausmisten, die Tiere füttern, ihnen ein wenig Auslauf verschaffen, wenn nötig ein paar morsche Bretter durch neue ersetzen, ein Loch im Dach flicken ...Und stets spürte ich die neugierigen Augen derer im Rücken, die sich heimlich über mich lustig zu machen pflegten.
Wie es denn wohl sei, über vollgeschissene Stallböden wie ein tumber Troll herumzuwuseln? Und ob ich nicht unter dem Scheffel der Tiere stünde, was der Demütigung Vollendung sei?
Was jene, die nur Spott und Hohn zu erübrigen hatten, nicht wussten, war, dass ich innere Ruhe während der pflichtgetreuen Verrichtung meiner Tätigkeiten empfand.
Einmal die Woche stieg ich hinab in das Tal, begab mich in die Dorfschenke und ließ mir drei Krügel Bier kredenzen - nicht eines mehr oder weniger. Ich tat dies nicht des Genusses wegen, denn vielmehr aus Gründen der Suche nach Erfahrung. Und ich erfuhr, nämlich anfangs unverhohlenen Spott, und später kaum Beachtung trotz meiner Anwesenheit. Wiewohl ich einmal in eine Seitengasse gezerrt: und nach Strich und Faden verprügelt wurde, wollte ich die Beschaulichkeit meines Lebens nicht missen.
Oh, heute ist das etwas anderes: Wenn man in einen Streit gezogen wird, den man nicht verschuldet hat, sollte man schleunigst seiner Wege ziehen. In diesen merkwürdigen Tagen könnte es andernfalls dazu kommen, dass man erschossen oder erdolcht wird. Es ist noch nicht allzu lange her, da war ich ein Grundschüler. Der Klassentyrann und zwei eher schmächtige Handlanger forderten von mir Schutzgeld. Ich wollte wissen, welche Konsequenzen eine Weigerung meinerseits nach sich zöge und wurde darüber rasch aufgeklärt: Ein paar Hiebe in die Nieren, einen Schlag auf die Nase und ein zerrissenes T-Shirt später war ich klüger.
Jahre türmten sich zu einem Berg von Wehmut und niemals endender Neugierde auf, und endlich wurde ich erneut in eine Schlägerei verwickelt. Diesmal jedoch blieb es nicht bei ein paar Prellungen: Am Boden liegend wurde ich getreten und blieb bei vollem Bewusstsein, schrie und bat um Gnade, die nur der Ehrenmann zu geben wüsste - und um einen solchen handelt es sich nicht, wenn wehrlose Kreaturen trotz ihrer Verwundungen geschunden werden. Ich wand mich bei jeder neuen Explosion des Schmerzes und kreischte wie ein kleines Kind. Der harte Stiefelabsatz in meinem Hinterkopf ließ mich verstummen.

Möglicherweise bin ich unfair und selektiere zuungunsten der Freuden des Lebens; aber Leid ist nun einmal die mächtigste, eindrucksvollste, prägnanteste Erfahrung, welcher ein Mensch fähig ist. Deshalb ziehe ich den Schmerz der Freude vor.

Das leise, ausklingende Seufzen des Computers schreckt Sam augenscheinlich auf. Ich erhebe mich aus dem unbequemen Stuhl und ziehe meine Jacke über.
"Willst du etwa schon gehen?", tadelt mich Sam.
Ich schließe den Reißverschluss und murmle eine einsilbige, dumme Bestätigung.
"He, komm schon, wir sind mit unserem Programm ohnedies bereits im Rückstand. Wenn Kaminsky davon erfährt, reißt er uns den Arsch bis zum Nabel auf."
Fast wäre ich versucht, ihn zu korrigieren: Mir, willst du sagen, mir wird er ... und ich weiß, dass er davon erfahren wird, und ich weiß auch, von wem. Es gelingt mir, den Mund zu halten und wortlos nach draußen zu streben, wo die Nacht ihre Magie über uns ergossen hat.

