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Das Mädchen des letzten Sommers

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09.06.2003
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Das Mädchen des letzten Sommers

Der grimmige Wind beugt die alte Kiefer, nimmt ihre Blätter in Gewahrsam, schleudert sie durch die Luft, lässt sie achtlos liegen und nimmt das Spiel mit ihnen wieder auf.
Die Tage gehen in dieser Zeit schnell. Achim wickelt sich das Handtuch um die Brust und rennt in der Ahnung eines Gewitters über den Sand, die Düne, durch den kleinen Waldabschnitt, dessen Geäst die Füße martert. Er spürt den ersten Regenhauch, gegen die Schultern, gegen das Gesicht. Warte doch bitte!“, schreit Anne.
Achim will stehen bleiben, wird aber auf den Zehenspitzen von den Stöckchen und Steinchen noch einige Meter vorangetrieben. Als sie ihn schließlich einholt, lächelt sie ihn dankbar an und sie gehen beide gemeinsam in die Hotelanlage.

Tim stand am Fenster und blickte noch eine Weile auf den jetzt leeren Strand. In Wirklichkeit wusste er gar nicht, wie der Junge und das Mädchen hießen, die da den Strand geräumt hatten. Er konnte natürlich auch nicht hören, was sie sagten, geschweige denn ihre Gesichtszüge von hier oben sehen. Aber so stellte er sich die Szene nun einmal vor, die er grade aus viel zu weiter Entfernung, um irgendetwas mitzubekommen, gesehen hatte. Als Tim und seiner Mutter die Koffer aus dem Reisebus in Richtung Hotelanlage geschleppt hatte, hatte Tim eine Windböe ins Gesicht geweht und wo Wind ist, ist meistens auch Regen. Außerdem war es letztes Jahr so ähnlich gewesen!
Die Scheibe war an den Seiten etwas dreckig und das Hotelzimmer, dass Tim bekommen hatte, war etwas klein. Diesmal hatte er aber zumindest sein eigenes Zimmer und musste nicht mit der Mutter in einem Zimmer schlafen. Es war schrecklich mit der Mutter in einem Zimmer zu schlafen, weil sie beim kleinsten Laut aufwacht und man daher immer zur gleichen Zeit wie sie ins Bett gehen musste, auch wenn das schon um 22 Uhr war, weil sie ja nicht zum Spaß hier war, sondern jeden morgen um halb fünf aufstehen musste, um zu ihrer doofen Tagung zu gehen. Noch nicht einmal auf Toilette konnte man gehen, wenn man mit der Mutter in einem Zimmer schlief, ohne sie zu wecken!

Tims Augen überflogen den Strand, doch da war niemand mehr, nur eine alte Frau, die schon seit einer Viertelstunde, seit Tim und seine Mutter hier angekommen waren, im Meer schwamm. Tims Augen wanderten zum Horizont, wo der Himmel rot wurde, schließlich auch die Sonne unter und Tims Augen wanderten auch über den kleinen Waldabschnitt zwischen Strand und Hotel und zum Balkon hin, er stützte sich sogar aufs Fensterbrett auf, um besser auf die Terrasse vor dem Hotel blicken zu können. Das Hotel hieß übrigens „Hotel am Waldstrand“ und der Strand hieß einfach nur „Waldstrand“.
Leider fing es nicht an zu regnen. Das Mädchen und der Junge waren offensichtlich einfach ins Hotel gegangen, weil es schon so spät war. Tim musste seine Vorstellung korrigieren.

Die Sonne geht tiefer und malt die Luft trübe, malt sie rot, wie an jedem dieser schönen Urlaubstage, um deren Ende das Herz im Grunde weinen möchte, aber dann doch in Demut schweigt.
Der warme Abendwind streichelt die Kiefer, streichelt über Annes Haut und zaust ihr die Haare. Sie schaut auf die Uhr und atmet die salzige Luft mit einem vorwurfsvollen Zug ein. Die Zeit geht in diesen Tagen schnell. „Achim, los, wir müssen doch um sieben Uhr beim Abendessen sein und uns vorher noch umziehen!“, ruft sie.
Achim wickelt sich das Handtuch um die Brust und rennt über den Sand, die Düne, durch den kleinen Waldabschnitt, dessen Geäst die Füße martert. Sie müssen sich beeilen, wenn sie das noch schaffen wollen. Die warme Abendluft drückt ihm gegen die Schultern, gegen das Gesicht, so schnell läuft er. „Warte doch bitte auf mich!“, schreit Anne.

