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Das hässliche Licht der Welt
Das Zimmer, in dem Sebastian wohnt, kennt er schon, seit er denken kann. Als kleines Kind verstaute er seine Spielsachen in dem Kleiderschrank, in dem sich jetzt seine Gedichte befinden. Sinnlos aneinander gereihte Worte, die er immer wieder hasst, wenn er sie in die Hand nimmt und liest.
Mit sechzehn hatte er die Schule aufgegeben. „Keinen Bock mehr“, erzählte seine Mutter den paar Menschen, die sich dafür interessierten. Nachdem die Schule in den Mülleimer gewandert war, saß er oft herum, sah fern - oder schrieb.
Die vielen Nächte vergehen nur mühsam. Sebastian sitzt auf seinem Stuhl, sieht aus dem Fenster, betrachtet die glühende Stadt, die sich wie ein Krebsgeschwür in die Landschaft gefressen hatte. Ab und zu sieht er einen Fußgänger, der, mit gesenktem Kopf, an seinem Haus vorbeigeht. Sebastian ist ihnen ähnlich, aber diese Menschen zeigen sich. Er verkriecht sich lieber hinter dicken Gardinen, macht das Licht aus und zieht die Decke über den Kopf.
Der Bildschirm seines Computers flimmert. Der Cursor blinkt grausam und fordernd, Sebastian betrachtet ihn lange. Seine Kreativität hat sich den Abfluss hinuntergespült. Die Wörter kommen nur langsam aus ihm heraus, kriechen aus der Kanalisation in seinen Kopf zurück, und er beobachtet sie, wie sie vermodern und stinken. Die Stunden ziehen nur so an ihm vorbei, er bekommt den Geruch nicht mehr weg.
Sebastian steht auf und streckt sich. Er sieht dabei sein Marilyn Manson–Poster an. Der Mann hat eine hässliche Fratze, denkt er sich; und genau da liegt seine Kreativität und Anziehungskraft verborgen. Ist das der Grund, warum Sebastian nicht mehr schreiben kann? Weil er nicht hässlich ist, sondern leer?
Er zieht seine Jacke an, danach die Schuhe, und nimmt den Schlüssel. Seiner Mutter sagt er nichts, so wie immer. Er sieht keinen Grund es ihr zu sagen, denn es kümmert sie wenig. Sie ist gefangen in einem Eisblock. Ihr kann nicht geholfen werden, am wenigsten von Sebastian.
Im Türrahmen bleibt er stehen. Seine Mutter hustet sich die Seele aus dem Leib, er hört deutlich, wie sie einen dicken Klumpen Schleim in das Waschbecken spuckt. Das Telefon klingelt. Sebastian hebt nicht ab. Er weiß, wer um diese Uhrzeit noch anruft. Seine Mutter bewegt sich wie ein Schatten aus dem Bad heraus und nimmt den Hörer in die Hand.
„Ja?“, hört er sie fragen.
Sekunden vergehen, bis sie den Hörer wieder auflegt.
„Dein Vater kommt wieder nach Hause“, ruft sie. Ihre Stimme ist auf Sebastian gerichtet, sie sieht ihn aber nicht an.
„Er ist nicht mein Vater“, antwortet er. „Er ist jemand, besser gesagt etwas, aber sicher nicht mein Vater.“
„Wie du meinst. Sieh zu, dass du für zwei oder drei Stunden verschwindest. Da liegt Geld.“
Sie zeigt mit zitternder Hand auf die Kommode neben der Tür. Fünf Euro.
„Ist dir mein Glück soviel wert?“, fragt er seine Mutter. Er wartet nicht die Antwort ab, sondern tritt aus dem Türrahmen und wirft den Schein zusammengeknüllt in den Flur.