Ich wandle die Straße entlang, halte vor manchen Gebäuden inne, um die prächtigen Dekorationen der Schaufenster zu betrachten. Fröhliche, trübsinnige, redselige, strikt stillschweigende Menschen eilen oder schlendern an mir vorbei, derweil ich mich ganz der Verführung der Farbenpracht hingebe, die mich in ihren Bann schlägt. Im Panzerglas eines Juweliergeschäfts spiegelt sich meine hässliche Fratze. Ich weiß, ich sollte keine Klagen darob anstimmen, schließlich hatte ich mich eigenmächtig erwählt. Dennoch werde ich nachdenklich und ein wenig sentimental.
Ich entschließe mich, in ein Pub zu gehen und ein Bier zu trinken. Die Gestirne über mir ... sie leuchten nur für mich. Ich weiß das, denn ohne mich wäre ihre Existenz sinnlos.
Der Barkeeper ist übellaunig und knallt mein geordertes Heineken auf den Filz vor mir.
Ich könnte jeder von euch sein, denke ich, den Gesprächen und dem Gelächter der Anwesenden keinerlei Sinn beimessend.

Ein älterer Herr zwei Hocker neben mir wird von einer freizügig bekleideten Dame um Feuer gebeten. Lässig langt er in eine seiner Hosentaschen und zieht nonchalant ein Feuerzeug hervor. Eines der billigen Sorte - das erkenne ich selbst aus dieser Entfernung. Die Zigarette glimmt und ich zucke leicht zusammen. Hatte mir einmal Lungenkrebs mit diesem verdammten Kraut eingefangen. Seitdem bin ich Nichtraucher.
Ich wundere mich darüber, dass sich niemand des Verstoßes gegen die Gesundheit aller empört. Dann zucke ich in Gedanken mit den Achseln und führe mir das Bild des Smogs über der Stadt vor Augen; ein unheimliches Geistwesen, das dir den Atem raubt und Gift ausscheidet. Ich werde mich nur langsam daran gewöhnen können.
Außerdem stelle ich mir die bemerkenswert dumme Frage, ob die Dame nicht fröstle. Was mich betrifft, so reagiere ich übertrieben zimperlich auf Kälte. Eher beiläufig verfolge ich das Seifenopern-Geschehen wenige Meter neben mir. Der alte Typ hat seine Schuldigkeit getan; an seiner Stelle statt tritt deshalb ein mechanisch grinsender Schönling. Der alte Typ erweckt mein Mitleid.
Vielleicht hatte er sich ein letztes Aufbäumen seiner viel zu schnell verlorenen Jugend erhofft und war wieder einmal bitter enttäuscht worden. Der jugendliche Schönling drängt seinen betagten Rivalen in den Hintergrund und bequatscht das Objekt seiner Begierde. Immer wieder gelingt es mir, amüsiert zu sein, alsbald ich dies höchst lächerliche Getue leibhaftig in strengen Riten sich wie Schweine in sonnengewärmtem Schlamm suhlend ersehe. Ich könnte den beiden davon erzählen, wie es war und wie es vermutlich ewig sein wird.
Es ist seit Jahrhunderten dasselbe; es sind dieselben chemischen Prozesse, die den Körper und den Geist vergiften.
Je eingehender ich die sich darbietende Szene observiere, desto stärker muss ich dem Drange widerstehen, ein Gesicht zu zerschlagen oder es an mich zu reißen. Diese Aggression ist eine der unglücklichsten Erfahrungen, die ich während meiner Suche nach Wissen erlangte. Von Mal zu Mal potenzierte sich jene unheilvolle Wut, und ich hege keinen Zweifel daran, dass sie Irgendwann mein Ich auslöschen wird.

Es scheint mir, als habe die Intelligenz den Menschen verblendet, was mich mit Bedauern erfüllt, da es große Wunder zu sehen gäbe. Und während ich Ihnen einige meiner Erfahrungen mitteile, erblüht an ungezählten Orten, in den unterschiedlichsten Seelen und Geistern die kostbare, zarte Blume namens Hoffnung. Ich habe sie gesehen und gehört, jene, die etwas zum Besseren zu wandeln suchten und scheiterten; jene, die ihr Leben in der Hoffnung gaben, mit ihrem Tod den Nährboden besseren Lebens, gütigerer Existenzen zu bereiten und starben, um den Acker der Menschheit mit Blut zu tränken; jene, die versprachen, eine weise, nicht eine unterdrückende Macht auszuüben, und doch Verrat an ihren eigenen Idealen übten.

