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Das Klischee

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08.08.2004
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Das Klischee

Das Klischee

Es ist kurz nach Mitternacht. Noch knapp zwei Stunden bis zur Sperrstunde. Ist nicht viel los heute. Ein Pärchen hinten rechts in der Ecke. Die sollten besser nach Hause gehen und da weitermachen. Am Billardtisch 3 Jungs, Studenten wahrscheinlich. Und an der Theke dieser Typ. Der starrt in sein leeres Whiskeyglas als gäbe es kein Morgen.
„Nehmen Sie noch einen?“ frage ich ihn.
„Hm... besser nicht“, antwortet er. „Am Ende hilft das auch nicht.“
„Hey Mann, so schlimm kann es doch gar nicht sein.“ Keine Reaktion, er starrt weiter vor sich hin. Ich bin eigentlich nicht scharf darauf, mir die Probleme anderer Leute anzuhören. Aber dieser Typ sieht nicht so aus, wie die üblichen Loser hier, die an der Bar sitzen und ihren Kummer im Alkohol ertränken. Der hier ist anders. Guter Anzug, gepflegte Erscheinung. Wahrscheinlich so Mitte Dreißig. Meine Freundin würde ihn wohl attraktiv nennen.
„Kommen Sie, der geht aufs Haus.“ Als ich ihm den Whiskey hinstelle, schaut er hoch und seufzt. „Danke“, murmelt er.
„Hört sich vielleicht abgedroschen an“, sage ich, „aber morgen sieht alles schon wieder ganz anders aus. Ich sehe hier fast jeden Abend Typen sitzen, die in ihr Glas weinen, als ginge die Welt gleich unter. Zwei Tage später sind sie wieder da, ´n Mädchen im Arm und haben den Spaß ihres Lebens.“ Langsam nimmt er einen Schluck, stellt das Glas wieder hin und schaut mich an. „Das kann schon sein“, sagt er. „Nur ist mir mit einem Mädchen im Arm nicht geholfen.“ Er wendet sich wieder seinem Whiskey zu. Einer der Billard-Jungs kommt an die Theke und ordert noch eine Runde. Während ich das Bier zapfe, werfe ich einen Blick auf den Trauerklos. Er schwenkt sein Glas, lässt die Eiswürfel klirren. Scheint tief versunken in seine Gedanken. Als der Student mit dem Bier abzieht, schnappe ich mir ein Tuch und beginne, Gläser zu polieren.
„Ist schon ein ganz schönes Klischee“, höre ich plötzlich die Stimme des Fremden. Ich drehe mich um und schaue ihn fragend an.
„Ich meine, einem Barkeeper sein Leid zu klagen.“ Er lächelt traurig.
„Na ja, bisher waren Sie ja noch nicht sehr gesprächig“, antworte ich und werfe das Tuch zurück in die Ecke. „Aber wenn Sie was loswerden wollen, nur zu. Ich hab Zeit.“
„Wissen Sie“, beginnt er langsam, „vor zwei Jahren war mein Leben noch völlig in Ordnung. Ich war verheiratet, hatte eine kleine Tochter. Im Job lief es gut. Ich hätte nie gedacht, dass es mir mal so gut gehen würde. Es war nahezu perfekt. Ich war glücklich. Und ich weiß, dass können nicht viele Leute von sich behaupten. Aber ich war es.“ Er atmet laut aus und leert dann sein Glas in einem Zug.
„Was ist passiert?“ frage ich. „Hat sie Sie verlassen und die Kleine mitgenommen?“
„Sie sind gestorben.“
„Oh Mann, Scheiße.“ Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.
„Es gab einen Autounfall. Ich saß am Steuer. Der Fahrer des anderen Wagens war betrunken. Er fuhr einfach bei Rot über die Kreuzung... direkt in die Beifahrerseite unseres Autos. Meine Frau war sofort tot. Meine kleine Tochter starb drei Tage später.“ Er streift sich mit der Hand übers Gesicht.
„Kriege ich noch einen Jack Daniels?“ Er hält mir sein Glas hin.
„Äh... natürlich, kommt sofort.“
Während ich ihm einschenke, überlege ich mir, dass ich nun auch ganz gut einen Drink vertragen könnte und fülle ein zweites Glas. „Was war mit Ihnen, wurden Sie nicht verletzt?“
„Ich lag einige Zeit im Krankenhaus... hatte aber außer ein paar einfachen Knochenbrüchen und Prellungen nichts Ernstes. Ich weiß nicht, welchen Schutzengel ich hatte, oder warum gerade ich einen hatte. Aber damals wünschte ich mir nur, ich wäre gestorben, und nicht meine Familie.“
Er macht eine Pause und nimmt einen Schluck. Ich tu es ihm gleich und betrachte ihn. Arme Sau, denke ich. Kein Wunder, dass dir ein Mädchen im Arm nicht helfen würde.
„Vielleicht können Sie sich vorstellen, dass mein Leben damals für mich zu Ende war. Ich bin fast durchgedreht. Ich weiß, dass ich keine Schuld hatte. Aber ich konnte nicht verstehen, warum ich verschont worden war.“
Lautes Gelächter dringt vom Billardtisch herüber. Irritiert schaut sich der Mann kurz um. Dann redet er weiter. „Ich fing wieder an zu arbeiten... ich musste mich irgendwie beschäftigen. Ich konnte nicht mehr länger zu Hause rumsitzen. Ich suchte mir eine neue Wohnung und stürzte mich in die Arbeit. Nur nicht nachdenken, war meine Devise. Das ging ungefähr ein Jahr so. Ich war völlig kaputt - ein Wrack. Psychisch und seelisch am Ende. Dann traf ich diese Frau. Ich kannte sie von früher, sie war die beste Freundin meiner Frau. Ich hatte sie seit der Beerdigung nicht mehr gesehen. Ich hab damals alle Kontakte abgebrochen. Ich konnte das Mitleid in ihren Augen nicht ertragen.“
Mit beiden Händen fährt er sich durch die Haare. Für einen Moment scheint er wieder ganz versunken in Erinnerungen. Ich trinke meinen Whiskey und stelle das Glas auf den Tresen. Das Geräusch holt ihn zurück.
