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Das kalte Mädchen
„Tu das nicht! Es wird viel zu kalt heute Nacht.“
Sie stand auf, verabschiedete sich, verscheuchte ein dunkles Gefühl.
„Deine Mutter würde das nicht wollen“, sagte einer.
Mama. Mama hatten sie eines Morgens ins Krankenhaus gebracht. Ihr böses Bein. Oder der Husten. Oder beides.
„Ich bin morgen zurück, Kleines.“
Sie kam nie zurück. Wie lange war das her? Immer wieder fragte sie die anderen.
„Wann kommt Mama wieder?“
Zuerst sagten sie „bald“. Dann antwortete keiner mehr. Irgendwann hörte sie auf zu fragen.
Manchmal tauchten Leute auf, dann versteckte sie sich. Sah zu, wie sie herumfragten und alle den Kopf schüttelten. Sie wollte nicht weggeholt werden. Nicht in ein Heim. Nicht zu fremden Menschen. Sie wollte hier bleiben. Was, wenn Mama zurückkäme und sie wäre nicht mehr da?
Vor einer Stunde hatte sie sich mit all den anderen aus den alten verschlissenen Decken gewühlt, die längst feucht und muffig geworden waren hier unter der Brücke. Eine rollte sie zusammen und steckte sie in die große alte Tasche, in der sie ihre Habseligkeiten von Ort zu Ort schleppte.
Nur nicht in diese grausige Unterkunft! Wo alles hässlich war und es manchmal nach abgestandener Pisse stank und nach schmutziger Kleidung. Wo sie zusammen mit fremden Frauen in einen Raum musste. Manchmal mitleidige Blicke bekam. Wo man ihr immer Fragen stellte und sie Angst hatte, dass man sie wegbringen würde und sie nicht am nächsten Morgen zurück zur Brücke gehen durfte.
Sie fühlte sich leicht, als sie aufbrach. Sie dachte an die saubere kalte Luft, die Stille, den Sternenhimmel.
„Bis morgen!“, sagte sie.
„Aschenputtel!“
Sie blieb stehen, blickte sich um. Der alte Matthias schälte sich aus seinen Decken und ging ihr ein paar Schritte hinterher. Vielleicht war er gar nicht so alt. Er hatte sich um sie gekümmert, als sie ankamen. War freundlich zu Mama und ihr. Zeigte ihnen einen Platz, wo der Wind weniger blies.
„Warum nennst du mich so?“
„Weil du so hübsch bist wie das Aschenputtel. Meinst du, das können nur Prinzen sehen?
Und weil du so kleine Füße hast. Und trotzdem Blasen.“
„Nicht trotzdem. Deswegen. Ich schwimme in den Schuhen herum, weil sie zu groß sind.“
„Glaubst du an das Drüben?“
„Wieso fragst du mich das?“
„Weil ich Angst habe, dass du an irgendeinem Morgen nicht zurückkommen wirst, Aschenputtel.“
„Wie soll ich das wissen? Ich war noch nie Drüben“
Natürlich glaubte sie. Mama war schon so lange fort. Wo sollte sie sonst sein, wenn sie nicht zurückkommen konnte. Sie war Drüben. Und von da gab es keinen Weg zurück. Man konnte nur hin.
Die anderen sahen ihr nach, als sie wegging, machten sich auf den Weg in die Unterkunft. Es war zu kalt geworden unter der Brücke. Kopfschütteln. Zu müde, um sich Gedanken zu machen, zu kalt zum Stehenbleiben.
Mond und Schnee erhellten die Wiesen am Flussufer. Kahle Bäume mit knorrigen Armen, gespreizten Fingern. Die Bewegung tat ihren kalten Beinen gut. Ihr Ort war nicht weit vom Weg. Nur ein paar Schritte in ein Gebüsch, das in seinem Inneren Platz bot für sie. Es versteckte sie, behütete sie. Dort war sie nicht weit weg und doch allein. So wollte sie es. Die anderen taugten nicht zum Reden oder Ankuscheln an kalten Abenden. Da war keiner, der ihr mal eine Geschichte erzählte. Keine wahre und keine erfundene. Viele tranken Wein oder Schnaps, damit sie besser schlafen konnten und dann redeten sie entweder nichts mehr oder dummes Zeug.