Ich denke es ist an der Zeit, mich selbst zu ändern. Mein Vorteil Ihnen und denen Ihrer Art gegenüber besteht darin, dass ich meine Existenz niemals in Frage stellen muss. Die leidliche Sinnfrage des Lebnes würde an mir erprobt Hohn spotten.
Ich bin, was ich bin, und was ich bin, ist gut.
Ich benötige keine Instrumentarien der Macht. Ich lebe nicht in den Tag hinein, denn ich existiere in den Puls des Lebens selbst hinein. Ich warte nicht auf die Wiederkehr eines obskuren Gottes oder harre des Untergangs dieser Welt. Ich hege keine Hoffnungen, die sich doch nicht erfüllen würden.
Ich bin, was ich bin, und werde sein, was ich zu sein wünsche. Es gibt keine Aufgabe, die zu bewältigen ich erschaffen wurde.
Ich kenne nur ein Ziel: Erlangung eines gewaltigen Vermögens an Erfahrungen und Wissen. Was scheren mich Gold, Ruhm oder die Gewalt der Macht? Ich kann nichts anderes sein als das, was ich bin, und kein materielles Gut dieser Welt vermag mich zu etwas anderem zu machen.
Möglicherweise erscheint Ihnen meine Existenz grausam: Ich lebe in den Hüllen derer Ihrer Art und streife diese Hüllen ab, sobald ich ihrer überdrüssig werde. Aber versuchen Sie, den Sinn meines Wirkens zu begreifen und Sie werden verstehen: Ich nehme nichts an mich, ganz im Gegenteil: Ich gebe, nämlich meine Erfahrungen. Und eines fernen, sehr, sehr fernen Tages, könnte ich genug der Erfahrungen gesammelt haben, um mich als passiver Beobachter zurückzuziehen oder, was ich unendlich beglückender fände, um denen Ihrer Art meinen unschätzbaren Reichtum zu offerieren und ein Umdenken einzuleiten.

Ich bin müde dieses Lebens und werde gehen, aber ich werde wiederkehren. Ich fühle, dass meine Reise erst begonnen hat. Nun, ich werde also diese Hülle wie ein Kleidungsstück von mir streifen und an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit überdauern. Ich bin kein Monster, ich bin lediglich das Gedächtnis dieser Welt.
Und Sie, Sie sind nur ein weiteres Speichermedium.

 

Lieber Rainer!

Schön, daß Du wieder da bist! :bounce: Willkommen zuhause! :kuss:

Deine Geschichte, die einen interessanten Blickwinkel eröffnet, hat mir sehr gefallen. Vor Freude, daß Du wieder da bist, hab ich sie erst einmal aber (fast) ganz unkritisch gelesen. Verzeih... ;)

Werde das aber, sobald die schon gefährlich nahe Überarbeitungsfrist beim Challenge abgelaufen ist, nachholen. :)

Erst einmal nur drei Kleinigkeiten:

"Ich tat dies nicht des Genusses wegen, denn vielmehr aus Gründen der Suche nach Erfahrung. Und ich erfuhr, nämlich anfangs unverhohlenen Spott, und später kaum Beachtung trotz meiner Anwesenheit."
- ich glaub, der zweite Satz wäre besser verständlich, wenn Du nach "erfuhr" einen Punkt oder Strichpunkt machst

"an seiner Stelle statt tritt deshalb ein mechanisch grinsender Schönling."
- seine

"Ich gebe, nämlich meine Erfahrungen."
- vielleicht fällt Dir hier eine andere Formulierung als die mit "nämlich" ein, da Du das schon oben hattest. ;)

Alles Liebe,
Susi :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Rainer!

