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Das Geständnis
Als es klingelte, fuhr Reimer zuckend zusammen, wie jedes mal. Hoffentlich ist es nur ein Vertreter oder jemand, den man schnell abwimmeln könnte oder dem man nicht einmal aufzumachen braucht. Reimer freute es sehr, dass er die Personen vor seiner Wohnungstür durch ein etwas versteckt liegendes Fenster betrachten konnte, bevor er öffnete. Das war für ihn bereits ein wichtiges Kriterium bei der Wohnungswahl gewesen, und auch jetzt, vier Jahre später, nutzte er diese Möglichkeit immer, wenn jemand vor der Tür stand.
Er schob vorsichtig und mit zittrigen Fingern eine weiße Lamelle hinab und lugte mit müden Augen auf den Klingelnden. Als es dann das zweite Mal klingelte, ließ Reimer abrupt die Lamelle sinken.
Herr Boschowitz.
Reimer hob seine Hände an das pochende Herz. Er hatte Unrecht, es war kein Vertreter, kein ISTA-Heizungsableser oder Ähnliches, nein, er war es. Als es zum dritten mal klingelte, riss Reimer sich aus seiner Trance und schritt zur Tür.
„Ja, bitte?“
„Herr Schrage, endlich machen sie die Tür auf. Es wurde ja auch schon Zeit. Beinahe hätte ich die Vermieterin angerufen.“
„Herr Boschowitz, es tut mir leid, ich ..."
„Herr Schrage, sie brauchen sich gar nicht zu rechtfertigen. Ich hoffe, Ihnen ist bekannt, weshalb ich klingele?“
Reimer nickte langsam.
„Dann ist Ihnen also klar, was ihre einzige Konsequenz bleiben wird? Ihnen ist klar, welchen Schritt Sie gehen müssen? Sie, in ihrer besonderen Stellung?“
Reimer nickte erneut und neigte dabei sein Kinn auf dem Brustbein auf und ab. Er war sich nur zu klar über alles. All zu klar. Er hoffte, dass Boschowitz dieses Nicken noch nicht als Geständnis wahrnahm.
„Nun, Herr Schrage, oder darf ich Sie Reimer nennen? Warum frage ich? Ich werde Sie Reimer nennen. Nun, Reimer, kommen Sie mit, mit in unsere Wohnung. Kommen Sie, kommen Sie schon.“
Reimer folgte zögerlich. Warum in diese Wohnung? Sie roch bestimmt nach ihr. Ihr Zimmer war dort, alles von ihr steckte in der Wohnung. Er hatte die Hände auf den Bauch gelegt, um die starken Schmerzen, die er jedes Mal bei großer Aufregung bekam, zu lindern. Bislang nützte das nichts. Wie damals, vor vier Jahren. Auch da hatte es nichts genützt.
Nach ein paar Sekunden hatten sie den unteren Teil des Mehrfamilienhauses erreicht. Die Tür stand offen. „Kommen Sie herein, Reimer." Herr Boschowitz wies, im Türrahmen stehend, mit der Hand in den Wohnungsflur. „Warum so scheu? Aber ich vergas, Sie sind ein scheuer, schüchterner ... Mann." Reimer schlich sich in gedrungener Haltung an Herrn Boschowitz vorbei und ging über den Flur. Links muss ihr Zimmer sein, es muss nicht nur da sein, es ist da, ihr Zimmer. Reimer schloss die Augen. Als er über den alten, dunkelgrünen Teppich in die mit dunklen Holzmöbeln ausgestattete Küche trat, blinzelte er, und am liebsten hätte er die Augen geschlossen gehalten, als er Frau Boschowitz sah. Doch er öffnete sie. Frau Boschowitz fixierte ihn und schüttelte langsam den Kopf.
„Setzen Sie sich“, sagte Herr Boschowitz, und Reimer folgte der Aufforderung. Er zog die Schultern leicht an und hielt die Hände weiterhin vor dem Bauch.
„Wir wissen, dass Sie es waren. Die Ermittlungen dauerten vier Jahre und niemand, nicht einmal ein Privatdetektiv, konnte Ergebnisse vorweisen. Wir aber wussten es von Anfang an. Sie waren uns schon immer suspekt.“ Herr Boschowitz setzte sich an den Küchentisch, schräg gegenüber von Reimer. Er wurde lauter. „Sie, mit ihren fettigen Haaren, ihrem grätenartigen Körper, ihren Fischaugen, Sie …“
„Alfred“, unterbrach ihn Frau Boschowitz leise, um ihren Mann zu besänftigen. Sie stand immer noch in der Ecke der Küche, an den Herd gelehnt. Ihre Augen waren vom vielen Weinen rot unterlaufen und die Haut ihres eingefallenen Gesichtes sah aus wie Schmirgelpapier. Die sich über ihre Wangen erstreckenden Linien der Tränen wirkten wie kleine Flüsse.
Herr Boschowitz atmete tief durch. „Sie sind kein Prediger, Reimer, kein Theologiestudent. Nein, Sie sind der Teufel, der Satan in Person, Menschen wie Sie waren es, die das Dritte Reich ermöglichten, Sie, Reimer, sind der Antichrist, nicht mehr und nicht weniger. Der Antichrist!“
Frau Boschowitz zuckte zusammen und erneut flossen die Tränen. Sie wimmerte leise und nahm ihr durchweichtes Küchentuch zur Hand, mit dem sie sich das Kinn abtupfte.