Die Stadt leuchtet. Es liegt nicht nur am Licht, es liegt auch an den Menschen. Vielleicht ist das in kleineren Städten anders, aber Berlin leuchtet in der Nacht. Sebastians Gesicht wird von vielen kleinen Flecken aus künstlich – grellem Licht angestrahlt. Er nimmt eine Zigarette in die Hand, die er manchmal zum Mund führt und kräftig daran zieht. Zigaretten sind schlecht für seine Gesundheit, das weiß er, das weiß jeder; er hört jeden Tag seine Mutter fast schon mit dem Tod kämpfen, er kann es aber nicht sein lassen. Es ist keine Sucht, sagt er immer, es ist sein freier Wille. Wann aber kommt die Grenze, wann bricht die Nacht herein, wann ist man wirklich süchtig? Ein Freund hatte ihm einmal gesagt, Sucht bedeute, dass man nachts in seinem Bett liegen und nur noch an das denken könne, wonach man süchtig ist.
Plötzlich hat er eine Idee. Er bleibt stehen und nimmt aus seinem Rucksack eine Spraydose heraus, die er eine ganze Minute lang schüttelt. Dann sprüht er auf eine alte Mauer:
„Realität ist Mangel an Kreativität“
Er betrachtet die Schrift. Die Buchstaben sind nicht besonders schön geformt, der Text an sich nicht verständlich. Aber es ist ein Stück von ihm, das an der Mauer klebt. Es fehlt noch etwas, eine Erklärung. Er beugt sich tief hinunter, bis zu den untersten Ausläufern seines Werkes, und sprüht in dünner Schrift:
„Ein Lyrikjunkie auf Entzug“
Er hat sich verewigt. Solange jedenfalls, wie diese Mauer bestand haben wird. Er weiß, dass keine Hand und keine Seele den Text jemals berühren werden. Das ist ihm auch nicht wichtig. Hauptsache ist, dass wenigstens ein Hund gelegentlich an die Wand pinkelt, und das Werk vollendet.
Auf dem Weg ins Nirgendwo sieht er ein Mädchen weinen. Er setzt sich neben sie und legt seinen Arm und ihre Schultern. Sie wehrt sich nicht, ganz im Gegenteil, sie schmiegt sich an ihn. Während sie ihm ihre ganze Geschichte erzählt, denkt er nur an ihre Brüste; sie sind schön geformt, jedenfalls das, war er von ihnen sehen kann. Ihr Körper ist zierlich, ihr Gesicht wunderschön. Sie hört auf und fängt erneut an zu weinen. Seine Hand rutscht langsam ihren Rücken hinunter – während er ihre Tränen warm durch sein T–Shirt spürt – und er fragt sie, ob er sie ausziehen darf.
Er spürt nichts, während er sie fickt. Nachdem es zu Ende ist, steht er wortlos auf und fängt an, sich anzuziehen. „War’s das?“, fragt sie ihn. „Was erwartest du denn?“, fragt Sebastian zurück. Ihre Augen treffen sich. Sie dreht ihr Gesicht weg und fängt an, sich, die Wand, und ihn, anzuschreien. Als er nach Hause geht, hört er sie wieder weinen. Er weiß, was er ihr angetan hat, es kümmert ihn nicht.
Die Sonne geht auf. Vögel fangen an zu zwitschern. Ein lautes, schrilles Orchester. Er geht in die Küche. Als er sich ein Sandwich macht, hört er seine Mutter weinen. Sebastian geht dem Geräusch nach und bleibt vor dem Schlafzimmer stehen.
Er klopft an.
„Einen Moment“, sagt seine Mutter. Er hört hastige Bewegungen, Trampeln, etwas fliegt um. Dann geht die Tür auf. Eine tote Hülle steht vor ihm, mit zusammengefallenen Augen, aufgeplatzten Lippen und einem Gesicht, das Blut weint.
„War er das?“, fragt Sebastian.
Sie nickt.
„Hilf mir“, zittert sie leise. „Ich kann das nicht mehr aushalten.“