„Los, komm’, wir müssen zum Essen!“, sagte die Mutter und schaute durch die Tür in Tims Zimmer. „Ich komme gleich!“, antwortete Tim und setzte sich auf das Bett, um sich die Schuhe wieder anzuziehen, die er nach der langen Autofahrt so froh war ausziehen zu können. Er fühlte sich von der Mutter auf sonderbare Weise ertappt und zog die Schuhe mit hektischen Bewegungen an. „Beeile dich!“, sagte die Mutter, mit einem zwinkernden lächeln und verschwand wieder in der Tür.

Achim will stehen bleiben, wird aber auf den Zehenspitzen von den Stöckchen und Steinchen noch einige Meter vorangetrieben. Als sie ihn schließlich einholt, lächelt sie ihn dankbar an und sie gehen beide gemeinsam in die Hotelanlage.

Tim stützte sich auf das Geländer der Treppe und stieß mit dem rechten Fuß gegen die Eisenstangen, von denen das Geländer gestützt war. So war das mit der Mutter. Sie sagte immer, man solle sich beeilen und sie war es, auf die man dann warten musste. Sie sagte, man solle bloß pünktlich sein und sie war es, die zu spät kam. Das hier war kein besonders tolles Hotel, es war sogar eines der schlechteren, in denen Tim gewesen war. Die Mutter war nur hier, weil sie hier ihre alljährliche Tagung hatte und Tim war nur hier, weil ihn die Mutter unter zweifelhaften Vorwänden mitgeschleppt hatte. Sie hatte ihn sozusagen gezwungen mitzukommen, während seine große Schwester, Heike, und der kleine Bruder Bodo zu Hause bleiben durften. Die Mutter war der Meinung, dass es Tim an sozialen Kontakten fehle und er, anstatt die ganze Zeit in den Ferien in seinem Zimmer herumzugammeln (Tim hatte nämlich leider immer noch Sommerferien, wenn seine Mutter die Tagung hatte) mit ihr kommen müsse, um Kinder in seinem Alter kennen zu lernen. In den Sommerferien waren nämlich viele Familien im „Hotel am Waldstrand“. Früher war das mit den sozialen Kontakten nie gut gegangen. Er hatte wohl mal ein Wort mit einem Jungen gewechselt und die Mädchen beobachtet, was ja auch etwas war, aber sich mal wirklich mit jemandem in seinem Alter unterhalten, oder gar angefreundet, hatte er nie. Eher hatte er noch Kontakte zu alten Ehepaaren aufgebaut. Nur im letzten Jahr war alles ganz anders gewesen. Da hatte er ein Mädchen kennen gelernt, dass unglaublicher Weise in seinem alter war und tatsächlich Tim als Urlaubsfreundschaft auserkor! Das war alles sehr aufregend gewesen und Tim wäre am liebsten nie wieder nach Hause gefahren.
„Los, gehen wir!“, forderte ihn die Mutter auf, die plötzlich hinter Tim stand und setzte dann noch nach, als Tim schon vom Geländer heruntergehopst war: „Und klettere nicht immer überall herum! Du weißt doch, dass wir hier in einem Hotel sind und man sich da anständig benehmen muss!“. Sie meckerte ständig irgendetwas, Tim konnte das nicht mehr ernst nehmen. Zumindest war die Mutter noch vor Weihnachten gekommen!

