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Das Leopardenkostüm
Das Leopardenkostüm
"Rumdada rumm rumm", schallte es aus der Ferne.
"Nun ist es wieder mal soweit. Einmal im Jahr wurde ein Käppi aufgesetzt, sich zwei Herzen auf die Backen gemalt oder glänzende Sternchen ins Gesicht geklebt und einen auf lustig gemacht. Alle haben an Fastnacht gefälligst fröhlich zu sein, das gehört mit zum Guten Ton", dachte Martina.
Sie stand, bekleidet mit einem Leopardenkostüm, am Straßenrand. Man hätte sie für ein schmächtiges Mädchen halten können, aber erst beim näheren Hinsehen konnte man erkennen, dass sie eine erwachsene Frau war. Sie wartete schon seit einer Stunde auf den Frankfurter Fastnachtumzug und stand an einem der begehrtesten Zuschauerplätze. Ein paar Meter weiter entfernt befand sich die Prominententribüne, auf der sich unter anderem die Oberbürgermeisterin, Petra Roth und einige andere wichtige Persönlichkeiten der Stadt Frankfurt aufhielten. Gegenüber der Tribüne war der Hessische Rundfunk mit seinen beiden Zugkommentatoren stationiert. Die Motivwagen fuhren hier immer langsamer, um Bonbons und Pralinenschachteln kamerawirksam in die Menge zu werfen. Auch die Tanzgruppen und Spielmannszüge führten hier oft eine Extravorstellung auf.
Die Raubkatzenperücke mit integrierter, schwarzer Nase hielt wenigstens ihren Kopf warm. An ihren Zehen spürte sie allmählich ein taubes Gefühl, ihre dünnsohligen Pumps waren etwas zu sommerlich für diesen frostigen Februartag. Jedoch passten diese Schuhe hervorragend zu dem gelb-schwarz gefleckten Kleid mit dem knieumspielenden Zipfelrock. Es war Martina etwas zu groß, so dass sie einen Gürtel um ihre Taille als Halt gezogen hatte. Die kunstvolle Raubtierbemalung juckte in ihrem Gesicht. Martina schminkte sich normalerweise nie. Nach Beendigung ihres Fastnacht Make Up war sie überrascht, eine ihr völlig fremde Person schaute sie aus dem Spiegel an.
Ein paar junge Männer riefen ihr im Vorbeilaufen: "Hallo, flotte Mieze!" zu, das war eine ganz neue Erfahrung für Martina und sie war sehr stolz auf sich.
Das Trommeln aus der Ferne kam näher, Martinas Herz schlug vor Aufregung schneller und sie vertrat sich ihre Füße im Stehen, um wieder etwas Gefühl in ihre Zehen zu bekommen. Die Lautstärke der Musik aus den Lautsprechern schwoll an und mit einem dröhnenden "Helau" wurde der Zug begrüßt. Die Fasenachter waren spontan fröhlich und sangen: "Die Karawane zieht weiter, denn der Sultan der hat Durst, der Sultan der hat Durst" lauthals mit.
Ganz in Gedanken, sah Martina zu, wie der Spielmannszug der Freiwilligen Feuerwehr mit Schellenbaum, Fanfaren und großen Pauken, im Takt an ihr vorbeimarschierte. Eine Fahne mit der Aufschrift "Branddirektion Frankfurt" wurde hoch in die Luft geworfen und wieder aufgefangen.
Der Zug kam ins Stocken. "Bumm, bumm, bumm" wurde die Pauke geschlagen. Die Pferde des Reitercorps begannen ungeduldig auf der Stelle zu traben. Mit einem vor Aufregung schneller klopfenden Herzen hielt sie Ausschau nach Roland. Er war nicht unter den Reitern.
Martina hatte ihn auf der Geburtstagsparty ihrer besten Freundin Andrea, vor ein paar Wochen, kennen gelernt. Er war der Tennispartner von Andreas Mann.
"Der ist auch noch ein Solist", wurde er Martina vorgestellt. Er war sehr groß und trug seine dunkelbraunen Haare schulterlang. Verlegen trat er von einem Bein auf das andere, schaute die Geburtstagsgäste an und antwortete: "Nicht immer, ab und zu spiele ich auch mal ein Doppel." Als Roland im Laufe des Abends etwas vertrauter mit den Leuten wurde, entpuppte er sich als angenehmer Partyplauderer, der auch mal über sich selbst lachen konnte. Martina fand, dass er wunderschöne braune Augen hatte. Auch seine Figur war nicht zu verachten. Außer Tennis war er dem Reitsport noch sehr zugetan und er ging regelmäßig ins Fitnessstudio. Martina, die keinerlei Sport trieb, bewunderte das sehr. Als sie später zu Hause in ihrem Bett lag, musste sie andauernd an ihn denken. In seiner Gegenwart hatte sie sich sehr wohl gefühlt. Während sie sich fröstelnd in ihre Bettdecke einmummelte, träumte sie, er läge neben ihr und sie könnte sich bei ihm ankuscheln.
"Wie schön, dass er mit Andreas Mann befreundet ist", dachte sie, während sie allmählich wohlig müde wurde.
Roland, der eine winzige Studentenwohnung in Sachsenhausen bewohnte, saß von nun an nach dem Tennis öfters bei einem Glas Bier in Andreas gemütlichen Wohnzimmer. Martina war fast täglich bei ihr zu Gast, voller Erwartung ihren Schwarm anzutreffen. In ihrer Phantasie sah sie sich und Roland schon als Paar. Doch die Realität unterschied sich von ihren Träumen: Zwar war dieser Mann nett und charmant zu ihr, auch konnte sie mit ihm so herrlich ausgelassen herumalbern, aber leider gab es kein Anzeichen dafür, dass er ihre Gefühle erwiderte. Als er merkte, dass Martina schon mehr von ihm wollte, wurde er distanziert, so dass sie sich darauf besann, alles ganz in Ruhe anzugehen, denn möglicherweise hatte dieser Mann schon einige schlechte Beziehungserfahrungen hinter sich.