Reimer verbarg sein Gesicht in den Händen. Er drückte sich die Nase zu, denn der spezielle Geruch dieser spießbürgerlichen Wohnung – Reimer erkannte eine Mischung aus Kohl und Minze – erinnerte ihn an sie. Sie roch genau so. Es war kein schöner Geruch, aber sie war auch kein schönes Mädchen gewesen. Reimer musste ein Glucksen unterdrücken.
„Zeig es ihm, Maria.“
Aus ihrer Schürze holte Frau Boschowitz ein kleines, vergilbtes Schwarz-Weiß-Foto und reichte es ihrem Mann. Reimer schaute zwischen seinen Fingern hindurch auf das Foto. Er konnte das Motiv im nebulösen Abendlicht, das die Wohnung flutete, nicht erkennen, wusste aber, wen es zeigte. Er schloss die Augen wieder und gluckste.
„Wollen Sie sie sehen, Reimer? Wollen Sie es? Auf diesem Bild ist sie ...Sag, Maria, wie alt war sie da?" Maria konnte nicht antworten, sie schluchzte und biss in ihr zusammengeknülltes Küchentuch, um die Stille nicht zu unterbrechen.
„Ich glaube, sie war etwa fünf. Fünf Jahre. Aber in dem Alter kannten Sie sie ja noch nicht, Reimer. Sie kannten sie ja erst mit Sechs. Mit sechs lernten Sie sie kennen, nicht wahr, Reimer?“ Herr Boschowitz stach mit seinen Augen gen Reimer.
Reimer nickte und presste seine schweißigen Hände sofort noch fester auf sein Gesicht. Wie konnte er nur nicken? Reiß dich zusammen, dachte er.
Herr Boschowitz beobachtete ihn genau. „Unsere Vermutung stimmt also?" Reimers Sitznachbar rückte ein wenig näher an ihn heran und sprach direkter zu ihm: „Wir wussten es die ganze Zeit. Wir wussten es, aber stimmt es denn auch? Stimmt es, Reimer?" Reimer legte die Daumen über die Ohren. Er konnte nun weder sehen noch hören, zumindest beides nur schleierhaft. Und ebenso schleierhaft erinnerte er sich an eine alte Geschichte, die er in der Schule lesen musste. Sie hieß „Gespräch mit dem Beter“ und war von Kafka. Reimer hatte Kafka gehasst.
Er seufzte und nickte erneut. Nichts als Nicken. Als Herr Boschowitz Reimers mit einer Gänsehaut bespannten Arm ergriff, um dessen Hände vom Gesicht zu ziehen, versuchte Reimer erfolglos, seinen Blicken zu entkommen.
Herr Boschowitz ließ ihn los. „Maria, hol den Kasten, schnell!“
Reimer saß, ineinander verfahren, die Lippen aufeinander gepresst und die Hände nun wieder auf dem Bauch aufliegend, still am Tisch. Er regte sich nicht. Maria kam mit einem grauen Schuhkarton wieder, den sie in ihr Küchentuch gewickelt hatte, und stellte diesen unter kräftigem Schluchzen direkt vor Reimer auf den Tisch. Aus dem Augenwinkel, aus dem zu schauen Reimer sich zwang, sah er Herrn Boschowitz ein Lächeln andeuten.
„Dies ist für Sie, Reimer. Öffnen Sie den Karton in ihrer Wohnung. Gehen Sie jetzt, Reimer. Gehen Sie.“
Beinah fühlte Reimer sich, als wäre ihm ein Stein vom Herzen gefallen. Er nahm schweigend und mit feuchten Händen den Schuhkarton. Er war schwer und wie ein Geschenkpaket verschnürt. Reimer schaute nicht zurück, weder zu Herrn Boschowitz noch zu seiner Frau. Einzig streifte sein Blick das auf dem Tisch neben dem Karton liegende Foto. Reimer stach ein gellender Schmerz aus den Hoden in den sich augenblicklich noch schmerzhafter verkrampfenden Magen.
„Antichrist!“
Er drehte sich um und ging in den Flur, vorbei an gestickten Wandteppichen und einer schäbigen Vase ohne Blumen.
Ihr Zimmer, zur Linken. Hierher musste Frau Boschowitz den Karton geholt haben. Die Tür stand auf, das Licht war an. Reimers zuvor konstanter Gang flachte ab und er wagte einen Blick. Alles sah genau so aus wie vor 4 Jahren. Die Ermittlungen, die unzähligen Unter- und Durchsuchungen hatten erstaunlich wenig verändert.
Reimer wandte sich gequält ab und schritt zur Tür, die Treppe hoch, durch die immer noch offen stehende Tür in seine Wohnung.
Oben angekommen, stellte Reimer sich ins Schlafzimmer und presste stoßweise die Luft aus seinem Bauch heraus. Er hatte die ganze Zeit in der Wohnung der Boschowitzs viel zu flach geatmet, um möglichst leise zu sein. Er stellte den schweren Schuhkarton auf den Boden vor seine Füße und schnürte ihn auf. Mit überraschtem Gesichtsausdruck nahm er den Inhalt in die Hand. Nach einigen Minuten reglosen Überlegens murmelte er: „Und Geständnisse werden klarer, wenn man sie widerruft.“
Das Ehepaar Boschowitz saß am Küchentisch. Herr Boschowitz lächelte seicht und seine Frau hatte mit dem Weinen aufgehört. Sie betrachteten beide, Hand in Hand, das kleine Foto ihrer Tochter. Unter Tränen lächelten Sie sich an.
Als nach wenigen Minuten von oben ein Schuss erklang, erschraken sie nicht.