Im Essensraum war voller Betrieb. Tim traute sich am Anfang immer kaum herein, obwohl er den Essensraum ja aus den Jahren zuvor kannte. Aber es war immer wieder ungewohnt da einfach so herein zu gehen. Der Raum war der gleiche, aber die Leute waren andere, an deren Gesichter man sich erst gewöhnen musste. Aber die Mutter schienen die neuen Leute nicht zu stören, sie spazierte einfach in die Kantine, als gehöre ihr das ganze Hotel. Sie zog Tim da sozusagen mit herein. Zack - drin war er. Wenn man erstmal drin war, war alles halb so schlimm, dann gehörte man ja irgendwie dazu.
Die Leute schienen auch keinerlei Notiz von Tim zu nehmen. Das beruhigte ihn. An einem Tisch irgendwo in der Tiefe des Raumes meinte Tim das Mädchen und den Jungen zu sehen, die in seiner Phantasie bereits Anne und Achim hießen. Da waren auch sonst wieder viele Kinder in Tims alter, aber noch mehr kleinere. Er nahm seinen Teller, Besteck und folgte der Mutter, die sich reichlich am Büfett bediente. An so etwas sah man ganz deutlich, dass das hier kein besonderes Hotel war - ein Selbstbedienungsladen eben.
Tim hatte keinen großen Hunger. Er nahm sich ein Vollkornbrot, eine dieser kleinen, abgepackten Butterstückchen und zwei Scheiben Käse. Dann folgte er der Mutter und streifte die Leute im Essensraum mit seinem Blick im Vorbeigehen. Da waren einige greise Ehepaare, einige junge Leute ohne Kinder und einige Leute in mittlerem Alter mit Kindern. Natürlich gab es da auch Ausnahmen. Zum Beispiel schien ein greises Ehepaar sein kleines Enkelkind mitgebracht zu haben.
Das Enkelkind, ein sehr kleiner Junge von vielleicht vier Jahren, beklagte sich bei seiner Großmutter mit verzogenem Gesicht und weinerlicher Stimme über etwas, sie versuchte ihn zu beschwichtigen. Gleich am nächsten Tisch saß eine ungefähr zehnköpfige Familie mit einer sehr schönen ältesten Tochter und einem nett aussehenden Sohn in Tims alter. Wie viele Kinder da eigentlich saßen, konnte Tim im vorbeigehen nicht erfassen, aber der ganze Tisch war voll. Die älteste Tochter war vielleicht ein oder zwei Jahre älter als Tim, wieder ein Mädchen in der langen Liste, in die sich Tim verguckt hatte.

Die Mutter setzte sich an einen Tisch ganz hinten in die Ecke des Essensraums, dort, wo auch Anne und Achim saßen, die Tim im Vorbeigehen genau betrachten konnte. Tim konnte Achim nur von hinten sehen. Er hatte für einen Jungen durchschnittlich lange Haare, im Nacken ausrasiert. Anne saß Achim gegenüber und blickte Tim beim vorübergehen einmal an, so dass er den Blick sofort von ihr abwenden musste. Auch sie hatte blonde Haare, etwas länger als bis zu den Schultern. Es war eigenartig, alle Mädchen, die Tim kannte und die mit „A“ anfingen, hatten blonde Haare. Anettes Augen waren aber braun und sie hatte so ein süßes Augenzwinkern ins Gesicht eingebaut, so etwas kannte Tim schon. Es zwang einen immer wieder hinzusehen und zu gucken, ob es noch da war. Wahrscheinlich war ihre kleine Nase daran schuld. Die meisten Gesichter sind hässlich, wenn man sich auf die Nase konzentrierte, bei Anne war das anders. Es war unwahrscheinlich, dass Tim schon einmal so eine schöne Nase gesehen hatte. Sie war jünger als Achim, schien aber immer noch älter zu sein als Tim.
Der Tisch war eigentlich viel zu groß für Tim und seine Mutter, es standen sechs Stühle dran. Als die Mutter ihren Stuhl zurückzog, um sich hinzusetzen, schrubbte und quietschte er über den Boden. Ihr schien das gar nichts auszumachen, obwohl es sehr laut war, und sie zog weiter und rückte danach auch wieder unter dem gleichen Lärm an den Tisch heran, aber Tim erstarrte innerlich für kurze Zeit und guckte zu Achim und Anne herüber. Die schienen sich daran aber gar nicht zu stören, guckten noch nicht einmal herüber und redeten einfach weiter. So etwas bewunderte Tim, einfach weiterreden, auch wenn die Welt untergeht.

