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Das Lachen der Kinder
Ich erinnere mich noch sehr genau an den Tag, als ich vor fast 40 Jahren den alten Mann traf. Und ich will euch diese Geschichte nun erzählen, denn es wäre falsch, solch eine Geschichte für sich zu behalten.
Es war ein warmer, sonniger Tag im Oktober, als ich mit meinem Hund durch den Wald spazieren ging. Ich genoss die Natur und hing belanglosen Gedanken nach. Selten traf ich jemanden auf diesem Waldweg. Ihr könnt euch also vorstellen, dass ich schon etwas überrascht war, als mir ein alter Mann mit einem dieser altmodischen Hüte auf dem Kopf entgegenkam. Er grüßte freundlich und ich erwiderte den Gruß. Doch als ich an ihm vorübergehen wollte, packte er mit einem Mal meinen Arm. Erschrocken zuckte ich zurück, doch er sprach ganz ruhig: "Warum bist du hier?"
Ich erinnere mich noch gut an diese Worte. Sie haben mich damals verwirrt, doch heute verstehe ich. Ich hatte viel Zeit nachzudenken. Nun, jedenfalls antwortete ich ihm damals: "Weil ich hier gern spazieren gehe." Darauf hätte er ja wohl auch von alleine kommen können. Ich dachte nur, dumme Fragen verlangen eine dumme Antwort. Doch der Mann ließ meinen Arm los und sah mich an. Und es waren diese Augen, die mich damals davon abhielten, einfach weiter zu gehen. Sie waren grau und alt, doch voller Erinnerung und Freude. Wie ein tiefer Brunnen voller Leben. Selten sieht man heute noch solche Augen, und auch damals waren sie schon selten geworden.
"Nein, du verstehst nicht.", sagte der Mann, "Ich meinte, warum gehst du spazieren? Du bist jung und junge Leute sitzen heute doch lieber vor dem Fernseher oder Computer und gehen auf Partys. Ist es nicht so?" Ich überlegte einen Augenblick, bevor ich antwortete: "Doch, aber ich gehe auch gern in die Natur." "Und warum?" frage er weiter. "Schon wieder genervt erwiderte ich: "Na, weil ich auch mal allein sein will und meine Ruhe brauche. Was fragen Sie denn solch dumme Sachen?" Doch er sah nur nachdenklich zu Boden und sprach leise, mehr zu sich selbst: "Seltsame Zeiten sind dies. Wir schaffen uns den perfekten Lebensraum, doch um allein zu sein, brauchen wir einen Wald. Dabei sind wir doch allein." Ich sah ihn verständnislos an, wie viele von euch es sicher auch getan hätten. "Wie meinen Sie das?" hakte ich nach. Der Alte hob den Kopf und sprach mit ernster Stimme: "Sieh mal. Wir Menschen bauen riesige Städte in denen wir leben. Und wir wohnen dort, weil wir dort Arbeit finden. Und wir arbeiten dort, um Geld zu verdienen. Das Geld geben wir für unsere Wohnung aus, für Nahrung und Unterhaltung. Denn wer nichts zu essen hat und wer nicht lacht, der kann auch nicht arbeiten. Auch geben wir Geld für Reisen und Ausflüge aus, weil wir uns auf Dauer in unserer Stadt eingesperrt fühlen."
"Wie meinen Sie das?" fragte ich ihn. Er lächelte wehmütig und fuhr fort: "Wir brauchen einen Fernseher, um zu wissen, was in der Welt um uns passiert. Wir brauchen ein Auto, um zu wissen, wie es hinter dem Hügel aussieht. Wir brauchen ein Telefon, um mit unserem Nachbarn zu reden. Wir brauchen ein Radio, weil wir jemanden singen hören wollen. Und glücklich sind wir dennoch nicht."
Er schloss die Augen. "Warum nicht?" fragte ich. Der Mann seufzte: "weil wir uns selbst verloren haben." Darauf erwiderte ich erstmal nichts. Genau wie euch jetzt, hatte mich der Mann damals sehr verwirrt. Verunsichert sagte ich: "Ich verstehe nicht..."
Da lächelte der Alte und sprach: "Die Frage ist nicht, ob du verstehst. Die Frage ist, ob es nicht klüger wäre, wir würden unsere Stadt verlassen. Wäre es nicht klüger, man würde einen Apfel plücken, wenn man hungrig wäre und aus einem Bach trinken, wenn man Durst hätte? Und wäre es nicht eine Freude ohnegleichen, den Tau auf hohen Gräsern im Mondlicht glitzern zu sehen?"
Darauf wusste ich erst einmal nichts zu erwidern und um das Schweigen zu brechen, fragte ich nach einer Weile vorsichtig: "Was wollen Sie?" Wieder lächelte er und sagte: "Weißt du das denn nicht? Ich vermisse das Lachen." "Das Lachen?" fragte ich erstaunt. "Ja, das Lachen", erwiderte er. "Kein gewöhnliches Lachen, versteht sich. Kein verrücktes Lachen oder spöttisches. Kein albernes oder falsches. Ich suche das einzige Lachen." "Das Einzige?" fragte ich. "Ja", sprach der Alte. "Ja, das Einzige. Das Lachen der Kinder. Das Lachen glücklicher Kinder, die einem Schmetterling nachjagen oder die versuchen, dicke Regentropfen mit dem Mund aufzufangen."
Da stellte ich mir diese Kinder vor, wie sie lachten und auch ich habe damals gelacht.
Und als ich mich wieder dem alten Mann zuwenden wollte, stand er schon nicht mehr neben mir. Ich sah ihn weit in der Ferne, wie er weiter seiner Wege ging. Er hatte mich dort auf dem Waldweg stehen lassen, mit all meinen wirren Gedanken und unzähligen Fragen. Trotzdem hielt mich irgend etwas davon ab, ihm einfach nachzulaufen.
'Schön blöd' werden einige von euch jetzt bestimmt sagen oder auch 'Lass ihn doch gehen, alter Verrückter!'. Und vielleicht waren es tatsächlich nur die Worte eines verrückten alten Mannes. Aber für mich waren sie sehr viel mehr. Und das Letzte, was ich von ihm in Erinnerung behielt, war der Glanz in seinen alten Augen, bei der Erinnerung an das Lachen der Kinder.