Irgendwie ist es schwierig, was zu Deiner Geschichte zu sagen, noch dazu aus meiner Warte… Dein Protagonist reduziert sich Stück für Stück, bis er nichts anderes mehr in sich sieht, als das Gedächtnis der Welt zu sein, hofft, dadurch etwas zu verbessern – aber nicht für sich selbst…
Vielleicht ist es sowas wie Selbstschutz. Aufgrund schmerzvoll erfahrener Demütigungen jede weitere Gefahr der Demütigung im Keim zu ersticken. Seine »Klage einer gequälten, erkalteten Seele« löscht er, damit der Kollege sie nicht lesen kann, als hätte sie nie existiert.
Etwas aus dem Rahmen der Selbstbetrachtung fallend empfinde ich die Szene in dem Pub, wo er mehr über den Alten sinniert als über seine eigenen Erfahrungen. Hier kommt sein Leiden nicht durch, oder ich finde es nicht. Konkreter könntest Du werden, wenn er sich nicht Gedanken darüber machen würde, ob die Dame fröstelt, und die Frage dann auch noch selbst als »dumm« qualifiziert und Aggressionen in sich spürt, sondern sie selbst erotisch fände, oder zumindest meinen würde, daß er sie früher einmal begehrenswert gefunden hätte, und sich dann vielleicht an eine demütigende Situation erinnert, die ihn auch hier sprichwörtlich den Schwanz einziehen läßt.

»Deshalb ziehe ich den Schmerz der Freude vor« ist meistens dann der Fall, wenn man mit diesem Gefühl besser umgehen kann, weil man es besser kennt, weil es einem vertrauter ist. Und irgendwie schafft man es immer wieder, sich selbst in solche Situationen zu manövrieren, wo man die Demütigung, den Schmerz spürt. So gesehen ist Deine Geschichte sehr stimmig.

Ein paar Kleinigkeiten noch:

»"Was schreibst du denn da?", will Sam irgendwas partout wissen.«
– er will nicht »irgendwas« wissen, sondern was er da schreibt. ;)

»Manchmal erlaube ich mir den Spaß, zu den alten Gewohnheiten zurückzukehren.«
– würde das »den« vor »alten« streichen, da Du ja vorher nicht beschreibst, welche alten Gewohnheiten Du meinst, oder les ich das falsch?

»Mittlerweile jedoch habe ich alle Lust verloren, meine Arbeit zu verrichten.«
– irgendwie gefällt mir »mittlerweile« und »jedoch« so direkt aufeinanderfolgend nicht sehr, würde sie trennen, z.B. Jedoch habe ich mittlerweile … oder Mittlerweile habe ich jedoch …

»Seit jeher ziehe ich monotone, scheinbar sinnlose Arbeitsvorgänge denen vor, mit welchen«
– evtl. »jenen« statt »denen«?

»Die Ställe ausmisten, die Tiere füttern, ihnen ein wenig Auslauf verschaffen, wenn nötig ein paar morsche Bretter durch neue ersetzen, ein Loch im Dach flicken ...Und stets«
– würde die beiden »die« am Anfang streichen: Ställe ausmisten, Tiere füttern, …
– Leertaste fehlt vorm »Und«

»Wie es denn wohl sei, über vollgeschissene Stallböden wie ein tumber Troll herumzuwuseln? Und ob ich nicht unter dem Scheffel der Tiere stünde, was der Demütigung Vollendung sei?«
– nachdem Dein Protagonist das ja feststellend erzählt, würde ich Punkte anstelle der Fragezeichen machen

»Wiewohl ich einmal in eine Seitengasse gezerrt: und nach Strich und Faden verprügelt wurde,«
– der Doppelpunkt nach »gezerrt« ist irgendwie fehl am Platz

»an seiner Stelle statt tritt deshalb ein mechanisch grinsender Schönling«
– an seine Stelle tritt deshalb

»Ich bin, was ich bin, und was ich bin, ist gut.«
– hier bin ich mir nicht so sicher, ob er das mehr aus Überzeugung sagt, oder ob es mehr ein Sich-Vorbeten ist, um es sich selbst einzureden

»Und eines fernen, sehr, sehr fernen Tages, könnte ich genug der Erfahrungen gesammelt haben«
– Beistrich nach »Tages« weg

Beim Ende bin ich mir nicht so sicher: Willst Du damit sagen, daß er sich umbringt? :confused:

Alles Liebe,
Susi :)

 

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