„Warum isst du denn nicht anständig?!“, fragte die Mutter in vorwurfsvollem Ton. „Glaubst du, ich bezahle dir hier dein Abendessen, damit du dir hier eine Käsestulle isst? - Und zu trinken musst du dir sowieso noch holen!“
Tim hatte keinen großen Hunger. Die Mutter schien schon wieder vergessen zu haben, dass er sie am Bahnhof angebettelt hatte, ihm doch eine Käsestange beim Bahnhofsbäcker zu holen, bis er die sie schließlich von seinem eigenen Geld gekauft hatte. Durst hatte Tim erst recht nicht, in seinem Rucksack war noch eine halbe Colaflasche, die er noch nicht ausgetrunken hatte. Die Gelegenheit war aber gut, um sich beim vorübergehen die Leute noch einmal zu betrachten und an die Käsestange sollte er die Mutter sowieso nicht erinnern.
Tim entdeckte noch ein paar hübsche Mädchen, aber das Mädchen, mit dem er sich letztes Jahr angefreundet hatte (er hatte leider ihren Namen vergessen, irgendetwas mit J…, konnte ihre Züge aber noch ziemlich gut im Kopf heraufbeschwören), war nicht dabei. Nur eins sah ihr etwas ähnlich, hatte auch lange, braune Haare in der richtigen Farbe. Aber die Augen waren braun und etwas größer, die Nase etwas länger, so, dass ein ganz neues Gesicht entstand. Sie hatte nicht so zarte Züge und ein etwas runderes Gesicht, etwas dickere Lippen, war objektiv betrachtet wohl aber genauso schön.

Tim goss sich etwas von dem grässlichen Kamillentee ein, etwas anderes gab es zum Abendbrot hier nie. Die Tasse trug er zurück zu seinem Platz. Die dritte Kandidatin in Tims persönlichem Schönheitswettbewerb, saß direkt am Eingang und Tim wunderte sich, dass sie ihm nicht schon beim Hereingehen aufgefallen war.
Sie hatte fast schwarze, glatte, Haare und von der Seite schien sie hellblaue Augen zu haben, ganz weiße, blasse Haut. Im Grunde könnte sie Schneewittchens kleine Schwester sein. Tim hatte sich nie die Mühe gemacht sich Schneewittchen vorzustellen, die Comiczeichnungen hatten ihm gereicht, aber dieses Mädchen konnte er sich wirklich gut als Schneewittchens kleine Schwester vorstellen.

Tim stellte den Kamillentee auf seinen Platz und machte sich erneut auf den Weg, um sich noch etwas zu essen zu holen, wie es die Mutter verlangt hatte. In früheren Jahren waren es immer nur eins, meist zwei schöne Mädchen gewesen, die mit Tim zusammen Urlaub machten. Trotzdem konnte er sich nicht darüber freuen, es wäre ihm viel lieber gewesen, wenn nur das Mädchen vom letzten Jahr da wäre.

Als Tim sein Müslischälchen (er hatte Glück, denn Müsli bot das Hotel abends sonst nur selten an) auf seinen Platz zurück balancierte, war die Mutter mit dem Abendessen schon fast fertig, obwohl sie sich so viel genommen hatte.
Er stellte das Müsli und setzte sich endlich. „Du hast heute keine Lust mit mir zu essen, oder Tim?“, fragte ihn die Mutter im Scherz. „Doch, aber versuch du mal eine Teetasse und ein Müslischälchen gleichzeitig zu tragen!“
Das schien die Mutter zu überzeugen, jedenfalls entgegnete sie ihm nichts. Das konnte aber auch daran liegen, dass sie eine Milchallergie hatte.

Das Käserot war sehr trocken, obwohl in diesen Butterpaketen immer viel zu viel drin ist, wodurch es unter dem Käse gleichzeitig schmierig war. Jedenfalls kratzte es Tim im Hals und machte ihn durstig. Seinen Tee trank er aber trotzdem nicht. Er mochte keinen Tee und wollte sich dadurch nicht den Appetit verderben. Da die Mutter schwieg, konnte Tim sich ganz auf das Gespräch am Nebentisch, in der anderen Ecke des Raums, zwischen Achim und Anne konzentrieren. Es ging um die Frage, was die beiden heute Abend machen wollten. Sehr interessant für Tim, vielleicht ließe es sich ja einrichten, dass er ganz zufällig dasselbe tat. Der Junge wollte „Die Siedler von Catan“ spielen, ließ sich aber schnell vom Mädchen überzeugen ins hoteleigene Hallenbad zu gehen, weil da abends kaum mehr jemand sei. Tim wollte heute Abend auch ins Hallenbad gehen.