„Ich traf sie ganz zufällig“, fährt er fort. „Irgendwie hat sie es damals geschafft, dass wir uns auf einen Kaffee verabredeten, zum Reden. Sie sah, wie schlecht es mir ging und dachte wohl, reden täte mir gut. Und das tat es. Zum ersten Mal nach über einem Jahr sprach ich über den Unfall. Über meine Frau und meine Tochter. Es war, als könnte ich gar nicht mehr aufhören. Ich fühlte mich verstanden - und sicher. Mir wurde klar, dass auch sie durch die Hölle gegangen war. Sie hatte ihre Freundin verloren. Ich verstand erst dann, wie tief ihre Freundschaft gewesen war. Dieser Verlust verband uns auf eine traurige Art.
Wir begannen, uns regelmäßig zu treffen. Wir gingen essen oder spazieren und redeten. Anfangs nur über unseren Schmerz. Dann auch über andere Dinge. Was im Job passierte und so. Schließlich sprachen wir so gut wie gar nicht mehr über den Unfall. Es war, als hätten wir alles dazu gesagt, alle Gefühle durchlebt. Wir begruben gemeinsam die Vergangenheit, auch wenn sie immer noch präsent war. Und es immer sein würde. Durch die Freundschaft zu dieser Frau begann ich wieder zu leben. Mein Leben veränderte sich. Es bekam wieder einen Sinn.
Dann geschah das für mich Unfassbare. Ich verliebte mich in sie. Das hat mich völlig umgehauen. Ich habe meine Frau so sehr geliebt, dass ich nie für möglich gehalten hätte, eine andere Frau lieben zu können. Ich habe nicht mal darüber nachgedacht. Auch nicht ein einziges Mal in all den Monaten mit dieser Frau. Aber plötzlich war es da, das Gefühl. Und es war wunderbar und furchtbar zugleich. Wunderbar, weil ich wieder liebte. Und furchtbar, weil mir klar war, dass ich es ihr nie würde sagen können. Für sie war ich der Freund, mit dem sie gemeinsam ein schwere Zeit durchstanden hatte. Ich wusste, ich würde sie und ihre Freundschaft verlieren, würde ich ihr von meinen Gefühlen erzählen.“
Er verstummt, als das Pärchen aus der Ecke an die Theke kommt. Sie zahlen und verschwinden eng umschlungen zur Tür hinaus.
„Wie ging es weiter?“
„Es war nicht einfach“, fährt er fort. „Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Wir trafen uns weiterhin, gingen ins Restaurant oder ins Kino.
Eines Tages, Monate später, lud sie mich zum Essen ein. Wir tranken Wein, vielleicht etwas zuviel Wein, es war ein schöner Abend. Dann war da dieser Moment... sie lachte über etwas, dass ich sagte und ihr fiel eine Haarsträhne ins Gesicht. Ich konnte nicht anders, ich strich ihr die Haare aus dem Gesicht und streichelte ihre Wange. Sie sah mich überrascht an. Bevor sie etwas sagen konnte, küsste ich sie. Zuerst zögerte sie, doch dann erwiderte sie den Kuss. Eines führte zum anderen und wir verbrachten die Nacht miteinander. Für mich war es die Erfüllung. Ich wusste, ich würde wieder glücklich sein können. Und nach all der Zeit würde ich ihr endlich sagen können, dass ich sie liebe. Sie schien ja genauso zu empfinden.
Umso überraschter war ich, als ich am nächsten Morgen aufwachte, und sie war nicht da! Ich wartete den ganzen Tag in ihrer Wohnung. Als klar war, dass sie nicht kommen würde, ging ich schließlich nach Hause. Ich verstand die Welt nicht mehr und zermarterte mir den Kopf, was geschehen sein könnte. Ich war nicht einmal dazu gekommen, ihr zu sagen, was ich für sie empfinde. Sie ging nicht ans Telefon, öffnete nicht die Tür. Auf der Arbeit sagte man, sie hätte frei genommen. Ich drehte fast durch.
Drei Tage später hatte ich eine Nachricht auf dem AB. Es täte ihr Leid, was passiert sei, der Alkohol wäre wohl Schuld gewesen. Wir seien schließlich Freunde und wahrscheinlich sei das alles nur passiert, weil wir uns gegenseitig hätten trösten wollen. Wir sollten dem Ganzen nicht so viel Bedeutung beimessen. Sie jedenfalls müsse geschäftlich verreisen und wisse nicht, wann sie wieder da sei.“
Er macht eine Pause und trinkt seinen Whiskey aus.
„Oh Mann“, sage ich, „das lief ja ganz schön daneben. Was haben Sie gemacht?“
Er schüttelt den Kopf. „Was konnte ich tun? Sie war nicht da! Ich wollte mich nicht nur trösten, und ich war geschockt, dass sie das dachte. Ich musste dringend mit ihr reden, aber ich wusste nicht, wo sie war oder wann sie wiederkommen würde. Ich wusste auch nicht, ob sie jemals wieder mit mir reden würde. Also tat ich das einzige, was ich in dieser Situation tun konnte. Ich schrieb ihr einen Brief. In der Hoffnung, dass sie ihn wenigstens lesen würde, wenn sie schon nicht mit mir sprechen wollte. Das war vor zwei Wochen.“
„Und... haben sie was von ihr gehört?“
„Nein, kein Wort. Ich weiß nicht mal, ob sie wieder da ist.“
Er greift in sein Jackett und zieht seine Geldbörse raus. „Das war meine Geschichte. Die Geschichte eines traurigen Mannes. Ich geh jetzt besser nach Hause.“
Er lächelt müde. „Was bin ich ihnen schuldig?“
Ich räume die Gläser weg. „Lassen se mal stecken“, sage ich. „Sie sind eingeladen. Und wer weiß, vielleicht wird ja noch alles gut. Sie hätten es verdient, nach allem, was Sie durchgemacht haben.“
„Ja, wer weiß.“ Seine Stimme klingt nicht überzeugt. „Danke fürs Zuhören. Und die Drinks.“
Er hebt zum Abschied die Hand und geht zur Tür. Kurz bevor er diese erreicht, klingelt ein Handy. Sein Handy.
„Ja?“ meldet er sich und bleibt stehen. „Oh mein Gott! Wo bist du gewesen? Ich bin fast durchgedreht vor Sorge!“ Er lauscht einen Moment, dann setzt er sich wieder in Bewegung.
Während er fast zur Tür raus rennt, höre ich ihn noch sagen: „Du hast ihn also gelesen... Was denkst du...?“
Dann ist er weg.
Ich schaue ihm nach und muss lächeln. Mein Gefühl sagt mir, dass auch dieser Typ in weniger als zwei Tagen wieder ein Mädchen im Arm haben wird. Sein Mädchen.