Nur mit Mathias konnte sie sich manchmal unterhalten. Über Mama. Über ihr Leben davor, an das sie sich immer weniger erinnern konnte. Wenn sie nicht mehr davon erzählte, würde sie jeden Tag ein Stück mehr verlieren.
Matthias hörte gern zu. Nur von sich selbst erzählte er nie. Nicht mal, wenn sie fragte.
"Alles vergessen", antwortete er. Aber das wollte sie nicht. Auf gar keinen Fall.
Einmal hatte sie ihn gefragt, ob er sich wirklich an gar nichts erinnerte.
„Weißt du“, erklärte er, „das mit dem Erinnern ist so eine Sache. Es kann schön sein, wenn es schöne Dinge sind, die man behalten will. Es kann ein Schatz sein, der einem immer gehören wird. Es kann aber auch sehr traurig machen. Wenn man fühlt, was man verloren hat, dann hält man das Hier und Jetzt noch viel schwerer aus.“
„Aber wenn alles verschwindet, vergesse ich doch auch, dass das Hier und Jetzt nicht für immer bleiben soll?“
Der alte Matthias legte seine Arme um sie.
„Da hast du ganz Recht, Kleines.“
Ein ganzes Jahr schon ging sie an diesen Ort. Nicht jede Nacht, aber oft. Sie hatte ihn niemandem gezeigt. Auch Matthias nicht.
„Aha, die junge Madame geht wieder ins Grüne“, sagte manchmal einer der anderen.
Aber sie hielt sich nicht für etwas Besseres. Es war einfach schön, diesen Platz für sich zu haben. Mit dem klaren Himmel, der guten Luft, dem Blätterrauschen im Sommer, wenn ein milder Wind durch die Zweige fuhr.
Sie setzte sich in den Schnee. Es war kalt auf dem Weg dorthin. Die alte Winterjacke wärmte wenig. In den zu großen Stiefeln versuchte sie, ihre Füße zu bewegen. Aber jetzt waren ihre Zehen steif und gefühllos geworden. Ob sie sich überhaupt noch krümmen ließen? Ihre Hände froren in den löchrigen Taschen. Trotzdem! Es war eine schöne Nacht, sogar schöner als im Sommer.
Sie war sehr müde. Der Rücken schmerzte da, wo sie an einem Stamm lehnte.
Ihre Sinne meldeten Dinge, die nicht sein konnten. Die Füße schmolzen. Ihre Hände, Kälte wie Verbrennen. Wie Feuer. Sie verstand nichts. Nicht, warum das jetzt so wehtat. Auch nicht mehr, warum sie dort war, wo sie war. Die Kälte machte alles langsam. Auch ihr Denken. Vorhin noch wusste sie es. Allmählich fanden die Gedankenfetzen wieder zusammen. Das Vergessen war so nah.
„Komm mit!“, hatten sie gesagt. „Es ist zu kalt.“
„Geht ihr schon! Ich schau mal. Vielleicht komm ich nach. Oder ich geh in die Bank oben an der Straße. Wenn’s ganz arg wird.“
Man konnte hineinschlüpfen, wenn einer den Vorraum verließ, nachdem er Geld gezogen hatte. Wenn man schnell war und die Tür erwischte, bevor sie zufiel. Aber sie würde nicht in die Bank gehen. Nicht ein zweites Mal. Es war warm dort. Aber die Menschen, die reinkamen und sie dort liegen sahen und dann so taten, als wäre sie unsichtbar! Sich abwendeten voller Abscheu, als hätte sie eine ansteckende Krankheit mit hässlichen Pusteln im Gesicht, als wäre sie nicht nur ein müdes Mädchen, das draußen fror. Vielleicht wollten sie auch nicht daran denken, dass nicht alle Menschen ein paar Zahlen in eine Maschine tippen konnten und dann das Geld mitnehmen, das sie für einen Einkaufsbummel brauchten oder ein leckeres warmes Essen. Der Blick von einem Mann saß ihr tief im Gedächtnis. Der Schrecken darin, als er sie hinter dem Geldautomaten liegen sah. Sein Ekel. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so geschämt. Für alles. Dafür, dass sie so war, wie sie war. Dafür, dass sie da war, wo sie nicht sein durfte. Dafür, dass es sie gab.