Das Müsli schmeckte gut, wie immer. Sie hatten plötzlich eine ziemlich große Schüssel voller „Smacks“ hier im Hotel, wie sie Tim auch zu Hause aß. Das war neu, früher gab es immer nur Müslizugehör ohne Zucker. Davon sollte man lieber die Finger lassen, wenn man sich die Zähne nicht ausbeißen wollte. Tims Mutter forderte immer, dass Tim seine „Smacks“ mit diesem zuckerlosen Zeug versetzte, aber das konnte Tim nicht machen. Die Mutter konnte auch fuchtig werden, wenn man sein Müsli nicht korrekt bezeichnete. Tims Müslis waren für die Mutter entweder „Kornflakes“ oder „Süßkram“.

„Los, du musst den Tee noch trinken, dann gehen wir hoch!“, forderte ihn die Mutter auf. Tim hatte gar nicht mitbekommen, dass er das Müsli schon aufgegessen hatte, weil er so in das Gespräch von Achim und Anne vertieft war, die jetzt über einen alten Mann lästerten, der immer genau um 16 Uhr an den Strand ginge, sich in den Sand kniete, bete und zur Sandbank schwamm, sich abtrocknete und wieder ging. Als Tim von der Mutter aus seinen Gedanken gerissen wurde, stand eine weiße Tasse mit gelbem Kamillentee vor ihm, die getrunken werden musste. Tim schüttete sich den Tee schnell herunter. Tee schmeckte wirklich grässlich, kaltes Wasser war ja manchmal erfrischend und konnte sogar gut schmecken, wenn man Sport gemacht hatte oder sehr durstig war. Aber dieses warme Wasser war nichts für Tim. Da konnte man zehn Teebeutel in die Tasse stecken, um angeblich einen Geschmack zu erzeugen, Tee schmeckte trotzdem immer nach abgestandenem Wasser, sogar, wenn er abgekühlt war.

Tim betrachtete zum Abschied noch einmal alle Mädchen und versuchte sie sich einzuprägen. Das war aber kaum möglich, weil die Mutter so schnell ging. Bei ihr musste immer alles ganz schnell gehen, wenn es um sieben Uhr Essen gab, dann musste sie auch um sieben damit anfangen und es um sieben Uhr fünfzehn beendet haben. So war die Mutter. Sie gingen die Steintreppe hinauf. Das Zimmer, oder die beiden Zimmer von Tim und seiner Mutter hatten die Nummer 212. Die Mutter schloss genauso auf, wie sie alles tat: hastig und laut.

Die Mutter räumte noch einige Sachen im Zimmer umher und würde sich bald fürs Bett fertig machen. Tim ging in sein Zimmer und machte die Tür hinter sich zu. Zuerst ging er an seinen Rucksack und nahm die Cola heraus, um einige kräftige Schlücke zu nehmen. Dann nahm er seinen karierten Block, die Federtasche und den Roman, an dem er momentan las, ein spannendes und persönliches Ding von John Grisham, „Der Regenmacher“.

Er nahm den Block und machte mit dem Füller Striche drauf. Er Malte die Kästchen aus, durchzog sie an ihren Diagonalen, und verband sie zu einem Muster, das er über das ganze Blatt ausweitete. Strich alles kaputt.

