Das Herz ist eine miese Gegend

[George Goodnight]

Das Herz ist eine miese Gegend

Die Beats hämmern und können doch die Schreie in meinem Kopf nicht übertönen. Überall Scherben. Fotografien, Portraits, Passbilder, Landschaftsaufnahmen, schau mal, da waren wir in Amerika. So lange her. Reste von Ansichtskarten, Sardinien, Portugal, Türkei. Hier scheint immer die Sonne. Schade, dass ihr. Wen interessiert das noch? Nur noch Erinnerung. Wie der Geruch nach ihrem Haar, nach ihrer Haut, der all den Gestank in mir überlagert. Meine nackten Füße bluten. Langsam, Tropfen für Tropfen. Wie lange es wohl dauert, bis ich...? Irgendwo hier muss doch noch was zu trinken sein. Die Erinnerung an einen Sommerabend beschert die Flasche Rotwein. Jetzt noch eine Zigarette, aber ich rauche ja nicht mehr. Schwarzer Krauser, Van Nelle – alles da.

Ich trinke, ich rauche, doch nichts übertönt die Schreie. Die Anlage noch weiter aufdrehen, vielleicht hilft das. Der Boden vibriert, bringt die Glasscherben zum Tanzen. Ich tanze mit und beobachte fasziniert das rote Muster auf den Dielen. Es mäandert in alle Richtungen, zerfließt, kommt wieder zusammen. Kommt wieder zusammen? Nimmermehr. Hinfortgesegelt ist sie, einer anderen Sonne entgegen.

Die Flasche ist leer, die Schreie lauter als je zuvor. Der Verstärker gibt sein bestes, qualmt schon, kommt aber auch nicht gegen das Geschrei an. Cds und Bücher liegen wild verstreut herum. Schau mal, ihr Lieblingsbuch. Musste ich ihr drei Mal schenken, weil nach kurzer Zeit schon so zerfleddert. Was hatte ich als Widmung geschrieben? Muss gar nicht nachschauen. Bleib immer weg von offenen Fenstern. Ha! Wer die Gefahr sucht, kommt darin um. Warum steht das jetzt auf der Tapete? Die Pflanzen haben sich zusammengerottet, treten die Flucht an. Kein Wunder. Mir platzt der Schädel. Warum nur stellt niemand dieses Geschrei ab? Vielleicht, wenn ich...? Glasscherben liegen ja genug herum. Wie war das noch mal. Niemals quer. Immer der Länge nach. Und wie lange dauert das jetzt? Reicht es noch für eine Zigarette? Ist auch bestimmt meine letzte. Ruhe. Stille. Dieser Schrei soll endlich verstummen. Mehr will ich doch....

 

[Paranova]

Temporeich, lockender Anfang, gut geschrieben. Allerdings nahm die Begeisterung mit weiterem Lesen ab. Naja, eine Herzschmerzsache. Och nö, ein Suizidende. Zu banal. Schade!
...para

---------------------

"mäandert" musste ich nachschlagen.

Schade, dass ihr.

Vielleicht besser "..."?

Warum steht das jetzt auf der Tapete?

Komisch.

 

[George Goodnight]

Hallo Paranova,

Zu banal. Schade!

Tja, das Leben ist banal, das Sterben auch.

Aber ich verstehe, was Du meinst.

Vielen Dank für den Kommentar.

Gruß
George

 

[Goldene Dame]

Halllo George,
Ein Mensch im Gefühlsgau. Gewaltige Worte vermitteln eine Endzeitstimmung, die als Kurzgeschichte, wie ich finde ein wenig farblos wirkt. Könnte mehr daraus werden, wenn du noch etwas dazu erzählst.
Liebe Grüße an dich
Goldene Dame

 

[Häferl]

Lieber George!

Schön, daß Du wieder mal nach Hause auf kg.de findest.

Erst hab ich mich gefreut: "Jö, eine neue Geschichte von George!" - Und irgendwie hab ich mir was eher Lustiges erwartet, weil Du doch immer so gut drauf warst... Und dann les ich so eine traurige Geschichte von Dir, die nicht nur (in ihrer Trauer) so realistisch klingt, sondern in der mir auch Deine üblichen kleinen Seitenhiebe fehlen (an denen könnte ich merken, daß es Dir stimmungsmäßig nicht so wie dem Protagonisten geht, aber sie fehlen ja), und frag mich natürlich, wie das kommt, und seh Deinen Smilie, der gar nicht smilt, und irgendwie weiß ich jetzt gar nicht, was ich sagen soll...

Auf mich wirkt die Geschichte im Moment jedenfalls sehr.

Klar kann man über den Selbstmord des Protagonisten diskutieren, der müßte wirklich nicht sein, es reicht seine Trauer an sich, die kommt für mich sehr gut raus, zum Beispiel aus der Stelle mit dem Buch, das er ihr immer wieder geschenkt hat. Und seine Verzweiflung über den Verlust des geliebten Menschen.
Aber daß es am Schluß doch noch ein wenig georgig-sarkastisch wird - trotz des beschriebenen Selbstmords - das find ich schön (und vielsagend) :

Reicht es noch für eine Zigarette? Ist auch bestimmt meine letzte.

