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Das Leuchten
Als er die Glocke hörte, drehte er sich um. Er kannte dieses Geräusch. Es war ihm vertraut.
Dann sah er sie. Ja, er kannte das Geräusch, ihr Kleid, die Glocke, die Haustür. Es war jedes Mal dasselbe. Jeden Morgen, jeden Tag. Immer wenn er hier stand und wartete kam sie.
Sie leuchtete, zumindest sah es so aus. War irgendwie anders.
Er wusste nicht warum, aber sie hatte immer das gleiche Kleid an. Mit Blümchen drauf und rosa Bärchen. Sie sah aus wie ein Kind, ein kleines Kind.
Er wunderte sich, heute war sie traurig, er konnte es sehen.
Das Leuchten war verschwunden. Wo war es hin? Wer hatte es weggenommen? Er blickte zu ihr. Sie blickte zurück. Ein Gefühl durchrann ihn. Er kannte dieses Gefühl, es war ihm vertraut.
Er spürte es, es wurde stärker.
Das Leuchten, wer hatte es ihr genommen? Er wusste es, er wusste es sehr genau.
Sie blickte ihm in die Augen. Über die Strasse hinweg. Er blickte zurück.
Und sie bannte ihn.
Er konnte seine Augen nicht abwenden, es ging nicht.
Was ist los mit dir? fragte er sich. Er bekam keine Antwort.
Sie stand immer noch da, vor ihrem Haus, der Haustür, der Glocke und starrte ihn an.
Sie war schön. Doch es war nicht die Schönheit, nein es war nicht sie, die ihn bannte.
Das Leuchten, er sah es, aber es war schwach. In ihren Augen, ganz tief, ganz weit hinten, er sah es.
Und er fühlte sich schuldig. Es war nichts. Es war gut.
Er ging einen Schritt Richtung Strasse. Es war nichts.
Er hörte ihre Schreie. Plötzlich, kurz und merkwürdig.
Er lauschte, hörte genauer hin. Er hörte nichts mehr. Jetzt fühlte er. Er fühlte sie, die Weiche, wie verletzlich.
Es war gut, nichts.
Sie starrte ihn an. Er ging weiter zur Strasse. Er spürte es, er war es. Schuldig, warum?
Was hatte er getan? Das war egal. Es war ja nichts.
Denn er blickte sie an. Sie war schön, aber nicht so schön. Weil das Leuchten, das Leuchten war weg.
Wer hatte es genommen? Er wusste es. Sehr genau.
Er war es gewesen. Er hatte das Leuchten genommen. Aber er sah es noch in ihren Augen.
Noch zwei Schritte zur Strasse. Er ging drei. Und blickte ihr in die Augen. Sie waren leer. Das Leuchten war weg.
Der Lastwagen konnte nicht mehr bremsen.
Aber das war egal, es war ja nichts.