Er wollte irgendetwas Großes machen, wollte herumrennen, sich im Sand wälzen, etwas bewirken, vollbringen, die Erde zerstören. Aber er lag auf einem Bett in einem kleinen Hotelzimmer und vor ihm war nur ein Block, in seiner Hand ein Stift. Er wollte einen großen Roman schreiben, auf einen schlag berühmt werden.
Tim schrieb einen Satz, strich ihn durch und zerknüllte das Blatt. Er hasste sein Leben.
Tim schmiss sich auf sein Bett, wanderte mit seinen Augen an der vorbildlich sauberen Decke entlang und dachte an das Mädchen des letzten Sommers.
Das Mädchen aus dem Essensraum sah ihr äußerlich wirklich ähnlich. Sie waren der gleiche Typ von Mädchen, diese braunhaarigen, lieben Dinger, die alles tausendmal besser konnte als man selbst aber trotzdem immer freundlich blieben und mit einem sprachen, so dass man sich sonst etwas einbilden konnte, die einen immer wieder überraschten und ständig irgendwo herumwirbelten. Tim hatte zwar noch nicht mit dem braunhaarigen Mädchen aus dem Essensraum geredet, er war sich aber sicher, dass sie auch so war. Wäre er ein Mädchen und könnte alles tausendmal besser als alle um ihn herum, würde er sich mit keinem umgeben. Er bewunderte sehr, dass sie es trotzdem taten. Warum waren nur immer alle so gut zu Tim, obwohl er ihnen nichts wiedergeben konnte?
Tim versuchte das Mädchen aus dem letzten Jahr zu zeichnen: Er hatte ja heute das neue Mädchen gesehen, das rief starke Erinnerungen in ihm wach, von den er nie geglaubt hätte sie noch zu besitzen oder je gehabt zu haben. Ungeduldig setzte er den Füller an und malte einen Kopf. Die Augen, die Haare und der Mund gingen ganz gut, aber die Gesichtzüge und die Nase wollten nicht klappen. Tim war trotzdem mit sich zufrieden, er wusste ja, wer das sein sollte. Er zeichnete weiter, zeichnete ihr einen Hals. Er mochte diese zarten Hälse. Er ließ den Hals in Schultern übergehen. Tim liebte Mädchenschultern, besonders wenn sie braun waren und man ein oder zwei Leberflecke darauf betrachten konnte.
Er malte die Arme, malte die Beine, malte den Bauch, wie er sie nackt vorstellte, malte ihr große Brüste, das sollte ja schick sein. Tim hatte das ganze Bild innerhalb von ein paar Minuten gezeichnet, obwohl er sonst gar nicht zeichnen konnte, weder Tiere, geschweige denn Menschen. Malen konnte er, Landschaften, Pflanzen, aber nicht zeichnen und nichts, das sich von alleine bewegte. Es ist doch erstaunlich, zu was man fähig ist, wenn man etwas Perverses macht.
Jetzt stand Tim vor einer wichtigen Entscheidung, sollte er ihr unten Haare malen, oder nicht? Tim hatte selbst schon Haare bekommen, aber er mochte sie nicht. Erwachsene Frauen haben Haare und Brüste. Die Brüste waren gut, aber Haare sollte seine Zeichnung unten nicht bekommen.
In Tim hatte sich während des Zeichnens ganz schön etwas angestaut. Er rubbelte an sich herum, wie er es immer tat, wenn sich etwas angestaut hatte. Das fühlte sich so gut an!
Plötzlich öffnete sich die Tür. Tim zog sich die Bettdecke über, aber die Mutter hatte die Bewegung wahrscheinlich noch mitbekommen. Die Mutter starrte Tim an und Tim versuchte die Bettdecke möglichst unauffällig noch über seine Zeichnung zu ziehen. Dann fragte die Mutter: "Du gehst jetzt schon ins Bett, Tim?" "Nein, ich wollte mich nur ausruhen." "Achso, ich wollte auch nicht lange stören, nur mal gucken, ob du deinen Koffer schon ausgepackt hast."
"Nein, das noch nicht, aber ich wollte dich fragen, ob du mir erlaubst schwimmen zu gehen!"
Die Mutter schüttelte den Kopf: "Du hast morgen doch noch genug Zeit schwimmen zu gehen, wenn ich auf der Tagung bin. Überhaupt, wer geht denn abends schwimmen! Pack lieber deinen Koffer aus!", und verschwand in der Tür.

 

Hi Popla,

Tim scheint ja ziemlich von seiner Mutter dominiert zu sein; man hat den Eindruck dass er seiner Mutter ein bisschen die Schuld dafür zuschiebt dass er so schüchtern ist/keine Freunde hat. Die eigentlich Ursache scheint zu sein dass er sich lieber in seine eigene Welt zurückzieht als sich mit der Realität auseinanderzusetzen.

Das war auf jeden Fall mein persönlicher Eindruck. Ansonsten fand ich die Geschichte okay, mich haben nur die teilweise sehr detaillierten Ausführungen gestört. z.B. dass der Junge das Buch sowieso von John Grisham liest.

Gruß

MisterSeaman

 

HI mal wieder MisterSeaman!
Ja, dein Eindruck ist richtig, die Mutter ist schuld! ;)
Hmm für die detaillierten Beschreibungen entschuldige ich mich... bin vorher immer zu schnell gesprungen und wollte dem entgegenwirken ;)

 

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