Sie war viel lieber in ihrem Versteck. Im Sommer hörte sie oft noch bis spät nachts Stimmen von Spaziergängern. Manchmal einen Hund, der zu nah kam. Aber es war nicht Sommer.
Sie legte ihre Arme um sich. Dann kam das Zittern. Überall. Sie versuchte es abzustellen. Einfach aufhören. Halt still. Entspann dich! Aber es nahm Besitz von ihr. Schüttelte sie. Am schlimmsten am Nacken. Dann an den Schultern. Krämpfe. Die Muskeln wollten nicht mehr. Wollten endlich Ruhe.
Das bisschen Wärme, das sie vom Gehen noch im Körper hatte, war längst verflogen. Sie sollte jetzt bei den anderen sein. Aber auch dieser Gedanke verschwand, als die Schmerzen in ihren Gliedern nachließen. Sie erinnerte sich an eine warme Küche. An den Geruch nach Essen. Nach ihrer Lieblingssuppe mit Kartoffeln und Lauch und Würstchen. An eine Stimme, die sie an den Tisch rief. An Mamas Lachen.
Schritte. Kam jemand? Wieder Stille.
Sie sah Mama, die abends an ihrem Bett saß und ihr vorlas oder fragte, wie ihr Tag gewesen war. Wie gut es tat, ihr Dinge zu erzählen, die sie bedrückten! Sie fühlte das sanfte Streicheln über ihr Gesicht, bevor sie aufstand und das Licht löschte. Sie spürte den Kuss an ihrer Wange, wenn sie sich morgens auf den Weg in die Schule machte. Hörte das fröhliche Geplapper ihrer Freundinnen, die sie an der Ampel über die Hauptstraße traf.
Sie saßen in benachbarten Bänken in der Klasse, tuschelten und lachten, bis manchmal eine Lehrerin sie versetzte, weil sie zu viel schwätzten und zu wenig zuhörten. Sie trafen sich an den Nachmittagen. Manchmal durften sie beieinander schlafen. Dann unterhielten sie sich die halbe Nacht. Sie wusste ihre Namen noch.
Endlich kam die Wärme zurück. Zu viel jetzt. Zu viel und zu schnell. Sie riss sich die Jacke vom Körper. Die Stiefel von den Füßen.
Endlich war das Zittern weg und eine wunderbare Stille kehrte ein. Sie betrachtete den Mond. Fast voll war er. Es fehlten nur noch ein oder zwei Tage. Man konnte aus der Rundung ein Z machen. Ein komisches, mit einem Bauch oben anstatt eines spitzen Zackens. Z wie zunehmend. Ihre Mama hatte ihr erklärt, wie man bestimmen konnte, ob der Mond zu- oder abnahm.
Durch die Zweige betrachtete sie die weiße beschienene Fläche, wo an einem Sommertag eine Wiese war, wo so viele Menschen saßen, sich unterhielten, aßen und tranken, spielten.
Den harten Baumstamm im Rücken spürte sie nicht mehr. Noch einen Augenblick hinlegen. Ausstrecken. Ganz kurz nur. Ihrem müden Körper Ruhe gönnen, jetzt, wo er nicht mehr zitterte.
Durch eine Lücke in den Ästen sah sie ein paar Sterne. Winzige Punkte mit wenig Licht. Der Mond schien zu hell. Sie erinnerte sich an eine Empfindung, die sie als kleines Mädchen gehabt hatte. Nur an das Gefühl, nicht an mehr. Ein „Alles ist gut.“-Gefühl. Ein kleines Glück, für das kleine Kind, das sie gewesen war. Später erst kam die Ahnung, dass es ein großes verlorenes war.
Gleich würde sie nach Hause gehen. Aber noch nicht jetzt. Jetzt war es zu schön, zu friedlich.
Im Einschlafen hörte sie wie aus weiter Ferne das Knirschen von Schritten auf dem Schnee, feste eilige Schritte, ein Knacken von Zweigen. Atemgeräusche. Wo sie eben noch Sterne betrachtet hatte, tauchte ein dunkles Gesicht auf.
„Hab ich’s mir doch gedacht, Aschenputtel.“
Zwei starke Arme ergriffen sie, hoben sie hoch, wickelten sie in Decken. Kräftige Hände rubbelten ihren Rücken, ihre Schultern und Arme.
„Es ist doch noch viel zu früh für Drüben.“
„Matthias“, murmelte sie.