Und bei dem Satz fehlt irgendwas, oder?:
"Schade, dass ihr."

Naja, ich werde die Geschichte vielleicht in einiger Zeit noch einmal lesen und schauen, wie sie dann wirkt.

Alles Liebe,
Susi

 

[sim]

Hallo George,

auch wenn ich Lukas Einschätzung zu diesem großartigen Roman nicht teile, fühlte auch ich mich durch den Titel daran erinnert ( und auch dadurch gelockt).
Den Titel mochte ich allerdings auch bei dem Roman schon nicht.

Kommen wir zu deiner Geschichte. Mir ging es wie Häferl. Ich konnte den Suizid aus der Geschichte heraus zwar nicht notwendigerweise nachvollziehen, fand aber die zynische Beschreibung gelungen.
Die Gestaltung der Geschichte, die unmittelbare Wirkung aufs Gefühl, die kurzen, nicht immer zu Ende gebrachten Sätze waren sehr passend und haben mir gut gefallen.

Lieben Gruß, sim

 

[Häferl]

PS.:

Lieber George!

Zu dem Gefühl, wenn man jemanden verliert, der sehr wichtig für einen war und immer noch ist, gehört ja eigentlich auch ein bisschen Todesgefühl: Man hat das Gefühl, als würde ein Stück von einem sterben, der Mensch hinterläßt ein Loch in einem, eine Wunde, die Du auch symbolisch bluten lassen könntest... - Vielleicht magst Du statt des Selbstmordes ein bisschen in diese Richtung denken/schreiben?

Alles Liebe,
Susi

 

[Woltochinon]

Hallo George,

gutes Tempo, das Einhämmern der Bilder ist gelungen. Aber dann doch Suizid? Wenn das glaubhaft sein soll, muss man mehr über die Konsequenzen der trennung, den verursachten seelischen Schmerz wissen.

LG,
tschüß... Woltochinon

 

[George Goodnight]

Vielen Dank für eure Kommentare. Hätte nie damit gerechnet, so viele Anmerkungen zu diesem kurzen Text zu erhalten, vor allen Dingen, weil ich mir inzwischen sicher bin, keinerlei formale Kriterien einer KG erfüllt zu haben.
Mal schauen, ob ich diesen Text irgendwann, wenn ich genügend Abstand habe, überarbeite. Dann werden sicherlich viele der hilfreichen Anmerkungen in die Überbeitung einfließen.

@ Lukas
Ich finde den Titel auch unglücklich gewählt - mir ist allerdings kein besserer eingefallen. Den Roman von Thommie Bayer gefällt mir übrigens sehr gut. Keinesfalls ist er Scheiße - wobei das ja auch immer Geschmackssache ist.

@ Goldene Dame
Dem ist nichts hinzuzufügen. Wie gesagt, mit etwas zeitlichem Abstand überarbeite ich das Ding vielleicht. Wirst sehen.

@ Susi
Danke für Deine Überlegungen und Vorschläge, die von dem Selbstmord wegführen. Und ja, Du hast Recht: "Reicht es noch für eine Zigarette? Ist auch bestimmt meine letzte" ist vielsagend und war auch so gemeint. Vermutlich kommt hier zum tragen, dass ich kurz vor dem Schreiben dieses Textes ein Gedicht von Wilhelm Busch gelesen habe, in dem ein Vogel, trotz des Wissens um seinen nahen Tod noch tirilierte ("Er trällerte lauter als je zuvor. Mir scheint, dieser Vogel hat Humor" - oder so ähnlich)

Und bei dem Satz fehlt irgendwas, oder?:Schade, dass ihr.

Ich wollte damit darstellen, dass von der Ansichtskarte nur noch ein Rest übrig ist. Der Rest der Ansichtskarte (und somit der Rest des Satzes) ist verschwunden.

@ sim
Hab ich mir doch gedacht, dass Dich dieser Titel anlocken würde
Mir hat nicht nur der Roman von Thommie Bayer gefallen - auch den Titel finde ich (für den Roman) gelungen. "Das Herz ist eine miese Gegend" - das hat doch was.

@ Woltochinon
Über den Selbstmord werde ich - wie gesagt - noch mal nachdenken. Der Text war auch der Versuch, mit stakkatohaften Sätzen, Satzfragmenten Tempo zu schaffen. Ob so Stilmittel eine "richtige" KG trägt, weiß ich nicht. Vielleicht versuche ich es demnächst mal

 

[Woltochinon]

Hallo George,

"Ob so Stilmittel eine "richtige" KG trägt, weiß ich nicht."

Passt doch prima zu einer Kurzgeschichte, die doch einen Szenenausschnitt darstellt.
Kurzgeschichte oder nicht - das entscheidet sich nicht am Erzähltempo.

LG,

tschüß... Woltochinon

 

[Goldene Dame]

Hallo George,

Wie gesagt, mit etwas zeitlichem Abstand überarbeite ich das Ding vielleicht. Wirst sehen.

Deine Geschichte ist eine Geschichte. Kein Ding. Irgendwie noch ein Fragment, weil du, aus welchen Günden auch immer, noch nicht alles erzählt hat. Und ich freue mich darauf, was du noch dazu zu sagen hast.

Liebe Grüße
Goldene Dame