 

*applaus* bin beeindruckt. Sehr real, mag die Art wie du den Barkeeper darstellst. Er ist ziemlich ... wie soll ich sagen, herb. Und dabei eindeutig ein gutes Herz, tolle Erzählerrolle.
Und die Geschichte ergreift, weiß nicht, ich denke sie besticht einfach durch ihre Nähe zum Leben. Echt klasse gemacht. Weiter so.

 

Hallo Mitternachtstraum,
danke für das Lob! Ich freue mich, dass dir meine Geschichte gefällt. Vor allem, da es die erste ist, die ich hier gepostet hab. :)

 

Hallo bribabe,

eine schöne Geschichte, die du gut erzählt hast. Vor allem fand ich sehr angenehm, dass du uns die Aussicht auf das positive Ende gönnst und deinen Prot nicht (wie es wahrscheinlich die meisten gemacht hätten) im Suff beim Verlassen der Kneipe vor das nächste Auto jagst. Sehr angenehm.

Einige Fehler sind mir noch aufgefallen.

Aber ich konnte nicht verstehen, warum ich verschont wurde.“
falscher Tempus. verschont worden war.
„Irgendwann fing ich wieder an zu arbeiten... ich musste mich irgendwie beschäftigen. Ich konnte nicht mehr länger zu Hause Rumsitzen.
ein "irgend vielleicht streichen? eht zwar in der wörtlichen Rede und liegt auch nahe, nimmt aber trotzdem den Fluss.
rumstizen aber auf alle Fälle klein (genau wie nachdenken etwas später).
Lieben Gruß, sim

 

Hallo Sim,

danke fürs Lesen und für deine Anmerkungen. Freut mich, dass du das Ende als angenehm empfindest. Es muss halt auch mal einen positiven Ausgang geben! Oder zumindest die Aussicht darauf. :)
Fehler hab ich behoben.

Liebe Grüße,
bribabe

 

Hallo Maggie3,

schön, dass dir meine Geschichte gefallen hat. Danke für das Lob!

Liebe Grüße,
bribabe

 

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