Sie beging dann einen großen Fehler, sie lud ihn zu sich nach Hause ein. Er bedankte sich höflich für die Einladung, sagte aber, er könne nicht garantieren, dass es bei ihm klappen würde. Von da an kam er nicht mehr. Martina versuchte so gut sie konnte, ihn zu vergessen, was ihr aber nicht gelang. Kurz vor den "närrischen Tagen" überbrachte Andrea ihr eine Nachricht, die sie "aus allen Wolken fallen lies": Der als verschollen geglaubte Roland wurde von Andreas Schwager im "Griesheimer Reit- und Fahrverein" gesichtet, zusammen mit einer hübschen Reiterin. Beide würden am Frankfurter Fastnachtsumzug teilnehmen. Martina konnte das nicht fassen und in ihr war Wut, Aufruhr. Höchstwahrscheinlich hatte Roland sich damals nicht aus reiner Schüchternheit, ihr gegenüber so reserviert verhalten.
Sie fuhr zu diesem Reitclub, es ließ ihr keine Ruhe, sie musste Klarheit haben. Auf einem verschneiten Feldweg sah sie Seite an Seite Roland mit einer zierliche Frau mit kurzen, rotblonden Haaren und einem niedlichen, sommersprossigen Gesicht, reiten. Sie hatten sich für den Ausritt hochbeinige Trakehnerpferde ausgeliehen. Das ganze wirkte wie aus einem Werbefilm für Reiturlaub. So würden die Beiden auch an Fasching nebeneinander hertraben.
Da wusste Martina, sie musste dieses Jahr unbedingt beim "Frankfurter Umzug" zusehen, obwohl sie ansonsten nicht gerade viel mit Fastnacht am Hut hatte.
Ein kleines, hartes, Bonbon, das ihr mit Schwung an die Stirn geworfen wurde, riss sie aus den Gedanken. Es stammte von einem Mann in einem grünen Musketierkostüm, der auf einem blumengeschmückten Gardewagen stand. Die Pferde, die hinter dem Prunkwagen hertrabten erweckten wieder Martinas Aufmerksamkeit. Plötzlich wurden die Tiere nervös und begannen unruhig zu tänzeln. Der Knall der Kanone von den "Grünen Funken" hatte sie etwas irritiert. Doch die Reiter hatten ihre Pferde schnell wieder im Griff.
"Diese Karnevalspferde sind enorm lärmresistent", dachte Martina und fingerte in der Jackentasche nach ihrer Taschenlampe und Kosmetikspiegel.
Mit viel Helau und Trara setzte sich der Fastnachtsumzug fort. Hinter einer Wolkendecke kam langsam die Sonne hervor. "Prima", dachte Martina "da kann alles nur noch besser werden."
Es gab wieder einmal einen Stopp. Die Tanzmariechen der "Roten Funken" nutzten die Unterbrechung für eine Gardetanzvorführung. Martina konnte diese "Hupfdohlen" nicht ausstehen und schaute interessiert auf den Motivwagen mit dem Thema "Flughafenausbau". Hinter den riesigen Flügeln des Flugzeuges aus Pappmaché sah sie eine Banderole mit der Aufschrift "Reit- und Fahrverein Griesheim e.V." auftauchen. Ihr Mund wurde trocken.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und das Riesenflugzeug fuhr vorüber. Die Pferde des Reitvereins schritten langsam und würdevoll an den Zuschauern vorbei.
Martina hatte sie entdeckt, schmuck gekleidet in schwarzer Gardeuniform und großem Federhut, saß Rolands Schätzchen sehr selbstbewusst und kerzengerade auf ihrem Pferd. Sie ließ ab und zu einen Blick über die Zuschauer streifen. Ein leichtes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Doch damit hatte sie nicht gerechnet: Ein greller Lichtblitz traf ihr Pferd ins rechte Auge. Das Tier brach seitlich aus und bäumte sich hoch auf. Die Reiterin wurde mit einem hohen Bogen in die Luft katapultiert und blieb seitlich verkrümmt auf dem Boden liegen, die Hand vor dem Gesicht.
"Mein Bein, mein Bein", stöhnte sie.
Sanitäter kamen herbeigeeilt und trugen das Mädchen auf einer Bahre von der Straße. In der Zwischenzeit versuchten einige Reiter das aufgebrachte Tier zu beruhigen. Martina steckte ihren Taschenspiegel unauffällig zurück in die Jacke. Ängstlich schaute sie sich um, doch niemand schien sie sonderlich zu beachten. Es sah so aus, als ob alles wieder zur alten Tagesordnung überging. Die Kameraleute des Hessischen Rundfunks richteten ihre Apparate auf die Oberbürgermeisterin, die unter großem Applaus, einen Bembel überreicht bekam.
„Seltsam", dachte Martina. "Wo war Roland, als sein Schatz verletzt am Boden lag?"
"Ihren" Roland sah Martina zwei Zugnummern später im Hoppserschritt die Straße entlang springen, und zwar Arm in Arm mit einem hübschen, jungen Mann. Als der Zug vor der Tribüne ins Stocken kam, küsste er ihn demonstrativ auf den Mund. Ein anderer Mann deutete an weg zu müssen und übergab Roland ein großes Transparente, worauf stand:
"Am 17. Juli ist Christopher-Street-Party-Tag. Schwulen und Lesben: Macht euch stark!"